Ich bin schuldig, also bin ich...?
Franz Kafkas Jahrhundertroman wird in der Inszenierung des Prager Kammertheaters auf seine Kernaussage hin überprüft. Kafkas Antiheld Josef K. setzt sich in einem exemplarischen Bewusstwerdungsprozess mit seinem Dasein auseinander, versucht das Für und Wider der menschlichen Existenz in einer zunehmend unbegreiflich werdenden Welt auszuloten. Als überforderter, an den eigenen Ansprüchen und Selbstzweifeln zerbrechender Einzelgänger gerät er allmählich an die Grenzen des eigenen Bewusstseins. Gedanken, Träume und Ängste nehmen in seiner Phantasie immer konkretere Gestalt an, das Leben verwandelt sich vor seinem geistigen Auge in eine durch nichts begründete Gerichtsverhandlung. Als unschuldig Angeklagter sehnt er eine endgültige Lösung seiner Notlage herbei, nimmt die Verteidigung in die eigenen Hände und treibt den Fortgang seines Prozesses voran. Aufwühlende Erlebnisse wie die Verhaftung, die Untersuchung, Begegnungen mit dem Fräulein Bürstner, dem Advokaten Huld, Leni, Kaufmann Block oder dem Geistlichen markieren Stationen eines Weges, den K. in seinem Inneren in den letzten Monaten seines Lebens beschreibt. Alle Figuren in diesem Spiel wirken erschreckend real, K. ist nicht mehr in der Lage, zwischen äußerer wirklicher Welt und gefühlter innerer zu unterscheiden. Jede der schicksalsträchtigen Begegnungen mit einer der Personen des Romans führt K. weiter – bis er an einen Punkt gelangt, von dem es keine Rückkehr gibt, einen Punkt, den es zu erreichen galt...
In der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts war Kafkas wörtlich genommene Prozess-Metapher ein willkommener Schlüssel für die Aufarbeitung totalitärer politischer Systeme und ihrer Schauprozesse. Auch diese Deutungen lässt Franz Kafka zu, sein ureigenstes Anliegen liegt aber tiefer, ist persönlicher, intimer und absolut existentieller Natur. Kafka lässt Leser wie Zuschauer durch K.s Augen, Wahrnehmungen und Emotionen auf eine für das Individuum unüberschaubare Auβenwelt blicken. Es gibt im Roman kaum Passagen, die sich damit befassen, was Personen, auf die K. trifft, empfinden, welche psychischen Zustände ihr Handeln motivieren; sie treten nur auf, wenn sie mit K. in Berührung kommen, ihr Inneres bleibt ein Geheimnis, das K.s – und unserer – Interpretation vorbehalten ist. „Der Prozess“ liest sich, aus heutiger Sicht, wie das Psychogramm einer allmählich zerfallenden Persönlichkeit. Die Gegenwart ist voller Phänomene, die die besondere metaphorische Qualität des Romans belegen: die Erfassung von Persönlichkeitsdaten, die Überwachung des Individuums durch Staat und Wirtschaft, die systematische Zusammenführung von Daten aus verschiedensten Lebensbereichen (Gesundheit, Finanzen, Lebenswandel usw.) bereiten den Weg zum tendenziell völlig durchschaubaren und damit der Privatsphäre beraubten Menschen. Die Geschichte eines der bedeutendsten Antihelden der Weltliteratur lässt Rückschlüsse auf Empfindungen und Ängste zu, die aus dem tiefsten Inneren der heutigen – durch modernste Technologien unbewusst und bequem gesteuerten – Lebensrealität genährt werden.
Mit Ivan Acher, Hynek Chmelar;, Jirí Cerný, Martin Finger, Stanislav Majer, Gabriela Mícová und Martin Pechlát
Regie und Bühne Dušan David Parizek
Kostüme Kamila Polívková
Musik und Projektion Ivan Acher
Licht Jirí Kufr
Premiere 3. September 2007 in Prag
Gastspiel des Prager Kammertheaters. In Zusammenarbeit mit dem Festival tschechischer Kunst und Kultur „Prag-Berlin“. Gefördert durch den Deutsch-Tschechischen Zukunftsfonds und das Staatsministerium für Kultur der Republik Tschechien.
Regie: Dusan David Parízek