Volksbühne Berlin am Rosa-Luxemburg-Platz
 
Sie befinden sich hier: volksbuehne-berlin.de | Deutsch | Spielplan | Epitaph

Epitaph

Max Hopp liest Heimrad Bäcker


"Am Beginn von Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit, am Beginn von Geschichte, antwortet Kain auf die Frage, wo sein Bruder Abel sei: 'Bin ich der Hüter meines Bruders?' Die Mythologie überliefert, dass am Beginn von Zeit und Geschichte eine Vertauschung stattfindet: die Kainsche Sprachregelung. Eine Kategorie des Wohlverhaltens, nämlich Hüter zu sein, muss dazu dienen, seine Tat zu verbergen: Kain klammert sich noch in der Verneinung an eine ethische Kategorie und setzt sie für ein ganz anderes ein.
Die Sprache aus dem Souterrain der Geschichte, die Sprache der "Geheimen Reichssache", ist besetzt mit Relikten aus dem überlieferten Kanon des Wohlverhaltens, mit Begriffen des versatilen Guten. Aus dem Hüter des Bruders wird der "anständig gebliebene" Heinrich Himmler, der in grossem Stil morden liess. Durch Sprachregelung, auf die auch die unteren Chargen verpflichtet wurden, wird Mord zum "Ruhmesblatt der deutschen Geschichte". Der idealistische Duktus aus dem überlieferten idealisch-humanen Arsenal zwingt zu Sprechakten des Vertauschens. Die Begriffshöfe werden unbegrenzt erweitert, ohne dass sie platzen, während in den Höhlen des Dritten Reiches geschieht, was nur in Steigerungsformen bezeichnet werden kann als das Unglaublichste und Unerhörteste. Was geschehen ist, ist mit den Formen der Literatur, die diesseits des Schreckens entwickelt wurden, nicht zu erfassen. Und doch muss (man hat keine Wahl) eine Methode gefunden werden, die der negativen Monumentalität adäquat ist."
Heimrad Bäcker, "Dokumentarische Dichtung"

im interesse der erreichung zumal
bereits in laufenden transporten
über die vorausmassnahmen alle
erforderlichen vorbereitungen
als weitere lösungsmöglichkeit
einer gleichen auffassung
nach entsprechender vorheriger genehmigung
mit dieser endlösung
sozialpolitische notwendigkeiten
der allfällig verbleibende restbestand
unter trennung der geschlechter
mit anschliessendem frühstück
zum gegenstand einer aussprache
Am grossen Wannsee Nr. 56/58

HEIMRAD BÄCKER, * 1925 in Wien-Kalksburg. Von 1941 bis 1943 war Bäcker Volontär der Linzer „Tages-Post“, dann bis Kriegsende Mitarbeiter der HJ-Gebietsführung Oberdonau. Mit 18 Jahren wurde Bäcker in die NSDAP aufgenommen, hatte jedoch keine Parteifunktion inne; es gibt nachweislich keine Handlungen von ihm, durch die Menschen zu Schaden gekommen wären. Nach dem Krieg promovierte er über die Existentialphilosophie von Karl Jaspers (1953). Ab 1968 gab er die Zeitschrift „neue texte“ heraus. Im Komplex NACHSCHRIFT entwickelt Bäcker dokumentarische Literatur mit den Mitteln der Konkreten Poesie. Aus den Quellen der NS-Zeit nimmt er einzelne Zitate und stellt sie auf der Buchseite aus. Für sein Werk wurde der Schriftsteller vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Österreichischen Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst (1985), dem Sonderpreis für Literatur des österreichischen Bundesministeriums für Unterricht (1988), dem Förderungspreis für Film- und Medienkunst zum Kunstpreis Berlin (1990), dem Adalbert-Stifter-Preis des Landes Oberösterreich (1990). Heimrad Bäcker starb am 8. Mai 2003 in Linz.

MAX HOPP, * 1972 in Berlin, lebt als Schauspieler und Filmemacher in Berlin. Seine Arbeiten umfassen Theaterstücke, Solo-Auftritte, Vokalkonzerte, Filmschauspiel und Filmregie. Für seine schauspielerische Arbeit erhielt er den Boy-Gobert-Preis, Hamburg.

RONALD STECKEL, * 1945 auf Sylt, lebt seit 1968 als Autor, Komponist, Regisseur und Multimediakünstler in Berlin. Er veröffentlicht Essays, Stücke, Filme, Hörspiele, Kompositionen und Klanginstallationen. Er erhielt den Medienkunst-Förderpreis der Akademie der Künste.

  

Mit: Max Hopp

Textfassung und Regie: Ronald Steckel

//