„Dass Marx und Engels das Lumpenproletariat aus der revolutionären Bewegung ausgegrenzt haben, ist die Grundlage der stalinistischen Perversion“ sagt Heiner Müller. In Russland ist es um 1900 gerade Anton Tschechow, der die Situation der Unterprivilegierten des Zarenstaates genau kennt. In der Erzählung Die Bauern von 1897 stellt der Arzt und Naturwissenschaftler Tschechow das russische Lumpenproletariat vor: Es schimpft, trinkt, ist derb und rau, analphabetisch, ungebildet, fast wie Vieh. Selbst die Hoffnung auf ein anderes Leben ist für diese Menschen ein unerreichbarer Luxus. In bis heute unveröffentlichten Kapiteln der Bauern erscheint neben dem ländlichen auch das Moskauer urbane Elend: Wohnungsnot und Prostitution, – ein Panorama der Ausgegrenzten.
Erst später, unter anderem auf der Krim, verfasst Tschechow, bereits an Tuberkulose erkrankt, die Dramen, die bis heute das Bürgerliche Theater dominieren. Die Texte zeigen eine Gesellschaft, in der der Adel weiterhin seine Privilegien genießt, und eine Oligarchie von Industriellen und Großgrundbesitzern das Land unter sich aufgeteilt hat. Versinnbildlicht ist die dadurch entstehende Starre durch die Drei Schwestern: Olga, Mascha und Irina. Sie und die Militärs, die im Haus der Prosorows verkehren, monologisieren wie in beckettscher Endzeitstimmung. Nur die Schwägerin Natascha setzt gnadenlos und in nationaler Rhetorik ihren Herrschaftsanspruch im Haus der Schwestern durch. Komik durchzieht die Szenen zwischen der Sehnsucht nach Leben und Liebe der drei und dem Pragmatismus von Natascha, wie in einem Drehbuch voller Slapsticks am Beginn der Kinoära. Nach der ersten übergefühligen Lesung der Drei Schwestern am Moskauer Künstlertheater interveniert Tschechow entsetzt: „Ich habe doch ein Vaudeville geschrieben!“
Verbunden sind Drei Schwestern und Die Bauern durch den Schlüsselsatz „Nach Moskau!“, der einmal aus der Perspektive des Proletariats, einmal aus der der Bourgeoisie formuliert ist. Im Zusammenprall der Klasse der Entrechteten mit der bürgerlichen Lethargie erscheint ein sozial-revolutionäres Potential, das Tschechow unterschwellig wie einen Ausblick auf das 20. Jahrhundert formuliert, und historische Umbrüche wie die Oktoberrevolution erahnen lässt. Tschechows Drei Schwestern werden derart von der psychologischen Aufführungspraxis befreit. Auch heute geht es nach den Erfahrungen des letzten Jahrhunderts darum, das Lumpenproletariat, „all die, die aus den herrschenden Strukturen herausgefallen sind“, zurückzugewinnen.
In Zusammenhang mit der Inszenierung "Nach Moskau! Nach Moskau!" zeigt die Volksbühne eine Auswahl von Bildern von Boris Mikhailov.
Mit: Trystan Pütter (Andrej Sergejewitsch Prosorow // Kirjak), Kathrin Angerer (Natalja Iwanowna // Fjokla / Klawdija Abramowna), Silvia Rieger (Olga), Jeanette Spassova (Mascha), Margarita Breitkreiz (Irina // Olga), Sir Henry (Fjodor Iljitsch Kulygin), Milan Peschel (Alexander Ignat Jewitsch Werschinin // Georges / Antip Sedelnikow), Lars Rudolph (Nikolai Lwowitsch Tusenbach // Nikolai Tschikildejew), Bärbel Bolle (Anfissa // Babka), Mex Schlüpfer (Wassili Wassiljewitsch Soljony), Bernhard Schütz (Iwan RomanowitschTschebutykin // Ossip), Harald Warmbrunn (Alexej Petrowitsch Fedotik // Koch des Generals Shukow), Frank Büttner (Ferapont) und Martha Fessehatzion (Sascha)
Regie: Frank Castorf
Bühne und Kostüme: Bert Neumann
Licht: Lothar Baumgarte
Musik: Sir Henry
Dramaturgie: Sebastian Kaiser
Eine Koproduktion der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz mit dem Internationalen Tschechow Theater Festival, den Wiener Festwochen und dem Goethe-Institut Moskau.