Volksbühne Berlin am Rosa-Luxemburg-Platz
 
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Die Wirtin

von Fjodor M. Dostojewskij. »Ohne Gott ist der Mensch allein«


»Dostojewskijs WIRTIN ist ein schauerlicher Blödsinn!« schreibt die Autorität russischer Literaturkritik, Wissarion Belinski. Und auch: »Wir sind gründlich hereingefallen mit diesem ›Genie‹ Dostojewskij.« Tatsächlich bildet DIE WIRTIN stilistisch eine Ausnahme. Orientiert an E.T.A. Hoffmann entwirft sie einen Mystizismus von Sehnsucht und Erotik, der die deutsche Romantik mit der russischen Filmtradition des 20. Jahrhunderts à la Tarkowski verbindet. Eine Dreiecksgeschichte: hier Wassili Michailowitsch Ordynoff, ein junger Akademiker und weltfremder Sonderling; dort, in den St. Petersburger Armenvierteln, die bezaubernd schöne Katerina mit einer dunklen Familiengeschichte, eine »entehrte Sklavin« von tiefer religiöser Demut. Sie wohnt mit (oder dient ihm?) Ilja Murin, einem bankrotten, einst erfolgreichen tatarischen Kaufmann, ein altgläubiger Zauberer, der mal luzide argumentiert, mal irrsinnig um sich schießt. Ordynoff zieht zu dem ungleichen Paar und verliebt sich bis zur Besessenheit in Katerina. Drei Personen – drei Perspektiven und ein großes Geheimnis, das den eigentlichen Kern ihrer Beziehung ummantelt. Dostojewskijs frühe Erzählung ist das »polyphone« (Michail Bachtin) Zeugnis eines experimentierenden Schriftstellers, der die Ausgegrenzten in den Mittelpunkt stellt: drei Außenseiter-Charaktere entfalten durch ihr von religiös-politischen Themen durchsetztes Beziehungsgeflecht eine hochgradig dramatische Wirkung auf kleinstem Raum. Verbindungsstück zwischen Apologie und Beschreibung der Alterität ist der Mensch, in dem »alle Rätsel des Universums beschlossen« liegen, widersprüchlich, demütig, leidend, aber auch unterdrückend, gewalttätig und immer auf der Suche nach reiner Liebe und dem Weg ins irdische Paradies. Nach der Umsetzung der Romane ERNIEDRIGTE UND BELEIDIGTE, DÄMONEN, SCHULD UND SÜHNE, IDIOT und SPIELER nimmt sich Frank Castorf nun der Erzählungen Dostojewskijs an.

Spieldauer: 2 Stunden 20 Minuten

  

Mit: Kathrin Angerer (Katerina), Marc Hosemann (Ilja Murin), Trystan Pütter (Wassilij Michailowitsch Ordynoff / Aljoscha), Hendrik Arnst (Jaroslaff Iljitsch), Volker Spengler (Hauswirt) und Harald Warmbrunn (Hausknecht)

Regie: Frank Castorf
Bühne: Bert Neumann
Kostüme: Bert Neumann
Licht: Lothar Baumgarte
Kamera: Andreas Deinert, Mathias Klütz
Liveschnitt: Jens Crull
Musikalische Einrichtung: Klaus Dobbrick, William Minke
Dramaturgie: Sebastian Kaiser, Elena Sinanina

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Formel

Das russische Volk lebt ganz in der Orthodoxie und in ihrer Idee. Außer dieser ist ihm nichts und hat es nichts – und braucht es auch nichts, denn die Orthodoxie ist alles; sie ist Kirche, und Kirche ist die Krönung des Gebäudes, und zwar auf ewig. Sie denken, ich werde das jetzt zu erklären anfangen? – keineswegs! Alles später und unermüdlich. Vorläufig aber stelle ich nur die Formel auf und füge noch eine andere hinzu: Wer die Orthodoxie nicht versteht, der wird auch nie und nimmer das russische Volk verstehen. Ja, nicht nur, das: der kann das russische Volk nicht einmal lieben, sondern wird höchstens ein imaginäres Volk lieben, wie er das russische Volk in Wirklichkeit zu sehen wünscht. Und andererseits wird auch das Volk einen solchen Menschen nicht als zu ihm gehörig anerkennen: Liebst Du nicht das, was ich liebe, glaubst du nicht daran, woran ich glaube und achtest du nicht mein Heiligtum, so bist du nicht mein Bruder. Oh, das Volk wird ihm deshalb nicht zu nahe treten, wird ihn weder überfallen, noch berauben, noch verprügeln, es wird ihm nicht einmal ein böses Wort sagen. Es ist zu großmütig dazu, es kann viel aushalten und ist in Glaubenssachen duldsam. Das Volk wird den, der es anderes sehen wollte, ruhig anhören (wenn er gescheit ist und zu reden versteht), wird ihm für Ratschläge sogar danken, für die Wissenschaft, die man ihm bringt, wird sogar manchen Rat befolgen, denn das russische Volk ist großzügig und versteht, die Dinge auseinanderzuhalten. Aber als seinesgleichen wird es ihn doch nicht ansehen, seine Hand wird es ihm nicht geben und sein Herz ebenso wenig. Unsere Intelligenz aber, im finnischen Sumpf, sieht an ihm vorbei und ärgert sich, wenn man ihr sagt, dass sie das Volk nicht kenne.

Fjodor Dostojewski, Notierte Gedanken aus den Jahren 1880 und 1881

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