„Im Interesse der Menschheit müssen solche Menschen vernichtet werden.“ Das Urteil des Zoologen von Koren über seinen Landsmann Laevskij, den schwermütigen Petersburger Beamten, der körperliche Arbeit scheut, und stattdessen Karten, Kognak und Frauen liebt, klingt wie ein Ausblick auf das 20. Jahrhundert, auf deutsche Großmachtsphantasien, auf Massenvernichtung und das Lagerdenken autoritärer Systeme.
Von Koren und Laevskij sind in eine kleine Stadt im hohen Kaukasus gekommen, der eine, um die Embryologie der Quallen zu studieren, der andere, um mit der Ehebrecherin Nadja ein neues Leben zu beginnen. Tschechows Figuren sitzen bei Wodka und Fischsuppe, sie reden nicht miteinander, sie monologisieren in Vorwegnahme beckettscher Absurdität aneinander vorbei. Von Petersburg aus schien ihnen das Schwarze Meer wie das Paradies – am Ort selbst halten die schroffen Felsen die Zukunftspläne der Kolonisatoren wie Gefängnismauern umklammert.
Laevskij und von Koren stehen für das imperiale Russland, das seit dem 18. Jahrhundert den Kaukasus besetzt hält. Die Vertreter großstädtischer Zivilisiertheit treffen auf Tscherkessen und Abchasen, auf orthodoxe Georgier und Armenier, auf islamische Tschetschenen. Deren kulturelle und religiöse Besonderheiten werden ignoriert, unterdrückt und eliminiert. Dagegen formt sich der Widerstand einer „asymmetrischen Kriegsführung“. Wo das islamische Einflussgebiet gegenwärtig den halben Globus umspannt, nähert sich der Westen dieser geopolitischen Größe in eben der Mischung aus Unschuld und dem Willen zur Zerstörung, mit der von Koren und Laevskij vor dem Hintergrund des kaukasischen Schlachtfeldes um 1890 reüssieren.
Der Kurzroman „Das Duell“ stellt in seiner Abgründigkeit, seinem dunklem Witz und magischen Realismus, seiner Unentschiedenheit zwischen Dramatik und Prosa eine Ausnahme in Tschechows Werk dar. Frank Castorfs Inszenierung blickt durch die üppige Landschaft der Schwarzmeerküste in postnukleare, utopielose Szenerien, wie sie Andrej Tarkowskij in „Stalker“ oder Jan Schmidt in seinem frühen Film „Late August at the Hotel Ozone“ entwerfen – hier kann eine Gruppe Versprengter ihr Überleben nur auf brutal-selbstbestimmte Weise sichern. Frank Castorf übersetzt diese Gruppe in das Frauen-Ensemble der Volksbühne: die Besetzung fast sämtlicher Charaktere mit weiblichen Darstellern legt Assoziationen frei, mit denen das Rollenmodell und Rollenspiele vielfach infrage gestellt werden. Als einziger Mann ist der Garnisonsarzt Alexander Dawidytsch Samoilenko (und Darsteller Hermann Beyer) mit dieser Gemengelage konfrontiert – der Humanismus wird es auch diesmal schwer haben.
Mit "Das Duell" inszeniert Frank Castorf – nach seiner Bearbeitung von "Drei Schwestern" und "Die Bauern" unter dem Titel "Nach Moskau! Nach Moskau!" – zum zweiten Mal einen Text Anton Tschechows.
Spieldauer: 3 Stunden 45 Minuten, eine Pause
Mit: Sophie Rois (Iwan Andrejewitsch Lajewski), Silvia Rieger (Nikolai Wassiljewitsch von Koren/ Marja Konstantinowna Bitjugowa), Lilith Stangenberg (Nadeshda Fjodorowna), Kathrin Angerer (Diakon Pobedow), Kathrin Wehlisch (Ilja Michailowitsch Kirilin), Bärbel Bolle (Der Tatare Kerbalai/ die Köchin Olga), Martha Fessehatzion (Atschmianow), Leonie Jenning (Katja Bitjugowa, ihre Tochter) und Hermann Beyer (Alexander Dawidowitsch Samoilenko)
Regie: Frank Castorf
Bühne: Aleksandar Denic
Kostüme: Adriana Braga
Mitarbeit Kostüme: Teresa Tober
Licht: Lothar Baumgarte
Kamera: Mathias Klütz, Harald Mellwig
Video-Liveschnitt: Jens Crull, Konstantin Hapke
Sounddesign: Christopher von Nathusius
Dramaturgie: Sebastian Kaiser
Massel Klezmorim – Der jiddische Fiddler
Cliff Martinez – On the Beach
Neil Young – After The Gold Rush
Graeme Revell – Sex Machine Attacks
Gonzales – Armellodie
Nele Karajlic – Daddy's Gone
Frank Zappa – Nanook Rubs It
Lustmord – Erie
Chris Garneau – The Leaving Song
Georg Danzer – Ruhe vor dem Sturm
Country Joe McDonald – Quiet Days In Clichy I+II
Kent Nagano – Varèse, Amériques
Frank London & Boban Markovic – Doin' The Oriental
Edith Piaf – Hymne à L'amour
Ennio Morricone – Paranoia Prima
Jimi Hendrix – ...And the gods made love
Cat Power – (I can't get no) Satisfaction
Woodkid – Iron
Mason Jennings – I am lonely
James Eric – Sexyback