Es gibt Themen und Stoffe, denen das Uferlose, das Überbordende gemäß ist. So auch der Welt Dostojewskijs, deren mäandernder Erzählfluss die Vorboten des Chaos, der Unordnung, des sich ankündigenden Umsturzes sind. In Frank Castorfs Inszenierung von „Der Idiot“ wird Dostojewskijs Roman aus dem Jahr 1867 dieser Raum gegeben: Die NEUSTADT, auf der sich die Figuren versammeln, ufert aus, umspannt den gesamten Theaterraum. In diese Stadtlandschaft und ihre Gesellschaft platzt Fürst Myschkin, Dostojewskijs Entwurf eines „wahrhaft vollkommenen und schönen Menschen“ - ein Mensch, dem alle Herzen zufliegen, der unfähig zu Intrige und Misstrauen, herrschaftsfreie Kommunikation und Nächstenliebe selbst so konsequent und ernsthaft wie möglich praktiziert. Ein Humanist wie aus dem Bilderbuch, und damit leider ein Idiot, naiv und ahnungslos, für jedes Kompetenzteam ungeeignet. Und schon ist das Positive, auf das alle warten, wieder futsch. "Man hörte Lachen" ist eine häufig wiederkehrende Reaktion auf das Verhalten des Fürsten.
Die Menschen, mit denen der Idiot in Berührung kommt, durchlöchern die Rationalität der europäischen Vernunft. Freiheit führt bei ihnen nicht zum sittlichen Handeln, sondern dazu, gegen den eigenen Vorteil anzugehen, den Schmerz zu suchen, sein Geld zu verbrennen, Nihilist, Mörder und Selbstmörder zu werden. Sie erfüllen ein Programm, das Dostojewski in seinem "Kellerloch" ein paar Jahre vorher beunruhigend schlüssig entwickelt hat: "Die ganze Kraft des Menschen liegt darin zu beweisen, dass er keine Schraube sondern ein Mensch ist... Deshalb tun wir nicht das, was man von uns erwartet, sondern etwas Unsinniges."
Mit: Martin Wuttke (Fürst Lew Nikolajewitsch Myschkin), Bernhard Schütz (Parfjon Semjonowitsch Rogoschin), Jeanette Spassova (Nastassja Filippowna Baraschkowa), Ulrich Voß (Afanassij Iwanowitsch Tozkij), Joachim Tomaschewsky (Iwan Fjodorowitsch Jepantschin, General), Sophie Rois (Lisaweta Prokofjewna Jepantschina, seine Frau), Young-Shin Kim (Alexandra Iwanowna, ihre Tochter), Irina Potapenko (Adelaida Iwanowna, ihre Tochter), Lore Richter (Aglaja Iwanowna, ihre Tochter), Hendrik Arnst (Ardalion Alexandrowitsch Iwolgin, General a. D.), Brigitte Cuvelier (Warwara (Warja) Ardalionowna, seine Tochter), Kurt Naumann Skubowius (Gawrila (Ganja) Ardalionowitsch, sein Sohn), Herbert Fritsch (Lukjan Timofejewitsch Lebedjew, Beamter), Alexander Scheer (Ippolit), Frank Büttner (Keller, Preisboxer), Sir Henry (Antip Burdowskij) und Antje Schulz (Friseuse)
Regie und Bearbeitung: Frank Castorf
Raum und Kostüme: Bert Neumann
Musik: Sir Henry
Video-Bildregie: Jan Speckenbach
Kamera: Andreas Deinert
Licht: Lothar Baumgarte
Dramaturgische Mitarbeit: Carl Hegemann, Jutta Wangemann