Volksbühne Berlin am Rosa-Luxemburg-Platz
 

Nekrophilie ist Liebe zur Zukunft / Nekromantik 2 / Heiner Müller ist nicht tot

Heiner Müller 82. – René Pollesch und ein Chor, Jörg Buttgereits "NEKRomantik 2 – Die Rückkehr der liebenden Toten" mit live-Musik von Monika M., André Abshagen, Julie Miess und Jens Friebe


Die Toten schafft man unter die Erde. Dort sind sie sicher verwahrt: Aus dem Grab kommt keiner wieder. Im Bewusstsein dieser Gewissheit lässt sich der Toten weihevoll gedenken. Aber Gedenken ist nicht gleich Liebe! Wer die Toten liebt, holt sie aus dem Grab. Die Lust an den Toten ist eine Lust an ihrer Vergänglichkeit und also an der Zukunft. Das ist Liebe! „Nekrophilie ist Liebe zur Zukunft. Man muß die Anwesenheit der Toten als Dialogpartner oder Dialogstörer akzeptieren – Zukunft entsteht allein aus dem Dialog mit den Toten“, schließt Heiner Müller in einem Gespräch mit Frank M. Raddatz. Dies ist das Motto der Veranstaltung zum 82. Geburtstag des deutschen Autors, der 1995 starb. Der Abend ist Auftakt einer Reihe von Veranstaltungen, in denen die Volksbühne den Dialog mit Toten aufnimmt. Gedenken ist ein Selbstgespräch, Denken entsteht im Austausch. In dem Gespräch entwirft Heiner Müller, ausgehend von einer Bilanzierung des Projekts Staatssozialismus in der DDR, eine umfassende politisch-philosophische Kritik der Situation des Menschen nach dem Zusammenbruch der staatlich organisierten Utopien am Ende des 20. Jahrhunderts. Er zeichnet eine politische Physiognomie des Jahrhunderts in einem Zug und setzt Aspekte wie Intellektuellenfeindlichkeit in Deutschland, Autonomie der Kunst, Ausgrenzung der Frau, oppositionelle Kraft religiöser Transzendenz, intime Nähe des bürokratischen Sozialismus der DDR mit dem Protestantismus, Ablösung der Politik durch die Technik, Fragen der Ökologie, der Realpolitik, sexueller Praxen usw. in immer wieder neue und verblüffende Konstellationen und schließt: „Im nächsten Jahrtausend muß es zur Allianz von Kommunismus und Kapitalismus kommen.“ René Pollesch nimmt das Gespräch zum Ausgangspunkt und Material eines Theatertexts, den er mit einem Chor auf die Bühne bringt.
Der zweite Teil des Abends ist dem gespenstischen Medium gewidmet, das die Verstorbenen wiederauferstehen lässt. Vor genau 20 Jahren hatte ein Film Premiere, der diese Auferstehung beim Wort nimmt. Jörg Buttgereits lyrischer Splatter-Klassiker NEKRomantik 2 – Die Rückkehr der liebenden Toten (D, 1991, 103 min.) erzählt die Geschichte der jungen Berlinerin Marianne, die die Leiche des kürzlich verstorbenen Robert aus dem Grab holt, um mit ihr zu leben und sie zu lieben. Bei einem Kinobesuch lernt sie den schüchternen Pornofilm-Synchronsprecher Mark kennen und ebenfalls lieben. Sie entscheidet sich für den Lebenden, vom Toten behält sie nur Kopf und Penis. Doch die Leidenschaft für die Leiche lässt sich nicht verdrängen: In einer fulminanten Liebesszene, die in barocker und romantischer Tradition Lust und Tod zusammenführt, vereint die Protagonistin ihre beiden Liebhaber. Im Moment der Tötung realisiert sich eine harmonische Ménage à trois zwischen einer Lebenden, einem Sterbenden und einem Toten.
Der Film lief nach seiner Premiere im Januar 1991 erst wenige Monate in deutschen Kinos als er bei einer Aufführung in München polizeilich beschlagnahmt wurde. Das Werk sei „Gewalt verherrlichend“ und verstoße somit gegen § 131 StGB (Gewaltdarstellung). Die Verbreitung und Aufführung des Films wird inkriminiert, Film- und Videokopien werden zerstört. „Weiterhin wird angeordnet, daß die zur Herstellung der Filme gebrauchten oder bestimmten Vorrichtungen, wie Schriften, Platten, Formen, Drucksätze, Negative oder Matritzen (Masterbänder) unbrauchbar gemacht werden.“ Eine 16mm-Kopie allerdings überlebt die Aktion. Eine minutiöse filmwissenschaftliche Analyse wird angestrengt, die „den Realismus und die Realitätshaltigkeit des Gezeigten“ diskutiert. Ab 1993 ist das Werk rehabilitiert und tritt seinen internationalen Siegeszug als lyrischer Splatterfilmklassiker an.
Zum 20. Geburtstag des Films wird Jörg Buttgereit das Werk im Großen Haus aufführen. Die Hauptdarstellerin Monika M. (Gesang, Keybord) sowie Andrè Abshagen (Gitarre, Keybord), Jens Friebe (Piano) und Julie Miess (Bass) spielen dazu eine Neuinterpretation des originalen Film-Scores live. Im Anschluss findet ein Filmgespräch mit Buttgereit, Miess und Monika M. sowie dem Filmwissenschaftler Dr. Stefan Höltgen und dem Journalisten und Schriftsteller Detlef Kuhlbrodt im Sternfoyer statt.

  

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