Volksbühne Berlin am Rosa-Luxemburg-Platz
 
Zur Zeit keine Vorstellung. Demnächst wieder auf dem Spielplan.

Die Kabale der Scheinheiligen. Das Leben des Herrn de Molière

nach Michail Bulgakow


Wenn der Weg explodiert Kurz nachdem sich in Madrid der Maler Diego Velázquez in das Bild „Las Meninas“ einzeichnet, steht nahe Paris Jean Baptiste de Molière als Molière auf der Bühne und spielt - heute würden wir sagen performt -, wie er von König Ludwig XIV. den Auftrag erhält, in kürzester Zeit ein Stück zu schreiben, einzustudieren und zur Aufführung zu bringen. Und zwar vor eben diesem König! Ein Spiel über das Spiel, über das Verhältnis von Künstler und Staat. Und im Publikum dieser Iterationsperformance von Realität, in diesem „Stegreifspiel von Versailles“, sitzt niemand anders als Ludwig XIV. selbst. Das war 1663. Knapp 300 Jahre später versucht sich der Romancier und Dramatiker Michail Bulgakow selbst in zahlreichen Molière-Stücken als Schauspieler. Mit der „Weißen Garde“ hat er 1924 ein Buch über die Revolution/Konterrevolution 1918/19 in der Ukraine geschrieben. Das schlimmste, was passieren konnte: die „rote“ Literaturkritik beschließt, dass es sich dabei um eine Apotheose der „Weißen“ handelt. Das bringt den Autor in Gefahr. Denn um den Neuen Menschen zu schaffen, musste man den Alten, Rückständigen, umbringen. Die sowjetische Nach-Gesellschaft - nach der Revolution, nach dem 1. Weltkrieg, nach dem Bürgerkrieg und verschärft ab 1936 - ist gleichzeitig Karneval und Todesmaschine. Eine unberechenbare Welt, in der jeder den Klassenkampf auch in sich selber austrägt und sich keiner unschuldig fühlen kann. Auch Künstler und Autoren, ob sie sich dem Konsens verweigern oder nicht, die in diesem post-avantgardistischen Willkürsystem leben, sind immer gefährdet. Ihnen drohen nicht nur beruflicher Misserfolg und Vergessen, sondern auch in Lager verschickt, gefoltert oder mit Kopfschüssen in sibirischer Schwarzerde verbuddelt zu werden. Bulgakow hat Glück. Zunächst. Stalin mag Bulgakow und sieht in der „Weißen Garde“ und deren Theatralisierung „Die Tage der Turbins“ keinen konterrevolutionären Umtrieb, sondern einen Lobgesang auf die Unbesiegbarkeit der Bolschewisten. „Das Stück nutzt mehr, als es schadet.“ Oben ist unten, rechts ist links. Er setzt sich über die Literaturkritik - natürlich, was denn sonst! - hinweg und forciert eine Aufführung des Stücks im berühmten Künstlertheater in Moskau. 15 Mal sieht sich Stalin die Inszenierung an, begeistert. Trotz Protektion von höchster Stelle ist Bulgakow immer gefährdet. 1926 wird seine Wohnung vom Geheimdienst (der GPU) durchsucht, sein Tagebuch mit einer Reihe zweifellos mehrdeutig auslegbarer politischer Kommentare wird beschlagnahmt. Es folgen: Depressionen, Lähmung, schwarzes Loch. Und dann versucht der Schriftsteller den Spuk in seinem Kopf, den Terror, dem sein Körper bei der Vorstellung, was man alles über ihn - Konjunktiv! - denken könnte und welches Schicksal vielleicht schon für ihn vorausbestimmt sein könnte, durch einen Rekurs in die Geschichte zu bezwingen: und zwar durch das Weiterschreiben des französischen „Stegreifspiels“ von Molière unter sowjetischen Bedingungen. Bulgakow lässt das Theaterpublikum Moskaus von hinten auf die Bühne Molières und in den Saal schauen, wo das Theaterpublikum von Versailles sitzt. Dazwischen agiert der abhängige und ausgelieferte Künstler, Molière alias Bulgakow, der den König alias Stalin bewundert und den Staat akzeptiert, der ihm - und sei es auch kritisch - dienen will, der aber immer auch von einem Tag auf den andern ein Opfer des Staates werden kann, wenn Ludwig resp. Stalin ihn nicht mehr protegiert. Und für Molière wird es ernst. „Der Weg ist nicht zu Ende, wenn das Ziel explodiert.“ Nun explodiert auch der Weg. Denn der König hat dem Theatermann seine schützende Hand entzogen. Nach dem Tartüffe-Skandal setzt die „Kabale der Heiligen Schrift“ ihre Sichtweise auf das Stück im Hofstaat durch. Und nach der betreibt es schändliche Gotteslästerung. Nur noch ein letztes Mal kommt die Schauspieltruppe zusammen, um im Theater Palais Royale in Versailles aufzutreten und zu zeigen, was sie ziemlich gut kann: spielen. Oder vielleicht auch - in zeitlicher Verschiebung - auf dem Ball 1926 im Spaso-House in Moskau, der Residenz des amerikanischen Botschafters in der UdSSR. Ein Fest im Style Russe, wie sich die Gattin von Michail Bulgakow - Jelena - später erinnerte und das der Schriftsteller selbst in einer frühen Version von „Meister und Margarita“ als einen vom Teufel veranstalteten Ball schildert. Ein Karneval, wie Bachtin es nannte, zu dem auch Randgestalten und Exzentriker geladen sind: „Giftmischerinnen, Galgenvögel, Kupplerinnen, Kerkerknechte, Mörder, Falschspieler, Scharfrichter, Denunzianten, Verräter, Kurtisanen, Geisteskranke, Spitzel, Sittenstrolche und Spitzbuben.“ Und dann rollen die Köpfe. Wie im zweitem Teil des Faust vermischen sich Zeiten und Figuren und fügen sich diskontinuierlich zusammen. Molière, der auch etwas von Stalin hat, und König Ludwig, der vielleicht der wahre Künstler ist, fahren mit ihrer Harley und dem Pontiac Grand Prix Coupé zur Probe; und am Rand von Bulgakows Heimatland wird ein UAZ 3151 mit 16x11 Bereifung betankt. Und natürlich sind da auch seine Lebensgefährtin Madame Béjart und ihre Tochter Armande. Für die junge Tochter verlässt er die alte Mutter. Und Armande heiratet ihren Regisseur. Real oder in der Phantasie. Auf jeden Fall auf der Bühne. Sie eine große Schauspielerin und eine schlechte Ehefrau. Ein Gerücht geht um und das wiegt schwer: Inzucht. Ist der Gatte der Vater der Braut? Das Bürschel Moyron entsteigt dem Klavizimbel und sofort zeigt es seine verführerische Kunst. Es macht sich über Armande her und diese ist dem amourösen Abenteuer – genauer dem Ehebruch - nicht abgeneigt. Dreiecksbeziehung. Im Zentrum die üble Klette mit dem Namen Eifersucht. Wie ein Schatten, der sich nicht abschütteln lässt, injizieren deren Stachel lähmendes Gift. Das Gift wirkt. Bei Molière und den Spielern. Kein Wort lässt sich mehr schreiben, kein einziger Meter Film drehen. Und auch das Theater droht es zu zerreißen. Die Crew, in der Kantine, ist mit sich selbst beschäftigt. Das obsessive private Treiben hinter den Kulissen wird zum eigentlichen Drama. Und dann fängt auch noch der Kameramann etwas mit dem Beleuchter an. Jetzt hilft nur noch eine starke Autorität, die durchgreift und laut und deutlich allen klar macht, wer hier das Sagen hat! Wir sind also im Flug durch Raum und Zeit bei Rainer Werner Fassbinder und seiner Familie gelandet. Jeff taucht auf und noch am ersten Drehtag hat er mit Eddie und Irm, mit Hanna und Ulli das gesamte Budget von 250.000 DM verpulvert. Aber Jeff ist Alex und Alex ist Rainer. Und alle sind ein bisschen Manfred. Rauf auf die Bühne. Einmal um den Hacken gedreht - der Jahrtausende alte Special Effekt des Theaters! - und der Zuschauer schaut inszeniert von Molière durch die Augen von Racine in die Antike, dreht sich um, und dessen Konkurrent Corneille erobert die Comédie-Française. Der Diener Bouton lugt durch den Vorhang und stellt die wichtigste Frage: Ist der König, Stalin, Fassbinder... noch da? Amüsiert er sich? Wie Bolle! Und im Saal sitzt Hollywood-Prominenz. Der nächste Job bei Scorsese? Alex, jetzt nicht patzen. Weiterspielen. Auch wenn das Publikum längst mit faulen Eiern wirft, oder wegrennt. Den Druck, der auf der Bühne liegt, den halten nur Komödianten-Kinder aus, die dafür geboren sind. Nur sie blühen im Chaos. So viele Widersprüche. Und so viele Prinzipien. Die völlige Aussichtslosigkeit. Es ist nichts mehr zu löten. Denn natürlich kann man im Theater nichts falsch machen, außer man macht es richtig. Der Abend zieht sich in die Länge, die einen sind genervt, die anderen schlafen. Doch da plötzlich, ohne jede Ankündigung: der Durchbruch hin zum Wahrhaften, zum Berührenden und sogar zu ungeahnten nie zuvor erreichten philosophischen Einsichten. Und wieder umdrehen. Einmal um die Achse. Abgang des übergroßen Räuberhauptmannes Karl Moor; sein Theaterkostüm wird zerschnitten und die vielen kleinen und bunten Fetzen steigen schwerelos in den Himmel über Paris. Vorhang. Ende einer Schauspieltruppe. Ende des Theaters als Heterotopie. Ende der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz. Sebastian Kaiser
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