Volksbühne Berlin am Rosa-Luxemburg-Platz
 

Die Fruchtfliege

Christoph Marthaler lässt die Liebe erforschen


„So viele Erkenntnisse zur Jahrtausendwende durch ein so winziges und andersartiges Lebewesen“ Evolutionsgeschichtlich befinden wir uns an der Stelle, an der die Menschen sich selber abschaffen können, zumindest als Wirbeltiere höherer Ordnung, die durch zweigeschlechtlichen Sex entstehen, und eine lange Zeit des Wachstums und deshalb des Schutzes benötigen. Weil Menschenjunge so viel länger als andere Wirbeltiere brauchen, bis sie selbstständig sind, ist die Liebe als zusätzliche Empfindung dazu gekommen. Jetzt könnte sie wieder abgeschafft werden; oder bleibt sie als Luxusempfindung erhalten? Die Natur kennt keinen Luxus. Als Christoph Marthaler im Zusammenhang mit seiner Bayreuther „Tristan und Isolde“-Inszenierung nach der Aktualität des Liebestodes gefragt wurde, war die Antwort: „Vielleicht stirbt heute niemand mehr an der Liebe; vielleicht ist ja die Liebe gestorben.“ Die Liebe ist eine Himmelsmacht, sagt die Operette. Und ganz Paris brennt für die Liebe, wie sich gerade in den Vorstädten der Hauptstadt der Liebe zeigt. Daß die Liebe eine evolutionsbedingte Empfindung ist, die als eine nicht kontrollierbare Macht Hormone, Sinneswahrnehmungen, Körpertemperaturen ergreift, steht dazu nicht im Widerspruch. Die Himmelsmacht sind naturgeschichtlich die Gene und gesellschaftsgeschichtlich der Markt. Christoph Marthaler hat das Phänomen Liebe, das im gegenwärtigen Leben nicht mehr vorkommt, Forschern übergeben. Die Forscher wissen: Die Zellen ihrer Körper erinnern die ganze Geschichte der Gattung, aller vergangenen Empfindungen, wie sie entstanden sind, und wie sie einmal enden. Die Tätigkeit des Forschens ist einsam, selbst wenn Liebe ihr Gegenstand ist. Eine der ältesten Empfindungen, schon in der Frühgeschichte der Arten ausgeprägt, ist Eifersucht. Dagegen ist Rache eine verhältnismäßig junge Empfindung, erst bei den Menschen entstanden etwa in der Antike. Für Rachegefühle sind vorausplanende Intelligenzleistungen, Vorstellungsvermögen, Strategie notwendig, siehe „Medea“. Eifersüchtig sind schon die Manteltierchen; Rache nehmen erst die Menschen. Wie ist die Liebe entstanden und wieder verschwunden? Und vor allen Dingen: Wo sind die genetischen Informationen dieser Empfindung hingegangen? So fragen die einsamen Forscher, die keine Erinnerung haben. Wenige Empfindungen haben so starke kulturelle Ausprägungen und Rituale im sozialen Leben hervorgebracht: Die Verführung, die Bindung, die amour fou, die Passion, die Liebesfreundschaft. Viele dieser Ausdrucksformen haben sich über kurz oder lang als ein kultureller Irrtum herausgestellt. Mit dem zweiten Schub eines neoliberalen Marktfetischismus hat sich das Kalkül als die brauchbarste oder lebbarste Form des Liebens erwiesen, nach der Devise, daß Unverkäufliches nicht existiert. Das ist wahrscheinlich auch übertrieben, hat aber auf alle Fälle Praktiken wie Mord aus Leidenschaft, unbegründete Hingabe oder Liebestod überflüssig gemacht. Die Oper handelt ausschließlich von den letztgenannten Dramatisierungen der Empfindung. Alexander Kluge hat die Oper ein „Kraftwerk der Gefühle“ genannt. Kann man aus den Leidenschaftskondensaten der Musik aus einer vergangenen Zeit der Gattung auf eine unbekannte genetische Information der Gegenwart schließen? Die Euphorie des Verliebens wird chemisch erzeugt. Irgendetwas muß also an dem überflüssig gewordenen Gefühl noch notwendig sein. Es könnte auch sein, daß der Ökonomie-Fetischismus die Naturgeschichte einem Marktverhalten analogisiert hat, weil anderes nicht mehr vorgestellt werden darf, die Natur aber viel großzügiger ist. Wer dächte noch an Ökonomie, wenn er die Mannigfaltigkeit eines Korallenriffs beobachtet? Für die Genforscher verkörpert die Drosophila vulgo Fruchtfliege das, was der Delphin den Esoterikern bedeutet; sie ist das Totem der Genetik. Nicht ohne Grund. Die Fruchtfliege bildet die goldene Mitte zwischen Einzellern und dem Genom des Menschen, zwischen den einfachsten und den kompliziertesten aller uns bekannten Lebewesen. Der Mensch verfügt über 70.000 Gene, ein Bakterium über 4.000, die Fruchtfliege über 15.000. Außerdem vermehrt sie sich zügig und bildet klar erkennbare Merkmale, die Forschern in Echtzeit erlauben zu beobachten, wie Körper und Schädel zu Wachs in den Händen der Evolution wird. „Der Anfang war ‚white’“ pflegen Drosophilogen zu sagen, denn ein Fliegenmutant mit weißen Augen, im Übrigen ein Männchen mit 1.237 Nachkommen, ermöglichte den Forschern ihre Experimente mit den Grundinstinkten, den Gefühlen der Fliege. Sie nehmen sie auseinander und setzen sie zusammen, als wären sie Uhrmacher, die das Uhrwerk freilegen und darin herumschrauben auf dem Weg zu einer atomaren Theorie der Gefühle: Zeit, Liebe, Erinnerung betrachtet durch das Facettenauge der Fruchtfliege. „Das Ziel meiner Philosophie? Der Fliege den Ausweg aus dem Fliegenglas zu zeigen“ (Wittgenstein). Stefanie Carp, 2005 Premiere am 16. Dezember 2005
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