Volksbühne Berlin am Rosa-Luxemburg-Platz
 
Zur Zeit keine Vorstellung. Demnächst wieder auf dem Spielplan.

Baumeister Solness

nach Henrik Ibsen


Die Hybris des Postheroen Ibsens „Baumeister“ als Wiedergänger der Geschichte Der Mensch – im damaligen Vokabular von Henrik Ibsen – ist ein Seil, geknüpft zwischen dem Durchschnittsmenschen und dem Baumeister. Wie die Frist nutzen, die uns ein paar kurze Seins-Jahrzehnte auf dem Planeten gewährt? In der Allgemeinheit bis zur Rente mitlaufen, oder selbst das Außergewöhnliche, das Geniale probieren, alle kleinmachenden Bauvorschriften überschreiten und eine Akropolis in der Höhe des Shanghaitowers errichten, deren Spitze den Kosmos berührt? Das Schicksal des Genies, umkreist von bösen Geistern der Vergangenheit und den Konkurrenten der Zukunft, folgt bei Ibsen einer gnadenlosen Arithmetik. Der norwegische Autor setzt Worte wie in einer mathematischen Gleichung, er sticht die Algorithmen der Existenz mit dem Messer und bewegt ein stählernes Zahnradsystem, das klick klack klick klack in erbarmungsloser Folgerichtigkeit bis zur Selbstvernichtung des Baumeisters fortschreitet. Ibsen bedient einen Stil, den man das Gegenteil euphorischen Schreibens nennen kann. Für feurige Leidenschaft oder gar Sex ist auf der Oberfläche der kühlen Dramatik kein Platz. Aber die Libido, das Begehren ist wie ein Schmiermittel, das die ganze Theatermechanik in Gang setzt. Lapidar wird Solness als ein Don-Juan-Mann vorgestellt, der in seinem Leben verschiedene Frauen gekannt hat: „Das leugne ich nicht.“ Ein latenter Ehebruch mit der Schreibkraft Kaja, die nun wiederum kurz vor der Verheiratung mit dem Lehrling Ragnar steht, liegt in der Luft. Dass Solness den Geschlechtsakt – der nur eine Marginalie in einem größeren Strategiespiel ist – mit Kaja nicht vollzieht, schafft einen Schwebzustand der erotischen Erwartung und der sexuellen Abhängigkeit; mit Libidoseilen bindet Solness die Mitarbeiter seines Büros großer Visionen in einem Zustand transitorischen Wartens und der Hoffnung auf die Erfüllung eines abstrakten Wunsches an sich. Das System, das das Begehren des Nachwuchses auf Autonomie und eigenen Erfolg mit großer Brutalität deckelt, gerät mit Hilde – ihr reales Vorbild ist die 18 jährige Emilie Bardach, der der Schriftsteller mit 61 begegnet – ins Wanken. Diese skandinawische Nymfetka mit weißem Ranzen kommt aus den Bergen und erinnert den Baumeister an eine libidinöse Situation vor zehn Jahren: er, der erwachsene Architekt habe sie, damals 12, „in die Arme genommen, und geküsst, Sie wissen schon.“ Er weiß nicht. Und wir wissen nicht, wer Recht hat. Ist die Erinnerung des Baumeisters computiert in der Logik: Was nicht sein darf, habe ich auch nicht gemacht? Oder ist die Episode allein der Phantasie der damals gerade zur Geschlechtsreife gelangten Hilde entsprungen? Es gibt nur detektivische Annäherung, keine Sicherheit über das, was dort oben in Lysanger passierte. Dennoch reicht der erinnerte Anblick des Baumeisters auf dem Kirchturm, um eine gewaltige Wunschwelle freizusetzen. Hilde träumt im Spiegel von Solness von einem „gewalttätigen Burschen“, einem „Wikinger“ der sie raubt und gefangen nimmt und davon, selbst einen „Raubvogel“ mit „Lust“ an sich zu reißen. Wikinger-Sex? „Every woman adors a Fascist” schreibt Sylvia Plath in ihrem berühmten Gedicht „Daddy”, das – vor vampiristischer Austreibung bzw. gedanklicher Hinrichtung – den autoritären Vater mit einem Nazi gleichsetzt. Bei den realen politischen Baumeistern des 20. Jahrhunderts – Ibsen selbst träumte im „Julius Cäsar” von einem „3. Reich”, einer utopischen Gesellschaft, die der Weisheit des reifen und erwachsenen Menschen entspricht – liegen erotische Attraktivität und Barbarei eng beieinander; vor den beiden Männern mit Schnurrbärten, die ihre Imperien in Ost- und Westeuropa errichteten, sanken erotisierte Menschen in Ohnmacht zusammen; sie beflügelten Millionen „dienstbare Geister“, die für „große“ Visionen und Ideologien marschierten, mordeten und starben. Und heute? Leben wir in einer Postbaumeister, in einer postheroischen Welt? Schließlich regiert bei uns längst die nachauratische, demokratische Vernunft; wir, die Masse der Kajas und Broviks, wir, die im breiten Mittelfeld der Gesellschaft arbeitenden und fühlenden Menschen, wir entscheiden mit unserem Votum über unsere Zukunft, über unsere Politik. Meinungsverschiedenheiten, soviel Toleranzräume hat unsere liberale Gesellschaft, dürfen auch auf der Straße ausgetragen werden. Wir können uns ärgern und Schuldige für Geldverschwendung oder Verantwortungslosigkeit anprangern, bspw. in Bezug auf Bauten wie Bahnhof, Kulturzentrum, Flughafen oder Philharmonie. Aber was ist mit den großen Entscheidungen, die, die wirklich die Architektur unseres politischen Seins verändern? Wie sind wir daran beteiligt? Wo war unsere gewichtige Stimme, als eine Hand voll Leute erst die Rettung, dann Verstaatlichung der Hypo Real Estate Bank beschlossen und einen dreistelligen Milliardenbetrag aus dem Steuertöpfchen als Sicherheit frei machten? Warum hörte die Bundesregierung nicht auf den ablehnenden Willen des Volkes, als die Beteiligung an den Militäreinsätzen im Balkan und am Hindukusch beschlossen wurde? Oder was ist mit all den Bebauungen der Innenstadt von Berlin bspw. hinter dem Nordbahnhof, wo mit tristen Beton-Bürokomplexen Deutsche Bahn und Deutscher Geheimdienst den Geist des Administrativen und der Schnüffelei in die Mitte unseres Hauptstadtsexappeals setzten? Vielleicht gleicht Demokratie, die wir als das beste aller Systeme wähnen, doch eher – so sagt es Slavoj Zizek – dem Tür-Zu-Knopf in modernen Fahrstühlen: egal ob man ihn drückt oder nicht, es dauert immer genauso lange, bis die Tür schließt. Unser Glaube auf Mitentscheidung lediglich ein Placebogefühl? Eventuell befinden wir uns eher im Auge eines Ideologieorkans, in einer beruhigten Zone, anästhesiert gegenüber der urbanen Baukorruption direkt vor unserer Tür und unwillig, den kriegerischen Sturm zur Kenntnis zu nehmen, der an den Grenzen unseres Wohlstandsterritoriums ausgetragen wird. Wir schwenken keine Fahnen mit hakigen Kreuzen und tragen auch keine Uniformen in militärgrau oder kolonialbraun. Wir beheften uns mit den Insignien der individuellen Masse. Wir haben unseren Lieblingsfriseur, unsere Lieblingslaufstrecke, unseren Lieblingsküchenhersteller und unsere Lieblings-Bonus-Meilencard, mit der wir – so unsere kleine soziale Utopie – hoffen, im Flieger mal ein paar Plätze weiter nach vorn zu rücken. Wir dienen dem Gott Karriere und sind dabei einzigartig, kreativ, erfolgreich, liberal und vor allem: unschuldig – und damit tragen wir eine bestimmte Politik. Hurra! Der postheroische Bau der EU, in dessen zentralem Nest wir behütet sitzen, dehnt sich aus und kämpft mit gottloser Effizienz gegen die anachronistischen und despotischen, im Namen verschiedener monotheistischer Götter handelnden Baumeister in Osteuropa, Nordafrika und im Nahen Osten. Der unmittelbare Landesnachbar ist nicht mehr der Bezugspunkt; für unsere Generation geraten die kontinentalen Grenzen in den Fokus. Das ist unsere „Wende“ und die Hemmschwelle, an den Grenzen den Kampf für Freiheit allein mit Termini des Friedens zu definieren, sinkt spürbar. Trat Bundespräsident Horst Köhler zurück, nachdem ihm Entrüstung für seine Einsicht in die Verbindung deutscher Militäreinsätze und deutscher Wirtschaftsinteressen entgegenschlug, ist es nun Nach-Nachfolger Joachim Gauck, der ohne große Gegenwehr vom Segen des Neoliberalismus schwadroniert und davon, dass Deutschland sein militärisches Gewicht auf dem Planeten lauter zur Geltung bringen müsse. Was bisher im Sinne von Unilateralität der leisen und effizienten Arbeit von transatlantischen Geheimdiensten vorbehalten war – die Förderung von Rollback und Regime Change – ist längst unsere offizielle geopolitische Leitlinie. Wir, die westlichen ibsenschen „dienstbaren Geister“ der weißen Mittelschicht, tragen diese Linie in dem Glauben, in der Konkurrenz der Wertesysteme (Ursula von der Leyen) auf der überlegenen Seite zu stehen. Doch wie sehen die Teufelchen und Trolle aus, die diese baumeisterliche Hybris in Zukunft zwacken? „Lediglich“ soziale und ideologische Spannungen oder etwa auch das Horrorszenario eines Blowback bspw. durch Terror oder gar Krieg in unseren Friedenszentren? Hilde: „Ach, wenn man die ganze dumme Geschichte einfach verschlafen könnte!“ Jede Gegenwart hat eine Vergangenheit, die Erinnerung ist ein oller Plagegeist. In allen Sozialdramen des norwegischen Autors gibt es einen Apfelbiss, durch den etwas aus dem Gleichgewicht gebracht wird, eine Urszene der Vertreibung aus dem Paradies, die Erfolg und Schuld begründet und aneinander bindet. Im Baumeister ist es das Geburtshaus – die alte Räuberburg – von Gattin Solness; er weiß um einen Riss im Schornstein, den er nicht reparieren lässt mit der „unwiderstehlichen“ Idee, dass er sich im Brandfall emporschwingen, sein Auserkorensein unter Beweis stellen könne. Der Holzkasten fackelt schließlich ab. Durch den Schreckensstress fiebert Frau Solness, das schlägt auf die Muttermilch: die zwei Säuglingskinder der jungen Familie sterben; es ist diese Asche, der Tod und das Brachland, aus der der Baumeister mit seinem Architekturtalent wie Phönix aufsteigen kann. Die pflichtbesessene Ehefrau kehrt stattdessen wie lebendig in das Reich der Toten; sie hat sich mit leblosen Puppen einen Realitätsersatz jenseits aller Vitalität und im Mittelpunkt der Verzweiflung geschaffen. Gemeinsam mit dem normalisierenden Arzt Herdal bildet sie eine Phalanx, die den Baumeister aus den Höhen von Wahnsinn und Genie in Richtung Durchschnitt therapiert und bricht. Ohne den Glauben an einen Visionen entflammenden Gott, errichtet er fortan keine vertikalen Luftschlösser und Babylonturmbauten mehr (eine „Unternehmung“, die „aus Mangel an Stoff fehlschlagen musste“), sondern appliziert sein Wissen auf funktionale und horizontale Häuser für Menschen (ein fester „Wohnsitz“, der unserem „Bedürfnis angemessen“ ist; Immanuel Kant). Es ist ein Schwenk von himmelstürmender Phantasie, vom Prinzip des Steigens zur Flächenlogik der „reinen Vernunft“, die das Potential des Verirrens ins sich trägt. Für Ibsen ist der „Baumeister Solness“, den er nach 27 Exiljahren kurz nach seiner Rückkehr nach Norwegen schreibt, auch eine Auseinandersetzung mit der nächsten norwegischen Schriftstellergeneration. Knut Hamsun, mit seinem subjektiv-realistischen Romanwurf „Hunger“, klopft an den Schriftstellerthron des Dramatikers. Dieser gibt nicht auf, sondern verarbeitet die Erfahrung der Generationskonkurrenz, erklimmt selbst noch einmal den hohen Literaturturm. Denn warum sollte der Künstler-Baumeister auch sein erschaffenes Reich verlassen, wenn um seine Beerbung allein ästhetische Epigonen und Erbsenzähler, stilistische Lumpensammler und Diplomkünstler sowie in Kulturadministrationskorridoren herumschleichende Manager ringen? Konkurrenz droht einzig aus der eigenen Lehrlingsbrut. Ragnar aus dem Prater möchte den Turm noch 12 Stufen höher bauen – aber da wird man sich ja wohl vorerst einigen können. Sebastian Kaiser
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