Volksbühne Berlin am Rosa-Luxemburg-Platz
 
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Kaprow City

Eine begehbare Installation von Christoph Schlingensief


Christoph Schlingensiefs neuer animatographischer Installation an der Volksbühne ist ein Kino angeschlossen, in dem ein live produzierter und geschnittener Film gezeigt wird. Sie besteht aus zwei sich gegenläufig drehenden kreisförmigen Scheiben, auf denen sich achtzehn größere und zwölf kleinere Räume befinden, die dem Gedächtnis des nicht fürs Museum.geeigneten Erfinders des Happenings Allan Kaprow (1927-2006) gewidmet sind. Die Architektur dieses belebten und begehbaren Environment ist einem drehbaren Flakturm nachempfunden, wie er im Zweiten Weltkrieg zur Luftabwehr gebaut wurde. Das Ganze ist für vielfältigste Deutungen offen, weil es den Versuch darstellt, eine konkrete Unendlichkeit zu schaffen, in der es strukturell unmöglich ist, alle Relationen und Kombinationen zu entschlüsseln. In einem Vortrag vor Studenten und Mitarbeitern, fünf Tage vor der Eröffnung von „Kaprow City“, hat ihr Erfinder eine Erklärung geliefert, die diesen Animatographen versuchsweise als metaphysisch und biographisch aufgeladene „Filmspule“ betrachtet. Dabei ist auch die Skizze auf der Titelseite entstanden. Hier die Einführung des Vortrags, der auf dem Programmzettel vollständig nachzulesen ist. Christoph Schlingensief: Das Folgende ist der Versuch, eine Ordnung für diese Installation vorzuschlagen, die natürlich jederzeit wieder umgeworfen werden kann, weil das Material doch macht, was es will. Die Erkenntnis des letzteren verdanke ich einem filmischen Prozess, den ich in Hof durchgemacht habe, als dort 1984 mein erster Langfilm gezeigt wurde und wo, während der Film lief, das Material zerstört wurde, aber diese Zerstörung war schon im Film vorprogrammiert, war im Film angelegt, aber in dem dramaturgischen Aberglauben, dass die Zerstörung eine konstruierte ist, die im Film eine klar umrissene Funktion hat. Das heißt, und das halten wir als ersten Punkt fest: „DRAMATURGIE IST DER TOD DER AUTONOMIE.“ Dadurch, dass ich eine feste Dramaturgie vorgegeben hatte, musste der Film in einer bestimmten Abfolge auf die Zerstörung zusteuern und genau in dem Moment, wo ich die Zerstörung angelegt habe, hat sich der Film dann aber überraschender Weise selber zerstört. Das heißt, der Projektor hat das in die Hand genommen. Es war ein Film, in dem verbrannte der Film, und genau in dem Moment, wo das vorgeführt wurde, fing der Film selber an zu brennen. Im dem Moment, als der Trick kam mit der Verbrennung, hat damals der Vorführer den Projektor ausgeschaltet, weil er gelernt hatte, dass man eingreifen muss, wenn der Film Feuer fängt, weil das geht ja nicht, dass ein Film brennt. Als er dann merkte, dass der Film nicht verbrannt war, sondern dass das nur die Imitation einer Verbrennung war, ein fake, wollte er den Projektor nicht wieder einschalten. Er war eben sehr gut konditioniert. Dann ist der Film auf meine Anweisung hin aber doch wieder gestartet worden, mit dem Hinweis, dass die Verbrennung nur ein fake war. In dem Moment, wo die Fakeerklärung kam, hat sich das Ganze aber verselbständigt und der Film hat in Zusammenarbeit mit dem Projektor tatsächlich selber angefangen zu brennen. Das heißt, in diesem Moment lief der Projektor, der Film brannte wirklich und der Vorführer war weg. Und ich konnte auch nicht mehr eingreifen, weil er die Vorführkabine abgeschlossen hatte und niemand mehr an den Projektor heran kam. Das ist die Basis dieser Überlegungen: „AUTONOMIE. DRAMATURGIE. ALBTRAUM“ Laut Godard besteht ein Film aus 24 Bildern pro Sekunde. Er sagt: „24 Wahrheiten in der Sekunde“. Aber da irrt sich Godard, das sind mindestens 6 Bilder zu viel, weil der Mensch ab achtzehn Bildern, ja fast schon ab zwölf Bilder pro Sekunde anfängt, eine flüssige Bewegung zu sehen. Also bitte merken: „Ab zwölf Bilder fast flüssig, ab sechzehn Bilder ziemlich flüssig, ab achtzehn Bilder flüssig“. Aber bei 25 ist es schon so überflüssig, dass es gar nicht mehr zur Dunkelphase kommt, und die ist entscheidend. Achtzehn Bilder pro Sekunde sind richtig. Sie sind das Thema dieses Abends: „ACHTZEHN BILDER PRO SEKUNDE, ACHTZEHN HAPPENINGS IN EINER SEKUNDE“ Darum gehts. Diese achtzehn Happenings sind angeordnet in einem Kreis. Das ist die Filmspule. Diese Filmspule besteht im Mittelraum aus einer Kathedrale, die im besten Falle ein Kino ist, ein Himmelskino, oder noch besser ein „Vierkantlochkino“. Und dieses Kino hat die phänomenale Eigenschaft, dass es in der Lage ist, nach außen zu strahlen. Es kann in höhere Sphären gelangen, ist aber gleichzeitig sehr erdverbunden. Das ist der wirklich wichtige Moment, dass die Götter, die oben im Himmel angekommen sind, durch die Sehnsucht wieder herunter zu kommen, plötzlich geschrumpft werden. Das ganze System bewegt sich also von oben nach unten und schrumpft gleichzeitig zu einer Eiform. Diese Schrumpfung führt zu einer Verdichtung, und diese Verdichtung ist die Macula. Das ist der Fleck im Auge, wo das Licht gebündelt wird. Und da, wo die Macula das Licht bündelt, kann auch eine krankhafte Verbiegung stattfinden, das heißt eine langsame Erblindung. Die diagnostiziert man, indem man ein Raster aus geraden Linien anschaut und wenn dann diese Linien anfangen Wellen zu schlagen, weiß man, dass hier eine Erkrankung der Macula vorliegt, also eine Verformung, die das Licht sozusagen in seinem Auftreffen verbiegt, die Linien werden wellig und damit wird das Bild „unscharf“. Diese Unschärfe ist entscheidend für das, was wir hier machen, denn wir können nichts Scharfes entdecken, beispielsweise in Lady Diana, wir können dort keine Wahrheit entdecken, nur wellige Unschärfe. Auch in meiner eigenen Biografie habe ich bis jetzt keine Wahrheiten entdecken können. „KEINE WAHRHEIT IN MEINER BIOGRAFIE“ Und jetzt also das Himmelskino als Ort, wo die Erde und der Himmel zusammen treffen, im Vierkantloch, praktisch justiert, und außen herum im Kreis finden diese achtzehn Ereignisse statt in einer Sekunde. Und diese achtzehn Ereignisse sind ziemlich flüssig, aber doch noch ein bisschen zähflüssig, das heißt es gibt immer noch einen Eindruck von Flackern. Dieses Flackern bedeutet, hier ist immer wieder ein Bild, das die Netzhaut belichtet, die die Tendenz hat, langsam in die Unschärfe abzugleiten. Je kürzer, je heller der Lichtstrahl ist, desto schärfer wird das Bild, und dann bleibt es auf der Netzhaut hängen, geht in die Dunkelheit und die nächste Phase beginnt, geht in die Dunkelheit, die nächste Phase kommt, geht in die Dunkelheit. Und so kriegen wir hier die Bewegung, zuerst ist da ein Arm, der unten hängt, dann der Arm, der in der Mitte ist und dann die dritte Stufe, der Arm der nach oben geht. Das sind die drei Stufen, dazwischen ist Dunkelheit und diese Dunkelheit ist enorm wichtig. „OHNE DUNKELHEIT KEINE BEWEGUNG“. Christoph Schlingensief, September 2006 Premiere am 13. September 2006
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