„Schriftsteller spielen ja auch oft neben einer Kaffeetasse und einer Zigarette und der Schreibmaschine sie wären Schriftsteller. Ich kenne da ein paar, und das finde ich gut. Man kann den Schriftsteller ja nicht in sich selbst finden. Die das machen, die fallen einem ja vor allem wegen dem Beharren auf ihr Selbst auf die Nerven, und nicht weil sie rauchen und Kaffee trinken. Das sind doch zwei unterschiedliche Arten von Belästigungen. Nein, man könnte sagen, die mit der Kaffeetasse an der Schreibmaschine, die spielen eben, dass sie Schriftsteller sind. Und das hat dann auch wenigstens einen Ausdruck. Ich würde sagen, die nehmen ihren Beruf ernst. Und auf der anderen Seite gibt es Schriftsteller, die sind nicht ganz mit diesem Ernst bei der Sache. Die verbreiten mit einer ausdruckslosen Selbstversunkenheit einen Ernst, der eher eine Abwesenheit der Mittel ist, sich einen Zugang zur Welt zu verschaffen. Es gab doch mal ein Selbst als Mittel, um auf die Welt zugreifen zu können. Was ist denn damit passiert? Da Schriftsteller ja meist in sich selbst vertieft sind, und es ihnen schwer fällt, sich oder anderen ein klares Bild davon zu machen, woraus ihre Persönlichkeit besteht, ist das Spiel vor der Kaffeetasse und der Schreibmaschine ganz gut. Die tun wenigstens nicht so als ob. Es sind ja eher die in ihr Selbst Versunkenen, die so tun, als ob sie schreiben. Da hast du dann Selbstbesessene vor dir, die so tun als ob. Aber ohne, dass ihnen Mittel dafür zur Verfügung stehen. Man kann aber das Schreiben nicht spielen. Und weißt du, ich sah einmal eine berühmte Schauspielerin, in deren Vorstellung ich gehen wollte, Fiona Shaw, kurz vor ihrem Auftritt, vor dem Bühneneingang des Theaters aus ihrem Taxi steigen. Sie war zu spät, aber überhaupt nicht in Eile. Sie stieg aus, mit mindestens zehn Einkaufstüten, auf denen Chanel und Vuitton stand, sehr elegant, äußerst mondän. Ich selbst war der Meinung, dass für die Zigarette, die ich rauchte, schon kaum mehr Zeit war. Ich rauchte äußerst hektisch und so, aber wusste eben auch, was ich der Straße schuldig war. So wie sie eben. Ich wusste nicht, ob es sich überhaupt noch lohnte, ins Theater zu gehen. Würde ich sie da genauso erleben können, in totaler Geberlaune? Dazu ist man ja nicht immer in der Lage. Oder wann ist man überhaupt in der Lage, was zu geben, doch nicht um Punkt acht Uhr abends, wenn der Vorhang hochgeht! Ich bin natürlich trotzdem rein, und da saßen jetzt alle, gespannt auf ihren Auftritt. Und der Vorhang ging auf, in so übertriebenen Pendelbewegungen, die sich wahrscheinlich dieser völlig überschätzte Stephen Daldry ausgedacht hatte, selbst wenn es nicht seine Inszenierung war. Und da stand sie nun: Fiona Shaw. Nackt, mit hängenden Schultern und nassen Haaren, und stieß einen markerschütternden Schrei aus. Ich war natürlich vor allem beeindruckt über die Schnelligkeit ihrer Verwandlung. Über die Verwandlung, die sie beim Wechsel von der einen Bühne auf die andere vollzogen hatte. Ich mochte gar nicht wissen, wie schnell das geht, die Zeit, die sie braucht, um zu Hause aus dem Bett zu fallen und dann auf der Bühne zu stehen. Im Bett wäre sie wahrscheinlich genauso nackt gewesen, wie später auf der Bühne. Und ich hätte mich nicht weiter um den Unterschied gekümmert. Denn in derselben Aufmachung auf der Bühne zu stehen, ist natürlich etwas völlig anderes. Und was so grundverschieden aussah: die Art wie sie aus dem Taxi ausstieg und wie sie dann auf der Bühne stand, war natürlich das gleiche. Alle auf der Straße hatten ihr insgeheim gehuldigt. Natürlich formierte sich auf der Straße keine Zuschauergruppe um sie herum, aber alle sahen, von welcher Größe dieser Taxiauftritt war. Von welchem Respekt gegenüber den anderen Passanten er erfüllt war. Wäre Sie in einem Jutesack zum Bühneneingang gegangen, um sich im Austausch die nackte Haut überzustreifen, natürlich wären dann die Zuschauer, die nichts davon mitbekommen hatten, wie sie ihr Taxi verlässt, ebenso von ihrer Darstellung einer nackten antiken Frau beeindruckt gewesen. Warum auch nicht? Ihr standen ja die Mittel dafür zur Verfügung. Niemand erwartete im Theater von ihr, sie selbst zu sein. Aber leider auf der Straße. Wenn sich eine Schauspielerin noch heulend verbeugt, weil sie annimmt, sie wäre noch in der Rolle, da kann man nur sagen, nein, die war in der Rolle auch schon nur sie selbst. Das ist das Missverständnis, dass immer die Frage ist, was die Rolle mit einem gemacht hat und nicht, was man mit der Rolle gemacht hat. Eine Inszenierung auf der Straße ist eben nicht zu vergleichen mit einem selbstversunkenen Schauspieler, dessen Selbst kein Mittel mehr ist, um eine Rolle kennenzulernen, sondern vor allem sich selbst. So werden die auch dauernd befragt: ‚Was hat die Rolle mit Ihnen gemacht?’ Warum fragt man sie nicht, was sie mit der Rolle gemacht haben?“
(René Pollesch)
Spieldauer: 1 Stunde 30 Minuten
Mit: Franz Beil, Christine Groß, Birgit Minichmayr, Trystan Pütter und Martin Wuttke
Text und Regie: René Pollesch
Bühne: Bert Neumann
Kostüme: Tabea Braun
Licht: Lothar Baumgarte
Dramaturgie: Anna Heesen
Trompe l'amour (nach Balzac. Regie: Martin Wuttke)
La Cousine Bette (nach Honoré de Balzac. Regie: Frank Castorf)
Bobby Womack - Across 110th Street
Morrissey - First of the Gang to Die
AC/DC - Thunderstruck
Michel Fugain & Le Big Bazar - Nous sommes
Jerry Goldsmith - The Calling/The Neighborhood
The City of Prague Philharmonic Orchestra & Richard Hein - Melancholia: Proloque (from "Tristan und Isolde Prelude")
Don Davis - Main Title / Trinity Infinity of Matrix OST
Gérard Manset - Revivre