Vor kaum jubiläumswürdigen dreiundzwanzig Jahren erscheinen Christoph Marthaler, Anna Viebrock sowie einige Schweizer Schauspieler und Musiker erstmals am Rosa-Luxemburg-Platz. Dort angekommen verbinden sie sich mit einer Gruppe von Künstlern, die schon längere Zeit vor Ort ist, und an der Volksbühne zuhause. Seitdem hat dieses Ensemble sich immer wieder versammelt. Und verändert. In seltenen Fällen aufgrund höherer Gewalt. Warum das alles an dieser Stelle erwähnt wird? Weil es sich bei Gefühlen und Gesichtern um Volumina handelt, die über enorme Potentiale der Dehnbarkeit verfügen. Diese an das so genannte „lineare Verstreichen von Zeit“ gekoppelten Spannungszunahmen ereignen sich jedoch nur zum Teil im sichtbaren Bereich. Das Meiste breitet sich in inneren Körperregionen aus und drückt heftig gegen Organe, Augäpfel und Trommelfelle. Das ist nicht wirklich schmerzhaft, säht aber so manchen Zweifel angesichts der Frage, ob die anwesenden Gesichter und Gefühle trotz immer noch gut sitzender Originaltextilien vom Ende des 20. Jahrhunderts nicht längst die Besitzer gewechselt haben könnten. Wer von denen, die heute auf dem teilweise renovierten Parkettfußboden einander gegenüberstehen, ist noch aus genau dem gleichem Holz gemacht? Hing der eine oder andere nicht längst in selbst gewählter Begleitung als Gemälde an der Wand? Steckte unentdeckt im Fahrstuhl fest oder war heimlich durch eine Bodenluke abgetaucht? Hermenautiker (eine seltene Form der Seeverkehrsdiagnostik) würden Zusammenkünfte dieser Art nach klassischer Lehrmeinung als „Geisterstunde“ bezeichnen. Für Marthalers Vorsaison-Happening „Bekannte Gefühle, gemischte Gesichter“ müssen die Grenzen strenger Wissenschaft jedoch als erreicht betrachtet werden. Es zählt allein der Glaube. Und der hängt - wie eigentlich immer - von der Verkettung glücklicher Umstände ab. Und das wäre dann wohl auch der einzig vorstellbare Untertitel des Abends: Eine Verkettung glücklicher Umstände von Christoph Marthaler, Anna Viebrock und Ensemble.
Spieldauer: 2 Stunden 10 Minuten
Mit: Hildegard Alex, Tora Augestad, Marc Bodnar, Magne Håvard Brekke, Raphael Clamer, Bendix Dethleffsen, Altea Garrido, Olivia Grigolli, Irm Hermann, Ueli Jäggi, Jürg Kienberger, Sophie Rois und Ulrich Voß
Regie: Christoph Marthaler
Bühne: Anna Viebrock
Kostüme: Anna Viebrock
Licht: Johannes Zotz
Ton: Klaus Dobbrick
Dramaturgie: Malte Ubenauf, Stefanie Carp
Johann Sebastian Bach, Partita No. 5, Praeambulum (BWV 829)
Ludwig van Beethoven, Klaviersonate No. 30, op. 109 (Ausschnitt)
Giuseppe Cioffi/Raffaele Cutolo „Dove sta Zazà“
Guglielmo Cottrau „Raziella“
Friedrich Glück/Joseph von Eichendorf „In einem kühlen Grunde“
Georg Friedrich Händel „Lascia ch'io pianga mia cruda sorte“ aus „Rinaldo“
Friedrich Hollaender/Robert Liebmann „Ich weiß nicht, zu wem ich gehöre“
Paul Lincke „Glühwürmchen-Idyll“ aus „Lysistrata“
Gustav Mahler/Friedrich Nietzsche „O Mensch“
Thomas Morley „Come sorrow, come“
Wolfgang Amadeus Mozart/Emanuel Schikaneder „In diesen heil’gen Hallen“ aus „Die Zauberflöte“
Erik Satie „Messe des pauvres“
William Shakespeare „Take, oh take those lips away“
Arnold Schönberg/Albert Giraud/Otto Erich Hartleben „Der kranke Mond“ aus „pierrot lunaire“ (op. 21)
Franz Schubert/Wilhelm Müller „Des Baches Wiegenlied“ aus „Die schöne Müllerin“
Franz Schubert/Franz von Schober „An die Musik“, D 547
Giuseppe Verdi „Va, pensiero“ aus „Nabucco“
Boby Lapointe „Aragon et castille“
Deutsche Volksweise/Hermann Scherchen „Brüder zur Sonne zur Freiheit“
Richard Wagner, Ausschnitte aus Tannhäuser und Parsifal (u.a.)