Volksbühne Berlin am Rosa-Luxemburg-Platz
 
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Kaputt

Tour de force européenne nach Malaparte


DIE EXORBITANZ DES BÖSEN

I
Vom kubanischen Diktator Fulgencio Batista 1953 ins Gefängnis geworfen, nutzt der junge Rechtsanwalt Fidel Castro die Haft unter anderem zur Lektüre des Buches „Technik des Staatsstreichs“ von Curzio Malaparte. 2002, „während des Staatsstreich Versuches in Venezuela, leiht Castro das Buch an Hugo Chávez, damit dieser die Situation verstehen und schnell reagieren kann.“ 47 Stunden dauert es nur und Chávez sitzt – nach dem zurückgeschlagenen coup d'état der Business-Elite des Landes – wieder in seinem Präsidentensessel. (Siehe: Stacy Hardy „A brief history of presidential libraries“, in der Zeitschrift „Chimurenga“, Johannesburg 2013) Regierungen zu stürzen und Attacken auf den Staat abzuwehren – für beides hält Malapartes Staatstreich-Buch offensichtlich bis in die Gegenwart eine Art Gebrauchsanweisung bereit. Worum geht es? Aus heutiger Sicht frappierend zeitnah zu den politisch-historischen Zäsuren Anfang des 20sten Jahrhunderts – Oktoberrevolution bis Kapp-Putsch – und zunächst anhand des Antagonisten Paares Trotzki-Stalin, erläutert 1931 der damals 32 jährige Kurt Erich Suckert (so der Geburtsname Malapartes), die Überlegenheit der Trotzkischen Strategie. Nicht die überzeugten Massen, schon eine Handvoll entschlossener Ingenieure der Revolution reiche aus, um ein ganzes Land, ein Staatswesen aus den einen ideologischen Stiefeln zu heben und in andere zu stecken. Und im Verteidigungsfall müsse der Staat eben genau auf diese einige hundert Attackierer achten und die möglichen neuralgischen Ziele, die die Gesellschaftsmaschine am Laufen halten, schützen. Revolutionen, an den Rändern Europas, geschehen aktuell im Jahrestakt – Libyen, Ägypten, Tunesien, die Ukraine. Überall und über die politischen Lager hinweg, scheint die „Technik des Staatsstreichs“ verinnerlicht zu sein, von den Hauptstadtaufständen bis zur chirurgischen Invasion russischer Spezialeinheiten auf der Krim. Von Deutschland aus können wir all die Systemstürze und lokalen Kriege noch ungerührt zur Kenntnis nehmen, vielmehr aus allem unseren persönlichen Gewinn ziehen. Wir können Flüge ins Strandparadies Kuba buchen und staunen, wie dort Wirtschafts-Sanktionen nach 60 Jahren tatsächlich bei den Menschen auf der Karibik-Insel angekommen sind. Arm aber so glücklich! Vielleicht ist es ja Bedingung dafür, dass wir in unseren Friedenszentren Mitteleuropas so sorglos leben können, dass sich dafür Länder und zig Millionen Menschen an der Peripherie unser Hegemonialsphäre radikal ändern müssen? Dass sie uns ähnlicher werden? Dass sie uns ähnlicher werden wollen?

II
1941 zieht Malaparte, inzwischen bestens bekannt mit den Größen des Mussolini-Reiches, in den 2. Weltkrieg. In italienischer Offiziersuniform zunächst der Gebirgsjäger Alpini, besucht er die Fronten Ost-Europas als eine Art embedded Journalist. In seinen Berichten für die Zeitschrift Corriere della Serra wechselt der Ton des Reporters mit dem des Romanciers, sachlicher Zeitungsstil mit dem Gedicht und der lyrischen Wortmalerei. Mal ist er nah an den unmittelbaren Ereignissen des Grauens, manchmal so weit entfernt, wie der Ethnologe afrikanischer Kultur, der versucht die Eigenheiten des Schwarzen Kontinents aus der geschützten Hotelanlage mit Pool heraus zu beschreiben. An dieser Stelle entsteht die Übertreibung, das Weitererzählen von Kriegsgeschichten, die arbiträre Mythen- und Legendbildung, wie die Sauna-Anekdote über Himmlers Hodensack (verschrumpelt!) und andere nackte Nazi-Ärsche. Irgendwo im Zwischenreich von Phantasie und faktischer Erfahrung, nimmt uns Malaparte als literarischer Führer mit zu Hans Frank, dem Generalgouverneur im Krakauer Wawel, oder in die italienische Botschaft in Belgrad, wir befinden uns in der Villa des italienischen Gesandten am Wannsee, auf der Terrasse des Café Esplanada in Agram oder in der Bar Excelsior und im Golfclub von Acquasanta. In diesen Kreisen gibt es viel zu trinken, Vermouth, Cognac oder auch finnischen Schnaps und Bordsbrännvin. Gegessen wird Ausgefallenes: gebackene Bärenpfote, geräucherte Rentierzunge, Oulas-Lachs. Mit Malaparte werden wir zu Begleitern von Augustin de Foxa, dem spanischem Gesandten und von Galeazzo Ciano, dem italienischen Außenminister und Gatten von Duce Mussolinis Tochter Edda. Wir erhalten Einblicke in das Seelenleben der Hohenzollern-Prinzessin Luise von Preußen, Enkelin von Wilhelm II. und begegnen an reich gedeckten Tafeln der Fürstin Isabelle Colonna oder Fürstin Anne Marie von Bismarck. Ganz nach dem Vorbild Balzac, bilden hier der Betten-Klatsch, der Wer-Mit-Wem-Gossip eine Einheit mit dem historisch-konkreten politischen Wirken und dem Geschacher um Posten und Einfluss. Laut Salon- und Lippenbekenntnissen liegt diesen Akteuren der Zeitgeschichte eines wirklich am Herzen: die „Freiheit der Völker Europas.“ Die Nazis und Offiziere: Bei Malaparte geben sie sich als Gebildete, feiern und trinken, lachen und führen Krieg. Krieg: wie nebenbei. Der italienische Schriftsteller präsentiert uns eine ganz andere Psychologie der Faschismus-Täter, als sie später bspw. im Kontext des Eichmann-Prozesses Hannah Arendt als „Banalität des Bösen“ entwirft. Also als ein Heer von Bürokraten, die Tabellen schreiben, Züge durchs Land schicken und Menschenleben im ganz buchhalterischen Sinne ab- und zu Tode stempeln. Malaparte erzählt eher von Lust und Rausch, Sadismus und Obszönität, von der Exorbitanz des Bösen. In teilweise apokalyptisch-religiösen Beschreibungen, wie dem sprachlichen Abtasten von Gemälden von Hieronymus Bosch oder dem diesseitigen Ausloten psychologischer Randerscheinungen – mit dem Vorbild Baudelaire –, ist das Hauptwort des Buches „Kaputt“: Lachen. Es wird gelacht. Beim Bankett von Hans Frank. „Juden vergasen!“ Lachen. Frauen und Kinder, die in der Ukraine zwischen die Frontlinien von Wehrmacht und Partisanen geraten. „Erschießt sie!“ Lachen. Und auch junge verschleppte Frauen im Wehrmachtsbordell in Moldawien. Sie lachen und stoßen uns auf eine Morphologie des Lachens; bei den einen ein Lachen des Stumpfsinns und Alkoholrausches, bei den anderen ein Lachen des Abgrundes, dann der Ausweglosigkeit. Wie auf frühen Zeichnungen von George Grosz ist das Lachen hier wie dort verzerrt, eine verzweifelte Begegnung auf den eigentlichen Gehalt der Realität, die man nicht mehr in Gänze in einem Symbolrahmen fassen kann. Ein Lachen, mit dem das katastrophale Imaginäre ertragbar gemacht wird. Lachen, die letzte Verteidigung, die Welt mit einem menschlichen Ausdruck zu triumphieren, kurz vor der moralischen Kapitulation. „Kaputt“ ist in seiner bewusst auf emotionale Wirkung angelegten Dramaturgie, in seinem Szenenwechsel von Front und faschistisch-dekadentem großbürgerlichem Salon, niederschlagend. Das Grauen steigert sich von Seite zu Seite, es zieht wie eine Folterschraube immer mehr an. Die Skala des Katastrophalen hat in dem Buch einen genau bestimmbaren Grenzwert: die totale Entmenschlichung und Zerstörung des Planeten. Luzide beschreibt Malaparte die Ähnlichkeit der Arbeiterheere aus Ost (hier das Bild scheinbar selbst- und geschlechtslos kämpfender Skopzen-Soldaten) und West, funktionierend als eine Art proletarischer Kriegsmaschine. Fakten und Schauerbilder des Augenzeugen bleiben hängen. Die Verwüstung ukrainischer Dörfer, über denen die „Brandung deutscher Vergeltung zusammengeschlagen war“. Entlang des Dnjeprs verbrannte Menschen. „Die Leichen einiger aufgehängter Juden baumelten an den Ästen“. Zur Orientierung für nachfolgende Wehrmachts-Truppen werden erstarrte Leichen von Soldaten der Roten Armee als Wegweiser in den Schnee gesteckt. In der Summe erinnert der Kriegs- und Antikriegsroman „Kaputt“ daran, dass Europa mit dem Berliner Regierungsherz der Finsternis, nicht immer so demokratisch und friedlich war, wie wir es aktuell erleben. Fast vergessene Namen von Kollaborateuren, Rendezvous und Audienzen an den geographischen Rändern und den heute jüngsten EU-Mitgliedern tauchen auf. Da ist die Begegnung mit dem „Rosen“-Liebhaber Mihai Antonescu: „Er wünschte mich zu sprechen“; er „empfing mich liebenswürdig herzlich“, mit seinen „schwarzen und glänzenden Reptilaugen.“ „Ich weiß keine anderen Augen in der Welt, die einer Schlange ähnlicher sind.“ Und es folgen Beschreibungen der von der rumänisch-faschistischen „Eisernen Garde“ – teilweise in Kooperation mit deutschen Einheiten – verübten Pogrome in Iași. Oder 1941: In diesem Jahr trifft Malaparte im April Ante Pavelić: „Dieser schlichte, gute und großzügige Mann, der mit einem so feinen Empfinden für Menschlichkeit begabt war“; „ich hörte ihn gern sprechen.“ Beim Betreten seines Büros erfindet Malaparte wahrscheinlich die Geschichte mit dem Korb voll mit wie Austern glitzernder Augen der hingemetzelten Serben, die der Kroate Pavelić und seine mordende Ustascha womöglich neben seinen Schreibtisch stellen ließ. Und immer wieder Osteuropa und besonders die Ukraine: Wer erinnert sich in Deutschland noch an die jahrelang und mit maximaler Würdelosigkeit geführte Debatte der Entschädigungszahlung für die verschleppten Zwangsarbeiter? Erst in den Nuller Jahren, als kaum noch einer der als Teenager aus Galizien, den Karpaten, Kiew, der Krim oder aus dem Donbass Abtransportierten am Leben war, rangen sich der Deutsche Staat und einige Konzerne zu Reparationszahlungen durch – die dann in nicht seltenen Fällen in den Korruptionskanälen der lokalen Verteiler versickerten. Malaparte begegnet diesen „Ostarbeitern“ oder „Usnikis“ mit dem aufgestickten „Ost“ oder „P“ in den 40er Jahren in Berlin, genauer in Ruhleben. Aber auch im Rüstungsgürtel von Spandau bis Reinickendorf, montierten die Geraubten Sprengköpfe. Malaparte spricht es aus, wie das Reich diese Menschen in der unmittelbaren Nachbarschaft unserer Vorfahren behandelte: als „Sklaven“, „weiße Sklaven.“ Es ist immer der Mensch, der den Menschen Qualen und Torturen zufügt. Als Spiegel der natürlichen Unschuld, als Gegenentwurf zur barbarischen Seite der Zivilisation, stilisiert Malaparte das Leben der Tiere. In dem ihm eigenen religiösen Mystizismus, nehmen Tiere, geknechtete Kreaturen und Jesus Christus als unbetrügbare empfindende Wesen die Schuld und Sünden der Menschen gleich Heiligen auf sich und – einen Gedanken Schillers umwendend – verkörpern über ihr „zweckfreies Spiel“ Freiheit. Beim Menschen verkehre sich aber das Spiel in die dialektische Kehrseite: in die Überschreitung der Grenzen und Regeln, in die Spielverletzung, die das Potential der Ausrottung in sich trägt. Über Spin – den Hund des italienischen Gesandten in Belgrad –, grübelt Malaparte: er „war ein Jagdhund, und der Krieg ist, das wissen alle, eine Jagdveranstaltung, wo die Menschen zugleich Wild und Jäger sind; ein Spiel, wobei die Menschen, mit Gewehren bewaffnet, einander jagen.“ Alle Mechanismen der Einhegung und Kontrolle dieses Spiels versagten im 2. Weltkrieg und im Faschismus. „Weder menschliches, noch Naturgesetz gab es mehr. Die Welt war zusammengebrochen.“ Der 8. Mai 1945 war für Europa und große Teile der Welt, weniger ein Tag des Sieges, sondern eher der Beginn einer unfassbaren Bilanz des Todes.

III
Auf den Ruinen des Kaputten machen seitdem die „Tätervölker“ eine moralische Biegsamkeit durch, deren Anfänge Malaparte in dem Roman „Die Haut“ und während des Befreiungskrieges in Italien ab 1943 bezeugt und analysiert. Als Verbindungsoffizier hält er Kontakt zwischen den italienischen Behörden und den Armeen der Alliierten, vor allem mit den auf Sizilien gelandeten Amerikanern. Vivisektorisch beschreibt er, wie italienische Soldaten in Neapel die tatsächlich heiße Frontlinie, aber auch die Seiten der politischen Überzeugung wechseln. Besiegte Kämpfer der faschistischen Mussolini-Einheiten verwandeln sich in Siegende gegen die deutschen Okkupanten. Schulter an Schulter mit den Amerikanern. Nur „die Güte und Unschuld dieser prächtigen Jungens von jenseits des Atlantik, die in Europa gelandet waren, um die Bösewichter zu bestrafen und die Guten zu belohnen“ könne „die Völker wie den Einzelmenschen von ihren Sünden“ erlösen. Zuerst sind es die Italiener, die mit dieser Güte und auch dem schlicht Guten – synonym spricht Malaparte hier auch von Pest, Kaugummi oder Geld, das alle Perversionen und Gefühle bis hin zur nackten Haut in kaufbare Ware transformiert – angesteckt werden. Inzwischen sind auch wir in Deutschland, die 3. Generation der Nachkriegsgeborenen, nicht nur wirtschaftlich, sondern ebenso politisch-moralisch Note „AAA+“. Das Böse, das einst in unseren Naziköpfen steckte, hat längst die Seiten gewechselt und ist wie ein Splattereffekt in die politischen Körper anderer Nationen und Regierungen gefahren. „Auschwitz verhindern“ – diese Formel übt uns seit dem Balkankrieg auf eine postmoderne Argumentationsfigur ein, mit der von unserer Geschichte auf das politische Handeln Anderer induziert und Rechtsbruch und Krieg auch in unserem Namen legitimiert werden. Der dahinter verborgene Impuls geht von der Selbstreflexion zur Anklage, der Finger berührt nicht die eigene Nasenspitze, vielmehr streckt sich der Arm aus und zeigt heute weit nach Osten und in den Süden Europas zu den anachronistischen und militaristischen Despoten und Herrschern, die die Freiheitsrechte ihrer Bürger unterminieren. Und wir, gänzlich unschuldig, nur das Gute wollend… Unser Selbstbild scheint sich immer stärker von der uns umgebenden wirtschaftsliberalen Realität zu entfernen. Unentwegt performen wir, im Zentrum des Hedonismus lebend, Zufriedenheit und sind Träger einer affirmativen politischen Haltung. Wir sprechen von Freiheit und Demokratie, die es weltweit und universal durchzusetzen gilt; aber den ganz konkreten Maßstab unseres Handelns bildet dann nicht nur der Schutz des von uns erworbenen oder ererbten Privatbesitzes, sondern der Freund unseres Chefs, der ja bald unser Chef und Brötchengeber sein könnte. Wie immer er gerade heißen mag, wir lehnen uns an den Herrensignifikanten an und wiederholen, was man von uns erwartet. Nur keinen Stolperstein in den Karriereweg legen. Hat sich dadurch nicht auch bei uns eine Art emotionalisierter und opportunistisch orientierter Kampfbund gebildet, der den post-heroischen und transnationalen europäischen Raum ideologisch ausrichtet? Und ist auf exekutiv-politischer Ebene durch die Verbindung des Unilateralismus-Anspruchs Nordamerikas mit dem Gott des Kanzleramtes – der 1,5 Prozent Wachstumsideologie – nicht ebenso an den Grenzen des „freien“ und westlichen Europas eine von uns unheilvoll befeuerte Frontlinie entstanden? Reichen im Süden unseres Kontinents Zäune und hohe Mauern, um vor Armutseinfall aus den postkolonialen Abhängigkeitszonen zu schützen, werden im Osten nun verstärkt transatlantische Kampfverbände, die keine sonderbaren und olivgrünen Auswüchse eines folkloristischen Vereins sind, sondern das mit gewaltigem Abstand potenteste Militärbündnis der Welt, in „Werte“ und Handelszonen verteidigende Position gebracht. Der Grenzriss, von dem Heiner Müller 1989 im Nachwort zur Neuauflage von Malapartes Kriegsberichten „Die Wolga entspringt in Europa“ spricht und der die zwei jeweils von Byzanz und Rom geprägten Europas voneinander trenne (wobei „in der schwierigen Balance“ dazwischen "Polen, Ungarn, die CSSR und die DDR auf ihre eigene Geschichte" warten), hat sich in den letzten 25 Jahren weit nach Osten und aktuell über den Dnjepr hinaus verschoben. Die „Technik des Staatsstreichs“ nimmt aktuell die Funktion der Gebrauchsanweisung der Unzufriedenen in den Aufstandshauptstädten ein; sie kann aber auch gleichzeitig – in Analogie zu dem Ratschlag, den einst Castro an Chávez gab – als Lehrbuch gelesen werden, dass Schlüsselstellen der Macht und der neuen geostrategischen Grenzen vom Zentrum her verteidigt werden müssen. Unser hoch-dynamisches kapitalistisches System erledigt dies ebenso hoch-dynamisch mit einer Art Antithese Trotzkis: einer „permanenten Konter-Revolution“, die jede Auflehnung, jede wirklich fundamentale Veränderung als gleichermaßen unmöglich und auch unnötig repräsentiert. Wenn wir also etwas lernen können von Malaparte und damit dem Chronisten eines wie im Rausch in Trümmern und Tod verschwindenden westlichen Europas, dann ist es die Spiegelung der ideologischen Konstruiertheit dessen, was uns in endlose Arbeitstage und lustvolle geopolitische Selbstvergessenheit treibt: ein kompromittiertes Verständnis von Freiheit. Wir sollten uns bewusst machen, dass unser Wirtschaftssystem zum einen auf Ausdehnung basiert und einen auf Arbeit zugeschnittenen Lebensstil verlangt, der nicht selbstverständlich und genuin an die Existenz gebunden, sondern Zwilling des Effizienz-Produzierens ist. Und auch, dass wir anderen Minderheiten, mit denen wir uns so gern etwa im Ausland solidarisieren und die sich gegen die jeweiligen Autokraten und eigene Benachteiligung auflehnen, nur dann wirklich in einem emanzipatorischen Anspruch ähneln, wenn wir uns selbst bei uns zu Hause zu einer Minderheit machen und visionäre künstlerische und politische Streiche entfachen, die nicht einfach unsere moralisch-ökonomische Hegemonie und unsere Mehrheitsmeinung reproduzieren.

Sebastian Kaiser

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