Verbrennungen ist wie eine mathematische Versuchsanordnung, ein Gedankenexperiment oder abstrakte Turingmaschine, die das Schicksal einer Familie zwischen Vergessen und Erinnern in einem der krassesten geopolitischen „Hotspots“ nach Ende des 2. Weltkrieges abtastet. Die Mutter Nawal – Sekretärin des Notars Hermile – stirbt. Jahrelang hat sie schon nicht mehr gesprochen. Ein Pfleger zeichnete ihr Schweigen auf Magnettonbandträgern auf. Als letzten Willen verfügt sie, ihren Zwillingskindern, Jeanne und Simon, jeweils zwei Briefe zu übergeben. Einen an einen ihnen bisher unbekannten Bruder und einen an ihren Vater, von dem die Kinder dachten, er sei tot. Das Ergebnis ist eine ödipale Rekursion. Sie verweist auf ein älteres Vorbild und eine geographische Versetzung: auf den Tantalidenmythos, nun im Nahen Osten. Auch hier ein verheerender Kreislauf. Ein Verbrechen schafft Opfer, generiert Rache, es folgt Verbrechen, schafft Opfer – über die Generationen hinweg.
Die Handlung lässt sich dechiffrieren. Sie lässt sich beschreiben und reale historische Fakten treten kurz hervor. Da ist nicht nur das Thema der palästinensischen Flüchtlinge im Libanon; deutlich sind auch die Anspielungen auf das Bus-Massaker 1975 in West-Beirut im Viertel Ain El Remmaneh, auf den Einmarsch der Israelischen Armee 1982 im Südlibanon, auf das Massaker verübt an den Palästinensern in den Flüchtlingslagern von Sabra und Schatila. Der in Kanada lebende Autor Wajdi Mouawad löst jedoch nicht auf im historisch Konkreten; er erzählt nicht von Christen, nicht von Palästinensern, er nimmt nicht den einen oder den anderen Gott in alleinige Verantwortung. Es scheint, als spiele es für Mouawad keine Rolle, wer in einer Kette von Gewalt das letzte Glied von Verbrechen dazugesetzt hat, welcher Glaube, welche Ethnizität es war. Die Grundfrage lautet: wie ausbrechen aus dem von Generation zu Generation fortgesetzten Kreislauf von Schuld und Sühne?
Tickets kosten 15,- Euro bzw. 7,50,- Euro (ermäßigt).
Spieldauer: 1 Stunde 25 Minuten
Mit: Walid Al-Atiyat, Jakob D'Aprile, Hussein Eliraqui, Horst Günter Marx, Niklas Loycke, Inka Löwendorf, Rocco Mylord, Roman Ott, Johanna Schäfer-Asch und Jeanette Spassova
Regie: Carolin Mylord
Ausstattungsassistenz: Antonia Bitter
Licht: Jan Strauß
Video: Mathias Klütz
Ton: Michele Gambarara
Dramaturgie: Thilo Fischer