Volksbühne Berlin am Rosa-Luxemburg-Platz
 

Lesen: Gerd Schönfeld: Ein Cello im Berufsverkehr

Briefe an Onkel Karl 1961/62. Buchpremiere


Nach dem Erfolgstitel „SCHACKELSTERN flogen spät durch milde Lüfte, oder: Der Klassenfeind ist unter uns“ setzt Gerd Schönfeld mit dem 2. Band seine Kindheitserinnerungen an das Ostberlin der Nachkriegszeit fort – nunmehr mit Geschichten nach dem Mauerbau.

Schönfelds neues Buch sagt weiterhin mehr „über Berlin in der frühen DDR aus als manche Alltagsgeschichte […]. Dass er die Perspektive des Kindes gewählt hat, das vieles hört und sieht, aber nicht immer richtig interpretieren kann, gibt dem Buch eine enorme Spannung. Von diesem Autor will man schnell noch mehr lesen!“

Jörg Sundermeier, taz, August 2014

Tickets kosten 6,- Euro.


Das Stottern und die Macht - aus dem Nachwort von Wolfgang Engler

Die Briefe, die der 13jährige Franz seinem „Onkel Karl“ schreibt, kreisen um eine Zäsur, die den Einwohnern Ostberlins (Onkel lebt in Oranienburg) tiefer unter die Haut ging als anderen irgendwo sonst im nunmehr schroff geteilten Land. Franz wohnt im Prenzlauer Berg, von hier aus war es nur ein Katzensprung in den Westen ins Kino oder zu einer Stippvisitezu Verwandten. Nun zieht sich eine Mauer durch die Stadt und die S-Bahnbrücke an der Schönhauser Allee ist nur mehr eine Aussichtsplattform. Da steht der Junge und starrt stundenlang gen Westen, dann verstellen hohe Wände auch diese letzte Ausflucht. Bald darauf beginnt das neue Schuljahr, manche Bänke bleiben leer, die meisten Klassenkameraden fluchen wie ihre Eltern, deren Nachbarn, wie fast alle, die Franz trifft. Und er trifft viele, streift umher, schnappt Banalitäten, Neuigkeiten auf in Häusern, auf der Straße, in Kneipen und Geschäften. …

Die arbeiterliche Gesellschaft der frühen DDR, noch Schlamm der Nazijahre an so manchen Sohlen, jetzt zu aller Glück und Wohlfahrt eingemauert, und kaum einer sagt „danke“, stattdessen „packt euch!“ – in Schönfelds Retrospektive erwacht sie Satz für Satz zum Leben. Wie es in diesem Viertel in den 1960ern weiterging, hat ein Älterer aufgeschrieben: Einar Schleef in seinem „Tagebuch“. Auch er ein großer Stotterer wie Franz, dem die Floskel vom „Antifaschistischen Schutzwall“ nicht über die Lippen will. „Er hat Schwierigkeiten mit Vokalen, die am Anfang stehen“, sagt Tante Herta, bei der er aufwächst, entschuldigend zu dessen Lehrerin. „Wenn ihn der Bäcker fragt, was er will, kauft er lieber zehn Gramm
Hefe als einen Amerikaner.“ Das ist der durchgängige Ton der Briefe, und der erheitert ungemein. …

  

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