Volksbühne Berlin am Rosa-Luxemburg-Platz
 

Lesebühne: Christiane Neudecker "Nirgendwo sonst"

Buchpremiere


Burma, Birma, Myanmar: Mitten in der Nacht kommt er in Mandalay an, ein junger Deutscher auf der Suche nach der Dänin Sine, die er unterwegs kennengelernt und in die ihn am Tag zuvor im Zorn verlassen hat. Wir wissen nichts von ihm, nicht wie er heißt, nicht warum er wirklich in dieses Land mit den vielen Namen gekommen ist, das so betörend schön und doch so grausam von einer Militärdiktatur unterdrückt ist. Wir wissen nur, dass er Sine enttäuscht hat, dass sie sich von ihm belogen fühlt, weil er ihr eine Geschichte über sein Leben aufgetischt hat, die sich plötzlich als Lüge entpuppt: er sei einst aus der DDR geflohen, hatte er ihr erzählt, und das hatte Sine nicht nur beeindruckt, sondern sie hatte darin sogleich eine Chance gesehen, den oppositionellen Kräften im Lande Hoffnung zu geben, war er doch ein leuchtendes Beispiel dafür, dass staatliche Gewalt zu überwinden ist. Und dann entdeckte sie zufällig in seinem Pass, dass er in Köln geboren war und dass seine DDR-Vergangenheit nichts als Erfindung war. An einer einsamen Straßenkreuzung irgendwo im Hinterland hatte sie sich daraufhin von ihm getrennt, war einfach in einen abfahrenden Bus gesprungen und hatte ihn allein zurückgelassen.

Den ganzen Tag hatte er auf den nächsten Bus nach Mandalay warten müssen, war an der Kreuzung sitzen geblieben, auf seinen Rucksack gekauert, den Kopf in den Händen vergraben, den Körper über Erklärungen gebeugt, die er nicht mehr hatte loswerden können: „Versteh doch, wir sind da hineingeschlittert, ich wollte das nicht, ich hätte es dir sagen müssen, längst schon, aber ich wollte dich nicht verlieren.“ Und seitdem ist er verzweifelt auf der Suche nach der Dänin, in die er sich in den wenigen Wochen verliebt hatte, die sie gemeinsam in Burma unterwegs gewesen waren – eine Suche, die ihn von Mandalay aus quer durch das ganze Land führt. Er versucht Sine wiederzufinden, um ihr zu erklären, warum er sie angelogen hat - und dass er in Wahrheit nur aus einem Grund nach Burma gekommen ist: um eine Liebesschuld zu begleichen.

Denn der junge Deutsche fühlt sich schuldig an dem Unglück seiner Freundin, einer Regisseurin, die einst aus der DDR geflohen war und deren Lebensweg er Sine gegenüber als den seinen ausgegeben hatte. Lange vor ihm hatte die Regisseurin schon Birma besucht, und dann war sie eines Tages – versehentlich? absichtlich? - aus dem Fenster seiner Wohnung gestürzt, und seitdem liegt sie im Koma, ist nicht lebendig und auch nicht tot. Seine eigene Reise in das exotische Land ist somit für den jungen Deutschen ein Versuch von Wiedergutmachung und Abschied. Deshalb muss er die Suche nach Sine am Ende auch aufgeben, denn er darf nicht versäumen, auf den Spuren der Regisseurin in das Bergdorf zu reisen, in dem diese einst gewesen war. Dort will er das vollenden, was die Freundin damals begonnen hatte.

Unter endlosen Strapazen gelingt es ihm, in die Nähe des Bergdorfes zu gelangen. Völlig erschöpft und von Fieberkrämpfen geschüttelt, wird er von Mr. Khin, einem Einheimischen, aufgenommen und gesund gepflegt. Doch der Aufstieg in das Bergdorf selbst ist wegen der schlechten Witterungsbedingungen auf absehbare Zeit unpassierbar. Aber Mr. Khin eröffnet dem jungen Deutschen eine andere Möglichkeit, seine Mission zu erfüllen. Am Ende kann er gerade noch vor Ablauf seines Visums den Rückflug nach Hause antreten. Die Dänin Sine hat er nicht wiederfinden können. Aber vielleicht hat er einen Weg gefunden, sich mit dem Schicksal seiner deutschen Freundin auszusöhnen und möglicherweise wieder ein normales, von Schuld befreites Leben zu führen.

Christiane Neudecker, geb. 1974, studierte Theaterregie an der "Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch" in Berlin. Sie ist Regisseurin beim Berliner Künstlernetzwerk phase7 performing.arts. 2005 erschien ihr begeistert aufgenommenes Erzähldebüt "In der Stille ein Klang" in der Sammlung Luchterhand, für das ihr 2006 der Wolfram-von-Eschenbach-Förderpreis zuerkannt wurde. Sie erhielt eine Reihe weiterer Auszeichnungen, u.a. 2003 den Alfred-Gesswein-Preis und das Stipendium des Klagenfurter Literaturkurses. "Nirgendwo sonst" ist ihr erster Roman.

  

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