Volksbühne Berlin am Rosa-Luxemburg-Platz
 

La Cousine Bette

nach Honoré de Balzac


WER LIEBT, DER ZAHLT. DIE KOLONIEN DER LIEBE I. „Man kann die Pornokratie die zweite Weltmacht von heute nennen, denn sie kommt gleich nach dem Geld. (...) Das Leben ist ein Fest. Bravo, erwidert der Pornokrat, da wollen wir uns auch gut amüsieren, das Leben genießen und glücklich sein, d. h. wenig arbeiten, viel verbrauchen – und recht viel Geschlechtsverkehr haben.“ Tja, und wer will das nicht? Die Skepsis gegenüber den libidinösen Tendenzen der Pariser Gesellschaft, wie sie der Anarchist Pierre-Jospeh Proudhon in der Mitte des 19. Jahrhunderts formuliert, würden wir heute nicht mehr teilen. Halsbrecherisch ändert sich mit der Julimonarchie das städtische Leben in Frankreich. Balzacs Roman La Cousine Bette legt davon Zeugnis ab. Dessen Figuren – die Kurtisane Valerie Marneffe und die um sie herum seiltanzenden Männer, der Baron Hulot und der Parfümhändler Crevel – erscheinen wie Protagonisten des von Proudhon kritisierten neuen urbanen Lifestyles; sie sind, pendelnd zwischen Trieb und Konsum, großbürgerliche Prototypen eines Hedonismus, dem wir in seiner kleinbürgerlichen Variante heute auf den Party-Meilen der Metropolen weltweit begegnen. Doch selbst das Amouröse funktioniert nur in Beziehung zur Gesellschaft: „Die Liebe gilt in Deutschland für ein Ding, dessen Reinheit durch Geld besudelt und verdorben würde. Anders gesagt: Die Liebe darf nichts kosten.“ Der frühe französische Kapitalismus jedoch entwirft eine neue Regel, die da lautet: „Wer liebt, muss zahlen“ (Wolfgang Pohrt). Ist die Prostitution, diese ans Privateigentum gebundene dialektische Kehrseite der monogamen Ehe, ein klares Tauschgeschäft – Sex gegen Geld – bildet sich mit dem Kurtisanentum ein Modell heraus, das nicht nur Warenproduktion und Warenzirkulation sondern auch die Leidenschaften ins Maximum steigert. Hier schiebt sich zwischen die Lust und das Geld die Kraft namens Liebe. Sie setzt einen für die Liebenden oft ruinösen Kreislauf in Gang. Das spüren Baron Hulot und Crevel, die nicht wie der deutsche Romantiker bei Mondschein Gedichte an die Angebetete adressieren, sondern die Seele des begehrten Subjekts mit sämtlichen, sämtliche Sinne betörenden Waren zu fangen versuchen. Entsprechend der Produktpalette des frühen 19. Jahrhunderts: schnelle und vor allem große Kutschen, funkelnder Schmuck, Gemälde berühmter und noch besser teurer Meister; gern auch Immobilien und der neueste Schrei der sich gerade ausdifferenzierenden Finanzwirtschaft: Rentenpapiere, Rentenpapiere und noch einmal Rentenpapiere. Auf diesen Umsatz- und Schlachtfeldern des Kapitalismus werden Kurtisanenseele und Warenseele kurzgeschlossen. Und wie am Rand, gleich einem Kollateralschaden, da alles Geld in die Marneffe fließt, ruiniert Hulot seine Familie. Materiell und geistig, denn, „kein Geld zu besitzen ist das Schlimmste in unserer Gesellschaft“, schreibt Balzac. II. In einem anderen Steinbruch, politisch auf der anderen Seite von Balzac und auch Proudhon, hämmert Karl Marx und liest die Cousine Bette sehr genau. Detailversessen geht er in die einzelnen Figuren hinein und ortet im berühmten 18. Brumaire als zeitgenössisches Vorbild von Crevel einen gewissen Louis-Désiré Véron. Pariser Geschäftsmann, reich geworden mit Medizinpatenten, Franchise-Unternehmer der Paris Opera, mit der er das Genre der Grand Oper erfindet und ein weiteres Vermögen verdient, und schließlich Gründer und Herausgeber der Literaturzeitschrift Le Constitutionnel, in der unter anderem Cousine Bette zum ersten Mal erscheint und Balzac in tückische Verträge zwingt. Geschäftsleute wie Véron sind nach Marx mitverantwortlich für die Pervertierung der im Februar 1848 als „lumpige“ Farce wiederholten Revolution von 1789. Wie der Klassenkampf bis dahin funktionierte, ist noch ideal und in „scharfen Umrissen“ bei Balzac abzulesen, stehen Hulot und Crevel – verliebt in die gleiche Frau – für zwei sich ablösende Systeme. Der eine für das Ancien Régime, gestützt auf vererbbare Adelstitel, Postenpatronage und blaublütige Privilegien; der andere für das Gespür fürs Geschäft, den bürgerlichen Selfmade-Millionär. Geld verdrängt Blutrecht. Doch bevor Louis Napoleon Bonaparte erst die Präsidentenwahl im Dezember 1848 gewinnt und später im Staatsstreich die Monarchie restauriert, zeigt sich in der Mitte des Jahres die neue Kraft, die den Bodensatz des Bürgertums bildet und die zwei Jahre nach Erscheinen der Bette zu Barrikaden- und Straßenkämpfen führt. 3.000 werden im Zuge der Juni-Insurrektion in Paris „niedergemetzelt“, 15.000 deportiert. Diesen „Insurgenten“, diesem „Auswurf, Abfall, Abhub“ der Gesellschaft, kurz dem Proletariat, ihm allein gesteht Marx zu, künftiges Subjekt von Revolutionen zu sein. Balzac schreibt über die Unterprivilegierten nur am Rande: von den Opfern einer präzise analysierten und leicht ins Heute spiegelbaren Gentrifizeriung im Faubourg in der Nähe von Seine und Louvre. Seinen Platz sieht der Schriftsteller nicht auf den Barrikaden, sondern eher in den Salons und Betten der Reichen und Schönen. Um dort als ebenbürtig zu erscheinen, braucht er Geld. Viel Geld. Ähnlich wie später sein Nacheiferer Dostojewskij ist Balzac ein Getriebener des Zeilenhonorars, hat er meist das Geld für zukünftige, noch nicht geschriebene Bücher schon kurz nach der Vertragsunterzeichnung und mit dem ersten Vorschuss ausgegeben. Er hetzt von Gedanke zu Gedanke, von Wort zu Wort, in der Pflicht, die Fortsetzung des Feuilletonromans zu liefern – das feste Bewusstsein des Genies ist sein Motor. Diese die Nächte mit manischer Disziplin und aufgeputscht von Kaffee arbeitende Ein-Mann-Literatur-Fabrik bedient die Serie und das sich aus Abonnementkunden speisende Geschäft der Zeitungsmedien; und der Literat nutzt die Sogwirkung, die entsteht, wenn Figuren nicht nur einen Text, sondern ganze Bücher durchschreiten und durchleben. So sichert man sich abhängige Stammleser und auch Stammzahler. III. Doch Balzac kennt ein Jenseits des Geldes. Seine wirklich große Liebe, die Frau, von der er besessen ist und die er wie ein Gespenst oder Cover-Girl liebt, sieht er fast nie. Die kugelrunde, „misstrauische“ Polin Ewelina Hańska ist immer irgendwo unterwegs, meist in der Ukraine und entzieht sich seinen Avancen und Heiratsschwüren. Seinen ersten schmachtenden Liebesbrief schreibt Balzac, ohne ihr je begegnet zu sein! Das Werben dauert fast 20 Jahre. Mit der Liebe zur Hańska verausgabt sich der Schriftsteller, er ist grenzenlos und sich verzehrend. (Analog dazu ist im Roman die Tante Lisbeth, Analphabetin und wie Napoleon korsischen Blutes, in den livländischen Polen Wenceslaw vernarrt. Der Osten, das imaginierte Andere zum „herzlosen“ Westen?) Balzacs Unnachgiebigkeit und Kompromisslosigkeit in seiner Liebe zu der polnischen Aristokratin, findet in der Intensität ihre Entsprechung bei einigen seiner Figuren: die gnadenlos ihren Rachefeld umsetzende Bette, der suizidale, auf alle Leistungsforderungen pfeifende Herumlungerer und Künstler Wenceslaw, der Baron Hulot, der, egal was es kostet und was die andern sagen, auch noch mit 80 dem Küchenmädchen nachstellt. In diesen Szenen geht es bei Balzac nicht um materielle Groß- oder Kleinbürgerträume, um Luxus und Verrat, sondern er folgt – oft in pathologischen Schreibzuständen, fettleibig und in „Atemnot“, bangend verrückt zu werden – einem existentiellen, triebhaften Urgrund, so wie es später sein großer Bewunderer Dostojewskij perfektioniert. Hier ist Balzac ganz nicht-moralisierender Schreiber; Seismograph eines Lebens, das sich, unplanbar, in Richtung der soziologischen Ausnahme bewegt, wo der Mensch jede Gelegenheit, jedes noch so kleine sich auftuende Schicksalsschlupfloch nutzt und sich emotional und physisch tödlich verletzen kann. IV. Politisch streift Balzac noch eine andere, politische Großdimension. Die Geschichte Algeriens. Dieses gesegnete Fleckchen Erde, wo „Korn und Futter ohne Zutun des Menschen wachsen.“ 1830 kolonialisiert Frankreich das nordafrikanische Land. In der Cousine Bette taucht es in einem dramaturgischen Nebenstrang auf; Baron Hulot, vergreist, aber immer noch libidinös ein Wilder, hat sich durch die Geschenke für die Marneffe ruiniert und überredet den elsässischen Verwandten Fischer und Onkel der Cousine zu Veruntreuungsgeschäften in der fernen Kolonie. 120 Jahre später ist der Algerien-Franzose Albert Camus Zeuge des blutigen und zehntausende Tote fordernden Unabhängigkeitskampfes dieses Landes. Er analysiert das politische Tableau seiner Zeit als eine Verflechtung von kolonialer Schuld, nationalem Freiheitsdrang der unterdrückten Länder, Verwicklung westlicher Konsortien in die Wirtschaft der Dritten Welt und schließlich einem militärisch potenten Islamismus. In den vor allem sozialistischen Antikolonialbewegungen Mitte des 20. Jh. war letzterer allein Silhouette; mit der Re-Islamisierung des Raumes von Afrika über Persien bis nach Indonesien bekommt er heute neue Schärfe. Das häufig in offizieller Politikersprache bemühte ahistorische Vokabular kennt jedoch nur das Schema von den Guten mit Menschenrechten und den Bösen mit Terror. Dazwischen gibt es nichts und unsere Betrachtung von alldem, was im Süden Europas geschieht, lässt uns armselig und naiv aussehen, macht uns zu Gefangenen einer politischen Ideologie. Wir Pornokraten bewegen uns lieber in den uns vertrauten Räumen, tanzen, wenn wir Glück haben und dabei sein dürfen, auf den Festen der Amüsier-Meilen. Wir haben zwar nicht die Millionen des Crevel, eines russischen Oligarchen oder von BMW-Erben, doch sind wir aus dem Gröbsten raus. Staat und Familie und eben auch der vererbbare Privatbesitz sichern Sorglosigkeit. Viel haben wir nicht; und analog zur griechischen Demokratie, wo politisches Stimmrecht an Einkommen und Grundbesitz gebunden war, zu sagen und zu entscheiden ja auch nicht. Die Proleten, die noch bei Marx die revolutionäre Morgenröte verhießen, sind mit Tarifvertrag, Gartenhäuschen und geregelten Urlaub fest in die Gesellschaft eingebunden. Die Entrechteten, mögliche „Insurgenten“ sind nicht mehr in der Mitte der sozialen Gemeinschaft. Über Nordafrika treffen sie aus der Subsahara in der Festung Europa ein und stören das Argument der Freiheit, mittlerweile auch am Brandenburger Tor. Es werden immer mehr. Sebastian Kaiser
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