Volksbühne Berlin am Rosa-Luxemburg-Platz
 

Das große Fressen

Dimiter Gotscheff inszeniert den Skandalfilm der 70er Jahre


Dimiter Gotscheff inszeniert den Skandalfilm der 70er Jahre Ein gelangweilter Ehemann erschießt seine Frau und wird Schiffskoch. Eine Frau bringt einen Hund um, um seinen Herrn zu verführen, der den Hund liebt. – Inhaltsangaben von subversiven Filmen aus den Siebziger Jahren, die der Gegenwart so ähneln in ihrem Überdruss und ihrer Saturiertheit. Und nicht nur, weil die Schlagzeilen ähnlich klingen: „Hohe Arbeitslosigkeit”, „zu hohe Kosten im Gesundheitswesen” und „Terrorismus”. Mitten hinein platzte 1973 „Das große Fressen“ von Marco Ferreri und wurde nicht verstanden. Ob der Film nun Übersättigung und hemmungslosen Konsum oder das heilige Ritual der Bourgeoisie denunziert, ob er die Reduktion des Menschen auf eine Ess-, Liebes- und Verdauungsmaschine vorführt, ob er Kapitalismuskritik ist oder ohne Pietät und Takt am Totem und Tabu Tod rüttelt: Den meisten Franzosen fehlte der diskrete Charme, den Deutschen fehlte Tiefe und Moral (und sie guckten aber weiter die damals üblichen Bumsfallerafilme „Schulmädchenreport“ und „Liebesgrüße aus der Lederhose“), den Rechten erschien er als Provokation, den Linken auch. Alle reagierten brüskiert. Die Hauptdarstellerin Andréa Ferreol erhielt Hausverbot in Pariser Restaurants und Marcello Mastroiannis Karriere galt nach dem Skandal in Cannes zwei Jahre als beendet. Der Film handelt von der Archaik des Fressens, Fickens, Scheißens, Sterbens, von der Allgegenwärtigkeit der Hurerei, vom Ekel vor dem Dasein. Dimiter Gotscheff vergisst den Film in seiner vierten Arbeit an der Volksbühne, nimmt sich der düsteren Fabula an und zeigt eine verwerfliche, aber auch veränderbare Welt der nahen Zukunft. Kultur ist nur mehr eine Erinnerung. Außer Konsum gibt es nichts mehr. Wie primitive Organismen kennen die letzten Menschen nur mehr eine Unterscheidung zwischen Gut und Böse: essbar oder nicht essbar, roh oder gekocht. Vier Männer gehen der Sache auf den Grund. Leben heißt essen. Die Liste der Speisen markiert eine Reise in den Tod. Eine Regression in ein frühes Stadium sinnlicher Aneignung. Leben als Säugling. Das Essen ist gefärbt von Sexualität. Die Männer essen die Nachbildungen der weiblichen Genitalien. Wenn sie bei den Brüsten anlangen, sind sie tot. Und glücklich. Nichts für Hungerleider. Es entsteht Neid auf diese vier Männer, die ihrem ontologischen Anarchismus freien Lauf lassen, und als letzte Konsequenz auf den allgegenwärtigen Überdruss dem Dasein den Stinkefinger zeigen und von der Welt abtreten mit einem Furz: „Die Selbstmordidee muss eine positive Idee sein, wie in der Antike. Ohne die Idee des Selbstmordes hätte ich mich seit langem getötet.“ (E.M. Cioran). Wir müssen noch bleiben. Nirgendwo als in der Drastik sehen wir deutlicher die sich vom Schwanz her auffressende Schlange. Was soll das Theater tun? Die Vorstellungskraft der Richter überfordern, den Überdruss der Politiker verzehnfachen und den Witz der Schreiberlinge unterjochen. Weil das Denken der Konsequenzen schon allein zur Hoffnung beiträgt. Uraufführung am 26. April 2006
//