Volksbühne Berlin am Rosa-Luxemburg-Platz
 
Zur Zeit keine Vorstellung. Demnächst wieder auf dem Spielplan.

Ein schwaches Herz

nach Fjodor M. Dostojewskij


Alltag ohne Feiertag

I

Es ist wie der berühmte Frosch im Wasserglas. Setzt man ihn in heißes Wasser, springt er sofort heraus. Erwärmt man jedoch allmählich, dann….
Fjodor Dostojewskijs Erzählung „Ein schwaches Herz“ - geschrieben 1849 im Alter von 28 Jahren - handelt von Zweien, von denen einer zu viel wollte. Wassja und Arkadij. Beide Beamte in den unteren Dienstgraden. Gerade aus dem Teenageralter heraus, wohnen sie in einer Stube zusammen. Sie lieben sich so, wie sich Freunde lieben. Dazu verliebt sich Wassja noch mal anders. In Lisa. Lisa wurde von ihrem Bräutigam unschön verlassen; er versetzt in eine andere Stadt, eine andere Frau kam hinzu… Shit happens. Man kennt das… Dann tröstet Wassja Lisa. Erst weint nur sie, dann weinen beide. Wenig später sind sie miteinander verlobt. Glücklich sein, das ist das, was der mit einem Körperhandycap geborene Wassja möchte. Harmonie in allen denkbaren Konstellationen. Mit Lisa. Aber auch im Dreieck mit Arkadij. Und mit der Schwiegermutter. Und deren Sohn. Kann man ein solches Glück ertragen? Eines, in dem keine Reibung mehr stattfindet? Angst und Dankbarkeit... Von der anderen Seite drücken die Mietpreise! Und das mickrige Einkommen als Schreiber! Selbst an Neujahr reißt sich Wassja zusammen. Alle feiern. Wassja aber wird arbeiten, den Schlaf bezwingen. Oder vielleicht auch nicht? Und langsam, ganz langsam - Dostojewskij, dieser exakte Schnüffler psychologischer Entwicklungspfade! -, steigt der Druck… Die Friktion hin zur Realität sinkt. Wassja schreibt im Akkord, er wirbelt mit den Armen, schreibt in der Luft. Er schreibt Gespenster. Er wird selbst zum Gespenst… Angst bemächtigt sich seiner… Angst vor dem drohenden Militärdienst. 25 Jahre, die der Erstgeborene für Zar und Heimat zu leisten hat. Aber auch Angst vor Julian Mastakowitsch, seinem Chef. Und dieser Chef, stellvertretend für den Kapitalisten, übt noch nicht mal Druck aus. Im Gegenteil. Er möchte Wassja helfen, ihn lediglich ein bisschen beschäftigen. Doch Wassja ist schon kurz vor dem Kollaps, weißes Rauschen schiebt sich vor seine Wahrnehmung… Arkadij kann nicht retten, nur gerührt gucken. Bis zum Schluss, es ist unvermeidlich, der Arzt kommt.

II

Kurz ist nur die Hoffnung. Und natürlich ist die Inszenierung an dieser Stelle nicht zu Ende. Stringenz hin zur eindeutig fassbaren Aussage: das ist nicht mit Theaterkunst zu verwechseln! Auf einer Bühne aber, kann man nichts falsch machen. Voraussetzung natürlich, man macht es richtig. Umwege werden an- und ausgelegt. Erst mal verstellen und Rollenwechsel. Und schon ist das Dienstmädchen Marfa die Erfinderin Koka. Lisa die berühmte Schauspielerin Sina. Da bahnt sich was an! Eine Regenbogenbeziehung von Sina und Koka, die in der Moskauer Plattenbauwohnung an einer Zeitmaschine bastelt. Durch Dostojewskij hindurch lugt Michail Bulgakow und sein Stück "Iwan Wassiljewitsch". Nach „Molière“ war alles egal. Er konnte schreiben, was er wollte. Zwangsläufig. Auch diese leichte Screwball-Komödie wurde verboten, Aufführungen untersagt. In den 30er Jahren unter Stalin. Und dann 30 Jahre später die Idee des Mosfilm-Regisseurs Leonid Gaidai: Den Theatertext nehmen - er erschien erstmalig in der Sowjetunion in den 60er Jahren - und in seine Komödien-Reihe integrieren. Koka ist nun Schurik. 60 Millionen Menschen haben den Film im Kino gesehen; die Fernsehzuschauer der immer noch ständig wiederholten Streifen nicht mitgezählt! Bis heute sind „Brillante Hände“ und „Kaukasischer Gefangener“ - die anderen berühmten Gaidai-Filme - allgemeines Kultur- und Zitatgut im russischsprachigen postsowjetischen Raum. Es sind Filme, die wie eine Apotheose eines anderen Menschen wirken. Die dem Tod, die Stalin, die den Millionen Opfern mit dem kommunistischen, etwas naiven aber zutiefst sympathischen Lächeln von Schurik so etwas wie einen historischen Sinn und Fluchtpunkt zu geben versuchen. Die die Utopie rein waschen. Und irgendwie auch schlechtes Wetter und Kälte abschaffen. Immer scheint die Sonne in Moskau! Die Straßen blitzeblank und sauber.

Plötzlich funktioniert die Maschine von Koka, Kosinus, Sinus, blinkende Lämpchen, auf dem Dostojewskij-Teppich öffnet sich via Bulgakow-Codes ein Leonid Gaidai-Zeittunnel hinein ins 16. Jahrhundert. Gemeinsam mit dem Hausmeister Bunscha und dem Dieb Miloslawski - eine literarische Deklination von Ostap Bender - ist Koka nun im Kreml. Brave Sowjetbürger schlagen im zaristischen Russland von Iwan dem Schrecklichen auf… Alles geht drunter und drüber. Und Wassja weiß immer noch nicht, wie er seine Miete bezahlen soll… Die Zeitmaschine rattert wieder, Theaterwände lösen sich auf…

III

Stimmen sind zu hören. Rauschen. Dada. Oder Bobok. Lange vor Dada. Durch die Zeiten hindurch geht es auf eine Party. Hier sind alle bereits tot. Es ist eine Friedhofsparty der Gestorbenen. Offenbar haben sie eine Frist von drei Monaten. Sie sind tot, aber können reden. Gespenster mit Mündern. Frei nach Dostojewskij. Vielleicht plappern sie auch nur. Ein Beamter schwadroniert von Mieten und Stellenausschreibungen. Wie lange ist das her? Es waren doch nur Langweiler, wie der Kaufmann, ein typischer Mit-Bier-In-Der-Ecke-Steher, die so sprachen. Darauf eine Mädchenstimme: Nein, nein. Genau solche Leute wie der Kaufmann kommen jetzt überhaupt noch durch. So ist es, kommentiert ein Jüngling. Denn clever und unverträumt wie er war, hat er von dem kleinen Erbe seiner Großmutter eine Wohnung gekauft, drei Zimmer, Vorderhaus. Damals. Vor zehn Jahren. Und wieder das Mütterchen. Noch vor zwei Monaten, kurz bevor ihn ein Spuk vertrieb, hat er seine neu angeschaffte Küche eingeladen und von einer Maklerschätzung berichtet: eine Million ist die Butze jetzt wert. Harharhar… Ein leidenschaftlicher Philosoph und Stadtarchäologe schaltet sich ein. Er erhebt seine Stimme und spricht von Prozessen, die am Schnittpunkt Rosa-Luxemburg-Platz und Alexanderplatz im letzten Vierteljahrhundert abspulten. Nachdem im November die Unzufriedenen und Klugen im Arbeiter-und-Bauern-Staat die Mitbestimmungsgesellschaft mit ihren Füßen einforderten. Hihihihi, erklingt wieder die helle Mädchenstimme. Das ist doch Lisa, oder? Und sie übernimmt den Gedanken. Die wenig später erlangte Freiheit zeigte sich auch als die Freiheit, den Grund- und Boden, auf dem der Protest stattfand, möglichst schnell zu verscherbeln. Nach wenigen Jahren waren Eigentumsterritorien unterhalb des Fernsehturms bereits vermessen und privat verhökert. 17 Millionen guckten wie Arkadij: gerührt. Klugscheißerin, brummt jemand im Bariton. Aber Lisa unverdrossen weiter. Mit einiger Verzögerung ging das damals beschlossene Projekt in die Umsetzung; in dem Soziotop des Alexanderplatzes, das kurz und auch nur formal allen gehörte, werden bald Wohntürme im Besitz von Wenigen gebaut. Stängel des Kapitals. Von tollen Architekten. Einige zehntausend Euro Ertrag pro verkaufter Wohnraumfläche wird bspw. auf dem Gelände des Hauses der Statistik angestrebt.

Halluziniert Wassja die Stimme von der geliebten Lisa? Andere Sprachen verweben sich. Белая горячка! Белка? Weißes Fieber? Ein Eichhörnchenrausch? Aber Lisenka, plötzlich ganz erwachsen und kämpferisch immer weiter: Und von Unter den Linden über die Karl- Liebknecht-Straße rollt die andere Lawine heran: die Stiftungssitze von Versicherern und Medienunternehmen, die Showrooms von Automobilkonzernen. Auch sie arbeiten mit Künstlern zusammen, auch sie laden Professoren und Wissenschaftler ein. Sie führen öffentliche Gespräche über die Zukunft von Gesellschaft und Welt, wie einst in Akademien und wie sie manchmal auch von Theatern initiiert wurden. In den Unternehmensablegern arbeiten Menschen, mit denen ich zusammen studiert habe, die die gleichen Bücher gelesen haben, die viel im Flugzeug sitzen, die um den Planeten gereist sind… Und diese Welle, sie schlägt nun über dem Theater zusammen. Sind wir uns wirklich noch ähnlich? Lisa schüttelt Arkadij, den Schreiber. Die Differenz wird mit einem Lächeln verschüttet. Geräuschlos läuft die Produktion von Sinnschleifen am VORABEND DES TODES UND ÜBER DEN GEWITTERN. Man hört nur noch ein Wort: Bobok. Bobok. Bobok. Bobok. Bobok. Bobok… Arkadij scheint aufzuwachen und aus seiner Starre auszubrechen. Zu Lisa. Lisa, lass uns gehen, lass uns Freunde werden, mit all den Menschen von überall her, mit den Maximal-Alphabetisierten, mit all denen, die etwa am 1. Mai im Görli und am Kampftag der Arbeiter mit Bier, Haschisch und hörbar Elektrischem doch hoffentlich nur scheinbar einen völlig apathischen Eindruck hinterlassen. Lass uns mit ihnen zusammenschließen und Resistenzen bilden. Sich trauen… Vielleicht bekommen wir dann wieder einen Körper, nicht nur Stimmen…

Bobok. Bobok. Bobok. Bobok. Bobok…

Nüchterne Taghelle besetzt den Schnittpunkt von Volksbühne und Alexanderplatz, wo Stadt als Beute auf die Tendenz Staat als Beute trifft. Die Party zwischen all den Grabsteinen löst sich auf. Die Gespenster verschwinden. Lisa hat Koka tatsächlich verlassen und ist mit Arkadij durchgebrannt. Wassja ist ganz allein. Nichts hat geholfen. Er rackert den ganzen Tag, 60 Stunden die Woche, performt vielleicht gute Laune beim Burger-Verkauf. Kein Eigentum ist ihm zugefallen. Er will glücklich sein. Egal, wie es um ihn herum aussieht. Dann denkt er aber wieder an die Miete. Bis er, emotional erschöpft, zusammen sinkt. Oder aus „Dankbarkeit“ den Verstand verliert. Das Wasser wird wärmer. Der Frosch sitzt im Glas. Und lächelt.

Sebastian Kaiser

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