Director: Silvia Rieger
Light Design: Torsten König
Sound: Wolfgang Urzendowsky
Dramaturgy: Sabine Zielke
VARIANTEN EINER TODESANZEIGE
1975 veröffentlichte Heiner Müller das Prosagedicht „Todesanzeige“, das als seinen großen Stücken ebenbürtig gilt. Mit welcher Intensität und unter welchem Selbstzwang er daran arbeitete, macht die Vielzahl der im Nachlaß aufgefundenen Versionen deutlich. Und sie bezeugen auch, wie schwer es für ihn war, dieses Thema zu bewältigen.
Dabei fällt eine durch radikalen Perspektivwechsel von der Sicht des Mannes zu der Sicht der Frau geprägte Variante ins Auge, der die handschriftliche Bemerkung „anderer Versuch, story von woman aus zu schreiben / Unmöglichkeit (Gefühl der Brüste, der Vagina usw.) / Versuch // Wunsch (dream) der Zurücknahme…“ beigefügt ist.
Erzwungen wurde sie durch einen fremden Text, der wie ein Sprengsatz zwischen Müllers Fragmenten lag: Ginka Tscholakowa, von 1970 bis 1986 mit Müller verheiratet, nimmt, in unmittelbarer Reaktion auf das Gedicht von 1975, eine Sicht auf, die bei ihm fehlt: nämlich die von Inge Müller, auch wenn sie den Namen nicht nennt. Im eigenen Namen schreibt sie mit und schreibt sie weiter an dem Schreckensbild einer traumatischen Erinnerung. Gegen die „Maske des lauten Schweigens“ in der „Maschine des Dramas“ verweist sie auf die offene Wunde eines fehlenden, aber notwendigen, Textes, der noch zu schreiben war.
Diesem Auftrag hat Müller sich gestellt. In welcher Weise, zeigt die Gegenüberstellung von Müllers erster Fassung mit dem Gegenwort Ginka Tscholakowas und schließlich seiner zweiten Fassung.
Frank Hörnigk
HEINER MÜLLER
TODESANZEIGE (I)
Sie war tot, als ich nach Hause kam. Sie lag in der Küche auf dem Steinboden, halb auf dem Bauch, halb auf der Seite, ein Bein angewinkelt wie im Schlaf, der Kopf in der Nähe der Tür. Ich bückte mich, hob ihr Gesicht aus dem Profil und sagte das Wort, mit dem ich sie anredete, wenn wir allein waren. Ich hatte das Gefühl, daß ich Theater spielte. Ich sah mich, an den Türrahmen gelehnt, halb gelangweilt halb belustigt einem Mann zusehen, der gegen drei Uhr früh in seiner Küche auf dem Steinboden hockte, über seine vielleicht bewußtlose vielleicht tote Frau gebeugt, ihren Kopf mit den Händen hochhielt und mit ihr sprach wie mit einer Puppe für kein andres Publikum als mich. Ihr Gesicht war eine Grimasse, die obere Zahnreihe schief in dem aufgeklappten Mund, als ob der Kiefer ausgerenkt wäre. Als ich sie aufhob, hörte ich etwas wie ein Stöhnen, das mehr aus ihren Eingeweiden als aus ihrem Mund zu kommen schien, jedenfalls von weit. Ich hatte sie schon oft wie tot daliegen sehen, wenn ich nach Hause kam, und aufgehoben mit Angst (Hoffnung), daß sie tot war und der schreckliche Laut klang beruhigend, eine Antwort. Später klärte mich der Arzt auf: Eine Art Aufstoßen, durch die Lageveränderung bedingt, ein Rest von Atemluft, vom Gas aus den Lungen gepreßt. Oder ähnlich. Ich trug sie ins Schlafzimmer, sie war schwerer als gewöhnlich, nackt unter dem Morgenrock. Als ich die Last auf der Bettcouch ablegte, fiel ihr eine Zahnprothese aus dem Mund. Sie mußte sich, in der Agonie, gelockert haben. Ich wußte jetzt, was ihr Gesicht entstellt hatte. Ich hatte nicht gewußt, daß sie eine Zahnprothese trug. Ich ging zurück in die Küche und stellte den Gasherd ab, dann, nach einem Blick auf ihr leeres Gesicht, zum Telefon, dachte, den Hörer in der Hand, an mein Leben mit der Toten bzw. an die verschiedenen Tode, die sie dreizehn Jahre lang gesucht und verfehlt hatte, bis zu der heutigen erfolgreichen Nacht. Sie hatte es mit einer Rasierklinge probiert: als sie mit einer Pulsader fertig war, rief sie mich, zeigte mir das Blut. Mit einem Strick, nachdem sie die Tür abgeschlossen, aber, mit Hoffnung oder aus Zerstreutheit, ein Fenster offen gelassen hatte, das vom Dach aus zu erreichen war. Mit Quecksilber aus einem Fieberthermometer, das sie, für diesen Zweck, zerbrochen hatte. Mit Tabletten. Mit Gas. Aus dem Fenster oder vom Balkon springen wollte sie nur, wenn ich in der Wohnung war. Ich rief einen Freund an, ich wollte immer noch nicht wissen, daß sie tot war und eine Sache der Behörden, dann das Rettungsamt. SIND SIE WAHNSINNIG MACHEN SIE SOFORT DIE ZIGARETTE AUS TOT SIND SIE SICHER JA SEIT MINDESTENS ZWEI STUNDEN ALKOHOL DAS HERZ HABEN SIE NICHT GEMERKT DASS IHRE FRAU WO IST DER BRIEF WAS FÜR EIN BRIEF HAT SIE KEINEN BRIEF HINTERLASSEN WO WAREN SIE VON WANN BIS WANN MORGEN NEUN UHR ZIMMER DREIUNDZWANZIG VORLADUNG DIE LEICHE WIRD ABGEHOLT AUTOPSIE KEINE SORGE MAN SIEHT NICHTS. Warten auf den Leichenwagen, im Nebenzimmer eine tote Frau. Die Unumkehrbarkeit der Zeit. Zeit des Mörders: ausgelöschte Gegenwart in der Klammer von Vergangenheit und Zukunft. Ins Nebenzimmer gehen (dreimal), die Tote NOCH EINMAL ansehen (dreimal), sie ist nackt unter der Decke. Wachsende Gleichgültigkeit gegen Dasda, mit dem meine Gefühle (Schmerz Trauer Gier) nichts mehr zu tun haben. Die Decke wieder über den Körper ziehen (dreimal), der morgen aufgeschnitten wird, über das leere Gesicht. Beim drittenmal die ersten Spuren der Vergiftung: blau. Zurück ins Wartezimmer (dreimal). Mein erster Gedanke an den eigenen Tod (es gibt keinen andern), in dem kleinen Haus in Sachsen, in der winzigen Schlafkammer, drei niedrige Stockwerke hoch, fünf oder sechs Jahre alt ich, allein gegen Mitternacht auf dem unvermeidlichen Nachttopf, Mond im Fenster. DER DIE KATZE HIELT UNTER DEN MESSERN DER SPIELKAMERADEN WAR ICH/ICH WARF DEN SIEBENTEN STEIN NACH DEM SCHWALBENNEST UND DER SIEBENTE WAR DER DER TRAF/ICH HÖRTE DIE HUNDE BELLEN IM DORF WENN DER MOND STAND/WEISS GEGEN DAS FENSTER KAMMER IM SCHLAF/WAR ICH EIN JÄGER VON WÖLFEN GEJAGT MIT WÖLFEN ALLEIN/VOR DEM EINSCHLAFEN MANCHMAL HÖRTE ICH IN DEN STÄLLEN DIE PFERDE SCHREIN. Gefühl des Universums beim Nachtmarsch auf dem Bahndamm in Mecklenburg, in zu engen Stiefeln und zu weiter Uniform: die dröhnende Leere. HÜHNERGESICHT. Irgendwo auf dem Weg durch den Nachkrieg hatte er sich an mich gehängt, eine dürre Gestalt im schlotternden Militärmantel, der am Boden nachschleifte, eine zu große Feldmütze auf dem zu kleinen Vogelkopf, der Brotbeutel in Kniehöhe, ein Kind in Feldgrau. Trottete neben mir her, stumm, ich kann mich nicht erinnern, daß er ein Wort gesagt hätte, nur wenn ich schneller ging, sogar lief, um ihn abzuschütteln, stieß er zwischen keuchenden Atemzügen kleine kläglich Laute aus. Ein paarmal glaubte ich schon, ihn endgültig abgehängt zu haben, er war nur noch ein Punkt in der Ebene hinter mir, dann auch das nicht mehr; aber im Dunkeln holte er auf und spätestens wenn ich aufwachte, in einer Scheune oder im Freien, lag er wieder neben mir, in seinen löchrigen Mantel gerollt, der Vogelkopf in Höhe meiner Knie, und wenn es mir gelungen war, aufzustehen und wegzukommen, bevor er wach wurde, hörte ich bald hinter mir sein klägliches Keuchen. Ich beschimpfte ihn. Er stand vor mir, sah mich aus schwimmenden Hundeaugen dankbar an. Ich weiß nicht mehr, ob ich ihn angespuckt habe. Ich konnte ihn nicht schlagen: Hühner schlägt man nicht. Nie war mein Wunsch, einen Menschen zu töten, so heftig. Ich erstach ihn mit dem Seitengewehr, das er aus den Tiefen seines Militärmantels geklaubt hatte, um sein letztes Büchsenfleisch mit mir zu teilen, ich aß zuerst, damit ich seinen Speichel nicht mitessen mußte, stieß das Bajonett zwischen seine spitzen Schulterblätter, bevor er an der Reihe war, sah ohne Bedauern sein Blut auf dem Gras glänzen. Das war an einem Bahndamm, nachdem ich ihn getreten hatte, damit er einen andern Weg ging. Ich erschlug ihn mit seinem Feldspaten, als er gerade gegen den Wind, der über die Ebene ging, auf der wir übernachten mußten, einen Wall aufgeschüttet hatte. Er wehrte sich nicht, als ich ihm den Spaten aus der Hand riß, nicht einmal als er das Spatenblatt kommen sah brachte er einen Schrei zustande. Er mußte es erwartet haben. Er hob nur die Hände über den Kopf. Mit Erleichterung sah ich in der schnell einbrechenden Dunkelheit wie eine Maske aus schwarzem Blut das Hühnergesicht auslöschte. An einem sonnigen Maitag stieß ich ihn von einer Brücke, die gesprengt worden war. Ich hatte ihn vorgehen lassen, er sah sich nicht um, ein Stoß in den Rücken genügte; das Sprengloch war zwanzig Meter breit, die Brücke hoch genug für einen Todesfall, unten Asphalt. Ich beobachtete seine Flugbahn, der Mantel gebläht wie ein Segel, das Seitenruder des leeren Brotbeutels, die tödliche Landung. Dann überschritt ich das Sprengloch: ich brauchte nur die Arme auszubreiten, von der Luft getragen wie ein Engel. Er hat in meinen Träumen keinen Platz mehr, seit ich ihn getötet habe (dreimal). TRAUM
Ich gehe in einem alten von Bäumen durchwachsenen Haus, die Wände von Bäumen gesprengt und gehalten, eine Treppe hinauf, über der nackt eine riesige Frau mit mächtigen Brüsten, Arm und Beine weit gespreizt, an Stricken aufgehängt ist. (Vielleicht hält sie sich auch ohne Befestigung in dieser Lage: schwebend.) Über mir die ungeheuren Schenkel aufgeklappt wie eine Schere, in die ich mit jeder Stufe weiter hineingehe, das schwarze wildbuschige Schamhaar, die Roheit der Schamlippen.
GINKA TSCHOLAKOWA
DIE MASKE DES SCHWEIGENS
Irgendwann wird er vor dem leeren Blatt in der Schreibmaschine sitzen und zu nichts Lust haben. Dann werde ich zurückkehren auf den Steinboden in der Küche; er wird sich einen Kaffee machen wollen und mich da liegen sehen: mein Gebiß neben mir, von dem ich ihm nie erzählt habe. Und es wird ihm einfallen, daß er verpaßt hat, mit mir fertigzuwerden. Er kann noch so ruhig und leise suggerierend mit mir reden; ich werde ihn nicht mehr hören. Und dann wird er an die Maschine zurückgehen und seine Rechtfertigung aufschreiben. Wie jeder Dichter glaubt er, daß die Worte die Taten ungeschehen machen. Er wird schreiben, wie oft ich versucht habe, mich umzubringen. Er wird im Schreiben noch einmal erschrecken und im Erschrecken genießen, mich tot zu sehen. Und wenn er einen Grund angibt, wird es meine Kindheit sein, die Bomben, der Krieg, Deutschland. Den Kampf der Gesten gegen die Versteinerung der Wörter, meine eigene Welt, mich, die andere hinter der Maske des lauten Schweigens, wird er nicht erwähnen. Er wird immer wieder mit der Kindheit, mit dem Krieg, mit den Bomben, mit Deutschland seine Fähigkeit, nur an sich zu denken, vor sich selbst verbergen. Er wird vergessen, daß er mit mir, der Frau aus der anderen Welt, zu der er gerne gehören wollte, die Härte der Stühle in der Mitropa, wenn man nur auf ihnen und nicht andernorts schlafen konnte, seine eigene Kindheit, den Krieg, die Bomben und Deutschland besiegen wollte. Hoch ist der Sprung. Die Zeichen bleiben auf der Strecke.
HEINER MÜLLER
TODESANZEIGE (II)
only women bleed
black widow
PROGRAMM tot wenn er nach Hause kommt in der Küche auf
dem Steinboden knien LIEBERGOTTMACHMICHFROMM
WEIL ICH AUS DER HÖLLE KOMM den Kopf im Gasherd
Wenn du die Augen zumachst siehst du das Paradies Wann
kommt er Das Gas hört sich an wie der Schnee aussah wenn der
Mond schien Nichttot wenn er nach Hause kommt den Kopf im
Gasherd Warum kommt er nicht Der erste verbrannt mit dem
Flugzeug Den zweiten essen die Fische Wenn er kommt wird er
mich aufheben Ich werde mich schwermachen wenn er mich ins
Schlafzimmer trägt Warum kommt er nicht Mein Herz eine Faust
die sich umdreht zwischen den Rippen Etwas will aus mir heraus
Das Fenster Ein Kreuz für Papa Ein Kreuz für Mama Die Tür
In: Sinn und Form, Heft 6, Berlin, 1998, S. 912 - 917