Der Meister und Margarita
Frank Castorf nach dem Roman von Michail Bulgakow
Pleased to meet you, hope you guess my name, but what’s confusing you, is the nature of my game. (Bulgakows Teufel in der Adaption Mick Jaggers)
Michail Bulgakow (1891 – 1940) wusste, was es heißt, als Schriftsteller gedemütigt zu werden. Über die insgesamt 301 Rezensionen, die bis 1932 über seine Werke erschienen waren, schrieb er verzweifelt an Stalin: "Drei von ihnen waren lobend und 298 feindlich beschimpfend...". Der von der stalinistischen Bürokratie und Zensur gebeutelte Dichter wollte, dass Stalin, dem er sich trotz Feindschaft sehr verbunden fühlte, ihm die Ausreise erlaube oder eine Arbeit als Regisseur oder, wenn das nicht möglich sei, als Bühnenarbeiter vermittele. Er sei mittellos und reif für die Nervenklinik. Nur Stalin könne ihm helfen. Der rief ihn tatsächlich an und versprach ihm eine Existenz am Theater, ob als Regisseur oder als Bühnenarbeiter blieb offen. Bulgakow aber verzichtete nicht aufs Schreiben und arbeitete bis zu seinem Tod an einem großen Racheroman – für die Schublade (oder für Stalin als einzigen Leser), ohne jede Aussicht auf Veröffentlichung zu Lebzeiten. Erst 1966, 26 Jahre nach seinem Tod, durfte der Roman zensiert veröffentlicht werden. Seitdem gehört er zur Weltliteratur. Der Teufel selbst ist es, der in diesem Roman stellvertretend Rache übt für die erlittene Schmach des Dichters, indem er mit seinen Kumpanen in Moskau einzieht und das profane und bürokratische Leben dort auf phantastische Weise in einen mörderischen Albtraum verwandelt. (Dem gegenüber nimmt sich der eklig kalkulierte Versuch, Rache am Kritiker zu nehmen, über die man zur Zeit in deutschen Feuilletons lesen kann, ziemlich mickrig aus.) Das erste Opfer dieses Rachefeldzugs ist ein Literaturfunktionär namens Berlioz, dem der Teufel, in Gestalt des "ausländischen Konsultanten" Voland, detailliert prophezeit, dass ihm in Kürze der Kopf vom Rumpf getrennt wird. Und diese Prophezeiung geht sogleich in Erfüllung. "Annuschka hat das Öl verschüttet". Berlioz rutscht darauf aus, kommt unter die Räder einer Straßenbahn. Der Kopf ist ab. Dieses Ereignis und seine Begleitumstände verwirren den jungen Dichter Besdomny, der als Augenzeuge zugegen ist (und dessen vaterländisch-proletarische Lyrik tatsächlich noch in den 60iger Jahren bei Reclam Leipzig erschienen ist), so sehr, dass er in die Irrenanstalt kommt; wie nach ihm noch viele, die Voland begegnen. Diagnose: Schizophrenie. Was Besdomny dem Arzt erzählt, lässt sich in unserer Kultur nur mit Geisteskrankheit erklären. Denn den Teufel mit Namen und Gestalt, der bei der Verurteilung Jesu körperlich anwesend war, lässt kein noch so weit gefasster Normalitätsbegriff als Urheber konkreter Unerklärlichkeiten gelten. In die Anstalt flüchtete auch sich, fertig mit sich und der Welt, der Meister, Autor eines von der Kritik zerfleischten Pilatus-Romans. Zu einem Leben unter normalen Menschen ist er nicht mehr in der Lage. Er erzählt von seinem Roman und von seiner Geliebten Margarita, die sein erfolgloses Dichterleben im Kellerloch geteilt hat und nun weit weg ist. Während der Teufel und seine "apokalyptischen Reiter" mit ihrem magischen Terror locker und beiläufig aber wirkungsvoll die scheinbar festen Grundlagen der korrupt-positiven sowjetischen Lebensweise in die Irrealität überführen, erweist sich die poetisch gestaltete Pilatus/Jesus-Fiktion des Meisters als echt. Der Teufel kann ihren Wahrheitsgehalt bestätigen, denn er war schon damals dabei. In der Realität des Romans jedenfalls ist die Existenz des Teufels und damit Gottes bewiesen. Der Dichter, durchaus narzisstisch, dreht das Verhältnis von Werk und Welt um. Das Werk erscheint als Realität, die Welt als Fiktion. Man muss es nur glauben. Das aber fällt uns normal Sterblichen schwer, wir bleiben im Alltag hängen. Die "Echtzeitsimulation", in der die Zeit diskontinuierlich wird, Ursache-Wirkungsrelationen verschwimmen und in der die Schwerkraft ein Märchen ist, ist nicht jedermanns Sache, sei es in der digital generierten Realität virtueller Welten, sei es im Kino oder im Fernsehen, sei es im Roman oder einfach nur im Träumen. Die meisten Menschen wollen nichts wissen von Realitäten, in denen alles möglich ist. Sie ziehen die trübe Realität ihres Alltags vor und kucken sich die Auflösung ihrer Realität, den Weltuntergang etwa, lieber im Fernsehen an. Zuhause aber bleibt alles wie es ist. Anders in Bulgakows Roman. Des Meisters entfernte und sehnsuchtskranke Geliebte Margarita ist bereit, sich dem Teufel und der Magie zu verschreiben, um den verschwundenen Meister und seine poetische Wahrheit wiederzufinden. Am Ende fallen die Ebene des Romans und die Ebene des Romans im Roman zusammen. Jesus befiehlt dem Teufel, dem Meister und Margarita, Frieden zu geben. Und der Teufel verschafft ihnen ein kleines Haus, in dem sie in einer Art Biedermeieridylle den Rest der Ewigkeit verbringen dürfen. Ob damit Gott oder Teufel gesiegt hat, muss offen bleiben. Aber letztlich siegt auch hier eigentlich der Alltag in seiner angenehmen Form, die schon der alttestamentarische Prediger favorisierte: "Iß fröhlich dein Brot und trinke wohlgemut deinen Wein! Genieße das Leben, mit der Frau, die du liebst, all die Tage deines nichtigen Lebens...". Eine Utopie von Sterbenden.
Bulgakows Roman wird gewöhnlich als Satire auf die zerfallende russische Gesellschaft im Stalinismus gelesen. Dies könnte zu kurz gegriffen sein. Denn hier wird der Zerfall der Realität selbst zum Thema, nicht als satirischer Kunstgriff, sondern ganz ernst. Vielleicht ahnte Bulgakow in dieser literarischen Vorwegnahme des Zusammenbruchs der Sowjetunion schon vor 70 Jahren, was heute, nach den Ereignissen des 11. September, der Philosoph Jean Baudrillard so formuliert hat: "dass die Realität ein Prinzip ist und dass es dieses Prinzip ist, das wir verloren haben", dass Traum und Wirklichkeit ineinander fließen, Wahrheit und Lüge ununterscheidbar werden. "Das Abendland, das die Stelle Gottes eingenommen hat, wird selbstmörderisch und erklärt sich selbst den Krieg." Dieser Diagnose hätte sich Bulgakow, der aufgeklärte Aufklärungsfeind, der den Teufeln mit dem Teufel begegnet, wahrscheinlich anschließen können – zumindest literarisch.
Leider oder Gott sei Dank prallen diese Spekulationen am Alltag ab. Die kleinbürgerliche Existenz erweist sich auch heute noch als ziemlich robust. "Die Welt mag zwar untergehen, aber wahrscheinlich sind wir dann live dabei", schrieb Mark Siemons schon vor 10 Jahren, und solange wir eine Flasche Bier und etwas zu essen haben, ändern auch die gewaltigsten Einbrüche der Realität nicht viel für uns. Manchem Realitätsbruch stehen wir so unbeeindruckt gegenüber wie manchem Zivilisationsbruch.
Carl Hegemann, 2002
Wiener Premiere am 14. Juni 2002
Berliner Premiere am 09. November 2002