Zur Uraufführung des »Geizigen« fällt das Stück beim Publikum durch. Die Zuschauer wollen Harpagon, der seine Geldkassette dem Liebesglück seiner Kinder Cléante und Élise vorzieht, nicht als alten Geizkragen denunziert sehen. Denn die Todsünde Geiz beginnt sich Mitte des 17. Jahrhunderts gleichermaßen als Tugend und Wirtschaftsfaktor zu etablieren. Das »Evangelium der Entsagung«, wie Karl Marx das Sparen bezeichnet, ist neben Raub und Betrug ein wichtiger Baustein der ursprünglichen Akkumulation des Kapitals und seiner politischen Ökonomie.
Einige sehen diese Ökonomie heute vor dem Kollaps. Fakt ist: Sie hat im Westen eine Zwei- Klassen-Gesellschaft hervorgebracht, deren gemeinsame Ideologie der Konsum ist. Die einen kaufen, was sie wollen, die anderen sind zu »Mäc-Geiz« und zur »99-Cent-Mentalität« gezwungen – nur von Letzteren wird auch politisch erwartet, zu sparen. Hier ist die deutsche Mittel- und Unterschicht angesichts von Wirtschafts- und Bankenkrise mit der Mehrheit der Griechen, Italiener und Spanier vereint. Geiz ist nicht mehr Ausdruck einer Tugend oder protestantischer Ethik, eher Folge von niedrigem Lohn und krasser Verteilungsungleichheit.
"Ist ein schuldenfreies Leben in bitterer Armut besser, als ein gutes Leben auf Kredit?", fragt daher der Soziologe Wolfgang Pohrt; brauchen wir nicht einfach mehr Geld statt mehr Arbeit? Leben und ausgeben, so intensiv wie möglich! Bei Molière beherzigen die Kinder Harpagons diese Einsicht von Triebabfuhr und Genuss im Happy End. Der Geizige hingegen bleibt psychisch ein Gefangener und schafft nicht den nächsten Entwicklungsschritt: vom Behalten zum Hergeben.
Spieldauer: 3 Stunden 45 Minuten, eine Pause
Mit: Martin Wuttke (Harpagon, Cléantes und Élises Vater, verliebt in Mariane), Franz Beil (Cléante, sein Sohn, Geliebter der Mariane), Lilith Stangenberg (Élise, seine Tochter, Geliebte des Valère), Maximilian Brauer (Valère, Anselmes Sohn, Geliebter der Élise), Axel Wandtke (Anselme, Valères und Marianes Vater / Meister Simon, Geldverleiher), Kathrin Angerer (Frosine, Heiratsvermittlerin), Sophie Rois (Meister Jacques, Harpagons Koch und Kutscher / La Flèche, Cléantes Diener) und Margarita Breitkreiz (Mariane, Cléantes Geliebte, von Harpagon geliebt)
Regie: Frank Castorf
Bühne: Bert Neumann
Kostüme: Bert Neumann
Licht: Lothar Baumgarte
Kamera: Andreas Deinert
Musikalische Einrichtung: Wolfgang Urzendowsky
Video: Jens Crull
Dramaturgie: Sebastian Kaiser
Die anderen beiden Stücke unserer Molière-Trilogie finden sich unter folgenden Links:
Don Juan (von René Pollesch nach Molière),
Der eingebildete Kranke (nach Molière. Regie Martin Wuttke),