Volksbühne Berlin am Rosa-Luxemburg-Platz
 

Hören: Bryce Dessner, stargaze, Cantus Domus u.a.

stargaze orchestral – From Bach to Greenwood. Mit Kompositionen von Bryce Dessner, David Lang, Johann Sebastian Bach und Grateful Dead. DJ ab 19 Uhr im Rechten Seitenfoyer: Jochen Arbeit


Ein Wochenende im Dezember, eine Bühne in Berlin-Mitte und 14 Musik-Performances aus dem Spannungsfeld zwischen revitalisierter Klassik, elektroakustischem Pop und Folk markieren die Eckpunkte eines Musikfestivals, das so thrilling, so schlüssig und so diesseits eingetretener, lange nicht mehr hinterfragter Festival-Pfade liegt, dass man von einem potenziell wegweisenden Musikereignis für Berlin sprechen muss. Der Berliner Dirigent und Gründer des international renommierten und als Impulsgeber begehrten stargaze-Ensembles André de Ridder hat sich gefragt, warum es in Deutschland, zumal in Berlin, kein kuratiertes Festival im Geist des All Tomorrow’s Parties Festivals (ATP) gibt, das im Unterschied zur musikalischen Leistungsschau nach Momenten der Epiphanie, des Schlüsselreizes und der Erleuchtung sucht — und folgerichtig einen größeren, kuratierten und nicht von Kompromissen eingetrübten Spannungsbogen braucht. In der Volksbühne prallen am 11., 12. und 13. Dezember auf den ersten, flüchtigen Blick ganz unterschiedliche künstlerische Positionen aufeinander — die sich freilich bei genauerem Hinschauen als wohldurchdachte Puzzleteile eines großen musikalischen Panoramas erweisen. Das Besondere am stargaze Weekender ist dabei seine Anschlussfähigkeit an heutige Pop-Hörgewohnheiten bei gleichzeitiger Herausforderung derselben. Nicht unerwähnt bleiben darf, dass das Londoner Indielabel Transgressive Records stargaze erst vor Kurzem unter Vertrag genommen hat — aber als was? Als Band? Als klassisch zeitgenössisches Ensemble? Keiner dieser Begriffe vermag es genau zu fassen. Beyond here liegt das Unbekannte. Das vor zweieinhalb Jahren ins Leben gerufene, international in der Pop- und Elektronikwelt bestens vernetzte Kuratoren- und Musikerkollektiv stargaze tritt in wechselnden Besetzungen auf. Hofiert von Boilerroom.TV („renegade classical ensemble“) bis zum Barbican in London oder der Amsterdam Muziekgebouw, wo stargaze gemeinsam mit Terry Riley auftraten, bzw. eben nicht bloß auftraten, sondern vielmehr als Ideen- und Taktgeber fungierten, kehren stargaze im Rahmen ihres Weekenders zurück nach Berlin und führen lose Enden und bestehende Energielinien der bisherigen Interventionen konzertiert zusammen. Aber der Reihe nach. Der Freitagabend (11. Dezember) hat spirituelle Musik zum Thema — und deckt damit ein Grundbedürfnis unserer heutigen durchrationalisierten Zeit ab, die gleichsam in ihrem technokratischen Perfektionsstreben schmerzhaft die Anwesenheit einer Abwesenheit spürt. Übersetzt in die Sprache der Musik, könnte man also von einer modernen klassischen Variante der saudade sprechen, jener populären Portugiesischen Spielart der Musik, die den Verlust und die Ungreifbarkeit des Abwesenden so meisterhaft in Melodien und Stimmungen übersetzt. stargaze hat es verstanden, ein Programm zu schnüren, das sich dem Thema Spiritualität in der Musik fast schon dadaistisch nähert: Eine neu arrangierte Bach-Kantate #150, „Nach dir, Herr, verlanget mir“, bildet neben dem Stück „Grateful Dead – What's Become of the Baby“ den Kern des Eröffnungsabends — beide werden aufgeführt vom stargaze-Ensemble und Cantus Domus. Von dem Pulitzer-Preis-Gewinner David Lang wird das Stück „Death Speaks“ aufgeführt, für Sopran, Violine, Gitarre und Piano. Aus vielen Schubert-Liedern nahm Lang Worte und setzte diese zusammen zu einem neuen Libretto, zu einer Collage zum Thema Tod. Der Abend, und somit das dreitägige Fest, wird eröffnet – wie auch schon im vergangenen Jahr – durch ein Streichquartett von Bryce Dessner, das er für das „Kronos Quartett“ geschrieben hat: „Tenebrae“. De Ridder: „Tenebrae ist eine am Gründonnerstag beginnende, dreitägige Katholische Messe zu Ostern, bei der während der Predigt jeweils 15 Kerzen ausgelöscht werden, eine nach der anderen, bis es dunkel wird. Dieses Stück beschreibt diese Messe in Retrospektive, geht also zum Licht hin.“ Die übergeordnete Frage des ersten Abends lautet: Wo liegen die Quellen, wenn Spiritualität auch in der Popmusik (und –kultur) wieder zum Thema wird und neu in ihr erklingt? Der Samstagabend (12. Dezember) taucht tief in den Folk Osteuropas — und entführt das Publikum in die Welt von Bela Bartók und György Ligety (und von Jonny Greenwood). Wenn Bartóks „3 Dorfszenen“ von der Indie-Folkband A Hawk and a Hacksaw collagiert bzw. infiltriert werden, schließt sich ein Kreis, der von vielen stargaze-Veranstaltungen der letzten Jahre bereits skizziert worden ist: Denn nach de Ridders Lesart ist Bartók nichts anderes als die Ton- und Rhythmussprache des Folk in anderem Gewand. Und A Hawk and a Hacksaw aus New Mexico wiederum, die den Südosten Europas bereist haben, arbeiten ganz ähnlich wie Bartók, sie fahren in die Dörfer, lassen sich den lokalen Folk vorspielen und eignen ihn sich an. Bei stargaze und somit vor allem auch diesem Weekender geht es immer um die Durchlässigkeit von Pop und Klassik. György Ligetys Cellokonzert für Solo-Cello und ein speziell für den Abend zusammengestelltes allstargaze orchester (feat. Solistenensemble Kaleidoskop) wiederum verweist auf den internationalen Gaststar des Abends, Jonny Greenwood von Radiohead. Dieser nämlich hat stets betont, dass Ligety und Bartók prägende Einflüsse seiner Kompositionen und Filmmusiken sind. Aufgeführt wird am Freitagabend die Suite „There Will Be Blood“ zum gleichnamigen Film von Paul Thomas Anderson. Überhaupt ist dieser Abend auch noch einem weiteren Erzählstrang verpflichtet: dem Film-Score. Das Cellokonzert von Ligety nämlich ist uns aus der Popkultur vertraut, untermalt es doch den achtminütigen Einbruch in das Lagerhaus in Michael Manns Film „Heat“. Ohne, dass ein Wort gesprochen wird, hören wir in der Szene den gesamten ersten Satz Ligetys. Das erinnert an Kubrick; das Filmische und der Folk als Erzähllinien amalgamieren in einem orchestralen Rahmen. Das Finale am Sonntag (13. Dezember) widmet sich potenziell wegweisenden Kollaborationen – die sensationelle dänische Punk-Noir-Band Iceage, deren Sound dynamisch zwischen The Gun Club, den Bad Seeds und Joy Division oszilliert, wird erstmals in Berlin im ungewohnten Dialog mit stargaze performen. Der Aufeinanderprall zweier Welten verspricht ein intensives, inspirierendes Hörerlebnis, paart es doch den hypnotisch-existenzialistisch drängenden Gesang Elias Bender Rønnenfelts mit dem artifiziellen, instrumentalen Beitrag von stargaze. Es ist, als ob Alexander Kluges berühmter Satz, wonach es sich lohnt, „mit der Subway Map von Brooklyn im Harz zu orientieren“, auf die Wirklichkeit der stargaze Konzertbühne überführt wird. Kennengelernt haben sich die Musiker von stargaze und Rønnenfelt dieses Jahr beim Haldern-Popfestival. De Ridder: „stargaze ist geprägt davon, dass wir mit allen möglichen Musikern zusammenarbeiten. Deshalb stehen an diesem Abend auch The Villagers aus Irland gemeinsam mit stargaze auf dem Programm, mit denen wir auch neue Arrangements des amerikanischen Komponisten Nico Muhly spielen.“ Auch David Longstreth von den Dirty Projectors ist am Abend der potenziell wegweisenden Kollaborationen mit einem Stück für Doppelstreichquartett mit dem Titel „Michael Jordan“ dabei — der sich damit neben u.a. Felix Mendelssohn in die extrem kleine Liste derjenigen Komponisten eingetragen hat, die überhaupt für diese Besetzung Stücke geschrieben haben. De Ridder: „Er benennt seine Stücke immer nach Sportlern, die im Pop-Kontext so aufgeladen sind, dass im Zuge dessen auch etwas mit der Musik passiert. Als ob sie so anschlussfähiger wird.“ Vorhang. Eins ist somit klar. Die Zuschauer werden Zeugen einer Selbstverständlichkeit der Kontraste, Überraschungen, Wagnisse, Schlüsselerlebnisse und Herausforderungen. Der stargaze Weekender verspricht somit echtes, reines Entertainment, wenn man sich an die Ursprünge der Folk- und Popmusik, aber auch der Klassik erinnert: Nichts ist generisch, nichts ist kommerziell — was, siehe Jonny Greenwood (oder auch: siehe Bach), ja nicht bedeutet, dass es nicht auch im ganz großen Cinemascope-Kino, auf der großen Bühne der Volksbühne oder als Bote einer neuen Festivalkultur funktionieren kann. Mit dem stargaze Festival haben wir es mit dem spannendsten, erkenntnisstiftendsten und mit Sicherheit unterhaltsamsten Musikfestival dieses Herbst/Winters zu tun. Max Dax Tickets kosten pro Abend 28,- Euro bzw. 22,- Euro (ermäßigt).
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