BLUTSBRÜDER ist der kleine Bruder von Döblins BERLIN ALEXANDERPLATZ. Das Buch ist ein Sog, geschrieben von einem Sozialarbeiter im Tatsachenrausch, auf einer Hetzjagd zu Fuß, in der S-Bahn, dem Bus, durch die Straßen Berlins um 1930. Eine Jugendgang. Eine Clique Obdachloser, geflohener Heimkinder, die sich auf dem Strich, in Kneipen, Markthallen und Kaufhäusern mit Taschendiebstählen und Schiebereien durchschlagen, an der Grenze zum Verhungern und Erfrieren, zwischen Alexanderplatz und Scheunenviertel, rund um die Volksbühne am Bülowplatz. Gewalt und Not werden einen Großteil der Deklassierten der Nationalsozialistischen Bewegung – deren Sprengkraft auch die einer Jugendbewegung war – zutreiben.
BLUTSBRÜDER ist das Drama jugendlicher Underdogs in der Vorhölle Berlin, hat den Realitätsgehalt eines Dokumentarfilms und stellt ein Berlin vor, das es so nicht mehr gibt – das es in seiner Zerrissenheit bis vor kurzem noch gegeben hat und das vor allem eins verkörperte: einen ungeheuren Trieb nach Leben. Der Druck und die Beengtheit der untersten sozialen Etage im Klima der Großen Krise und des anhaltenden Nachkriegs erzeugen auf der Rückseite der Goldenen Zwanziger eine Zentrifugalkraft, gegen die sich nur wenige behaupten. Das Berlin der Gegenwart ist mit Sicherheit ein anderes, aber eins, dessen soziale Verwerfungen wir mit dem Blick auf die Verwerfungen der Vergangenheit besser verstehen.
Sebastian Klinks Inszenierung im 3. Stock verknüpft den harten Rhythmus dieses Stoffs mit der schwarz/weißen Schatten-Ästhetik des frühen deutschen Tonfilms. Die Clique der Blutsbrüder ist zugleich die Besetzung eines theatralischen Experiments, das einen Kunstraum aus Theater, Soziallabor, Geschichtsraum, Kino und Filmset erzeugt. Wer sich nicht bewegt, wird umgerannt. Wer umgerannt wird, muss nicht niedergeschlagen werden. Wer am Boden liegt, hat schon verloren. Faßbinders „Berlin-Alexanderplatz“, Brechts „Lesebuch für Städtebewohner“, Zilles „Hurengespräche“ und die „Street Gang Theory“ von George C. Homans sind die Paten dieses Versuchs.
Spieldauer: 3 Stunden 20 Minuten, eine Pause
Tickets kosten 15,- Euro bzw. 7,50,- Euro (ermäßigt).
Mit: Alexander Ebeert, Patrick Güldenberg, Franziska Hayner, Johannes Meier, Gabriel Schneider, Rouven Stöhr, Axel Wandtke und Isabel Thierauch
Regie: Sebastian Klink
Bühne und Kostüme: Gregor Sturm
Licht: Hans-Hermann Schulze
Ton: Christopher von Nathusius
Video: Konstantin Hapke
Kamera: Mathias Klütz, Kathrin Krottenthaler, Adrien Lamande
Mitarbeit Dramaturgie: Thilo Fischer
18. Dezember 1930: Straßenland/Osthafen. Noch Nacht, die Wellen der Spree.
CLIQUE
ES IST SCHLIMM, O, ES IST SCHLIMM, SO SEHR SCHLIMM … / Die Fruchtstraße lang, am Schlesischen Bahnhof vorbei biegen die Blutsbrüder in die tote Mühlenstraße ein … sie singen den Blutsbrüdersong / SCHNAUZE! / … mit unterdrückten Stimmen, von denen eine noch im Stimmbruch ist, in der Kälte vor der ersten Dämmerung … / „Halt bloß die Fresse, Mensch, Heinz!“ / O, ES IST SCHLIMM, SO SEHR SCHLIMM / JA, ES WIRD NOCH SCHLIMMER WERDEN / WENN WIR UNS NICHT WEHREN WERDEN … / „Schnauze, Mensch, umjotteswilln, halt endlich die Schnauze!“ / O, ES IST SCHLIMM, SEHR-SEHR SCHLIMM … / Sie hetzen im Trab, den ihre müden, minderjährigen magermuskelumschlotterten Knochen möglich machen, sie zittern, in ihren Augen glimmen, wie ein Reflex der über der Spree funkelnden Hafenlichter, die Wut und der Haß … und die Schatten der Türme der Kräne auf ihren Laufrädern am Kai … / O, ES IST SCHLIMM … usw. usf., dumpf und immer wieder: SCHNAUZE! / Ein Rachfeldzug: vergessen wofür, gegen wen, warum überhaupt, warum jetzt … / „Da vorn ist die Oberbaumbrücke!“ / „Kiek ma da, der olle Lastkahn, kommt aus …“ / 100 Meter vor ihnen rennt jemand über die Straße, verschluckt vom Schatten einer Häuserfront. / „Haste jesehn!?“ / „Nö.“ / Zehn Meter weiter quietscht eine Katze. / SCHNAUZE! / „Warn Schatten.“ / „Achso.“ / Die Clique geht in Viererreihen („spinnst du, wir sind doch nur sechs“), zwischen ihnen FRITZI, angstbibbernde Cliquenliebsche von gestern, heute heißt sie ANNELIESE, und der jüngste, WALTER = Walter mit dem Brustkasten … / SCHNAUZE! / Das war der STILLE HEINZ. / „Ich hab Hunger!“ / (Wieder Heinz, Heinz redet zuviel, sein Magenpförtner hält nicht dicht, sagt er selbst sagt der Arzt …) / SCHNAUZE, MENSCH, HALT BLOSS DIE SCHNAUZE! / Wieder hetzt jemand über die Straße. / „Hast du den Schlagring, Konrad?“ / Konrad: „Und ob!“ / Die Mühlenstraße weitet sich zum Rummelsburger Platz (von hier aus sind die sieben rauchenden Türme des Kraftwerks Klingenberg von der BEWAG zu sehn …). / „Ick würde so jerne jetz ne Zijarette …“, fiept Walter, der tuberkulöse Rechenkünstler … / Ein Unsichtbarer: „Raus!“ / Ein unsichtbarer andrer: „Los!“ Dann: / Vor und hinter den Blutsbrüdern spritzen 10, 12 Cliquenburschen aus dunkel verlassenen Hauseingängen … / JONNY vorn und hinten FRED fangen den Angriff auf, sie haben die Peitschen dabei. / Lautlos! Lautlos werden die Knüppel gehoben (vom Husten Walters abgesehen) … / Walter läßt die wimmernde Liebsche, die er im Arm hatte, sausen und springt in das Knäuel der sich Schlagenden … / Steine fliegen, Knüppel schmettern, Schlagringe krachen auf Kinnladen, auf Oberarmmuskeln und hacken auf Schädel … / Lautlos geht der Kampf vor sich, wie ein Stummfilm (wäre nicht das Knochenknacken), jeden Moment kann Polizei … / SCHNAUZE! / Da fällt ein Schuß. / PENG! / Und noch einmal: PENG! / Walter trudelt in den Rinnstein, hält seinen Unterarm, vollkommne Dunkelheit beinah … und endlich wirklich: Stille. / ES IST SCHLIMM, O ES IST SCHLIMM, SO SEHR SCHLIMM … / Über die Brücke rollt die erste Bahn … / SCHNAUTSE!
WALTER
Mein Arm, dit ville Blut … Mama.
© henschel SCHAUSPIEL
Mit freundlicher Unterstützung der Heinz und Heide Dürr Stiftung