Volksbühne Berlin am Rosa-Luxemburg-Platz
 
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Kokain

Frank Castorf inszeniert "Kokain" nach dem Roman von Pitigrilli


Kokain? Das ist Frank Castorfs neuer Stoff? Während die Welt sich in einem globalen Bürger- oder Guerilla-Krieg befindet, sich der Terror und der Krieg dagegen nur noch mühsam unterscheiden lassen und die Demokratie, so wie vor ein paar Jahren der Kommunismus, zunehmend als transitorische historische Gesellschaftsordnung erscheint, die unter dem Druck der von ihr selbst geschaffenen Bedingungen nicht mehr lebensfähig ist, beschäftigt man sich an der Volksbühne mit einer Modedroge aus den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts. Sollte man sich angesichts der objektiven Gefährdungen der Zivilisation im Theater nicht lieber mit wichtigen politischen Inhalten beschäftigen? Oder, wenn man dazu noch nicht bereit ist, wenigstens mit wichtigen Lebensfragen? "Allein die Rationalität der schnell arbeitenden Computerzeit, das geht nicht. Nur mit Zynismus zerbricht alles. Religiosität ist ein Anker." Mit diesen Worten hat Frank Castorf vor wenigen Monaten seine Interviewer verblüfft. "Es ist das Rauschhafte am Katholischen, das schon Bataille angezogen hat. Die Nähe von Theatralik. Und dass man eine Insel zum Ausruhen findet. Ich brauche das Wunder." Castorf beschäftigt sich mit dem Rauschhaften, mit den individuellen Transzendierungsversuchen unangenehmer bis unerträglicher Lebens- und Bewusstseinsverhältnisse durch Drogen und schließt damit unmittelbar an seine letzte Inszenierung "Forever Young" an. Das Bühnenbild des Künstlers Jonathan Meese ist ein Mittelalter und Zukunft kurzschließender Monolith. Der Roman "Kokain" stammt von dem italienischen Journalisten und Erfolgsautor mit dem Pseudonym Pitigrilli und enthält viele autobiografische Elemente. Seit seinem Erscheinen im Jahr 1922 wurde er immer wieder verboten. Kokain? Diese Droge mit dem gefährlichen Doppelcharakter, sowohl den antiökonomischen Exzess als auch das ökonomische Kalkül zu forcieren, gilt als prototypisches Stimulanz für Menschen, die etwas unternehmen, sei dies auf künstlerischem, erotischem oder wirtschaftlichem Gebiet: als Unternehmerdroge. Kokain ist, vielleicht noch vor Kaffee und Amphetaminen, die kapitalistische Droge schlechthin. Sie soll mich zu Leistungen bringen, zu denen ich eigentlich nicht fähig bin, und mir Fähigkeiten verleihen, die ich eigentlich nicht habe. Sie soll meine Anwesenheit im Jammertal verschönern, ohne dass ich es verlassen oder verändern müsste. Ihr Konsum ist gleichzeitig ein Luxusphänomen und ein Armutszeugnis und auch das ideelle Band zwischen Elite und Abschaum. Sie versetzt mich in eine Stimmung, die mich in jedweder Situation anderen überlegen wirken lässt - zumindest in meinen eigenen Augen. Aber es geht nicht um Kokain, wie es auch nicht um Alkoholismus, Sexbesessenheit und ähnliche Oberflächen des Romans geht. Kokain ist eine Metapher: "Das Kokain ist nicht das Alkaloid der Kokapflanze; es ist der süße freiwillige Tod, den wir alle mit verschiedenen Stimmen und verschiedenen Worten herbeirufen... ein Symbol für die Vergiftung, der wir alle erliegen", schreibt Pitigrilli. Die unstillbare Sehnsucht des Menschen, der sich im Schweiße seines Angesichts durchs Leben quält, nach Ruhe, nach Auflösung, nach grenzenloser Harmonie. Für den nicht religiösen Menschen ist die herrliche Welt, in der es keinerlei Probleme mehr gibt und alles eins ist mit allem, das Wunder, nur im Tod zu haben. Aber schon Heinrich von Kleist gab zu bedenken: "Nur schade, dass das Auge modert, das die Herrlichkeit erblicken soll", was ihn nicht daran hinderte, wenig später freiwillig aus dem Leben zu scheiden. Rainer Werner Fassbinder, der das Werk unbedingt verfilmen wollte, starb vorher, und zwar auf ähnliche Weise wie Tito Arnaudi, der Held des Romans. Frank Castorf bringt dieses leichtfertig witzige Stück Literatur auf die Bühne, wo der Rausch das Gegenteil ist von dem, was er vorgibt: nämlich ein von den Beteiligten diszipliniert "im Schweiße ihres Angesichts" erarbeitetes Konstrukt. Grenzen und Grenzüberschreitung. Rausch und Routine. Himmel und Hölle. Der Zwiespalt, der sich auftut, ist universell. Selbstmordattentäter und Antiterrorkrieger sind ihm genauso ausgeliefert wie Normalverbraucher und Extremsportler. Nur im Tod verschwindet er, und ein gewisser Humor lässt ihn manchmal vergessen. Carl Hegemann, 2004 Premiere am 31. Januar 2004
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