Nord
Eine Grandguignolade von Frank Castorf nach Louis-Ferdinand Céline
Nord
Eine Grandguignolade von Frank Castorf
nach Louis-Ferdinand Céline
Als Frank Castorf vor 15 Jahren erstmals dem Roman „Norden“ begegnet, interessiert er sich sofort für ihn: hier ist ein Autor, der den Untergang des Dritten Reiches nicht nur vom Standpunkt des Kritikers und Historikers aus objektiviert, sondern der aus der Mitte heraus die Katastrophe beschreibt. Céline, der 1932 mit seinem Romandebüt „Reise ans Ende der Nacht“ Furore macht, veröffentlicht in der Zwischenkriegszeit mit großem kommerziellen Erfolg vier antikommunistische und antisemitische Pamphlete, flieht 1944, am Ende der Besatzungszeit aus Frankreich, begleitet von seiner Frau, der schweigsamen Tänzerin Lucette, dem befreundeten Schauspieler Le Vigan und dem genügsamen Kater Bébert. Inmitten der brandenburgischen Moorlandschaft macht Célines Zug durch Europa Halt auf der Flucht durch das zusammenbrechende Dritte Reich. Auf dem brandenburgischen Zornhof verdingt er sich als Arzt und verspricht dem Reichsgesundheitsminister „Harras“ eine medizinische Abhandlung für ihn zu verfassen, der ihm dafür Protektion gewährt. Und Zugang zu seinen Schnaps-, Champagner- und Zigarettenvorräten.
Célines Position als wütender Kollaborateur macht ihn als Chronisten, der es allerdings mit der Wahrheit nicht sehr eng sieht, umso interessanter: in die literarische Stille hinein, die entstand als die überlebenden deutschen Autoren im Exil den Untergang des Dritten Reiches nur noch mittelbar erleben konnten, während die anderen aus Scham, Schrecken oder Furcht vor ihnen möglicherweise entstehenden Nachteilen verstummten, brüllt und flucht Céline ohne jede Zurückhaltung seine Flucht durch Deutschland, seinen Zorn gegen die Bombenangriffe, gegen seine Beschützer und Verfolger gleichermaßen.
Während Gedenkkultur sonst gern in Schwarz-Weiß beim allabendlichen Dokumentarfilm gepflegt, oder Hitler humoresk oder wortreich oder beides zum Pop-Opa in schlechter Gesellschaft stilisiert und als Marke etabliert wird, kann die Auseinandersetzung mit dem streitbaren Céline nicht umstandslos in der Dämonisierung oder Persiflage des Handeln der Naziführung, die vom Verhalten der Bevölkerung konsequent entkoppelt wird, münden.
Frank Castorf findet in seiner Bearbeitung und Inszenierung des Romans in der Grandguignolade eine theatralische Entsprechung für Célines Zorn, die fetzenhaften Berichte, die Sprünge im Erzählen der kaum zu erkennenden Handlung, mit der der Autor anstelle des potentiellen Stationendramas einen opulenten Irrgarten ins Kraut schießen lässt. Bruchstückhaft behaupten oder leugnen die Schauspieler ihre Existenz. Niemand will Céline sein. Jenseits psychologischer Neuinterpretationen der Hauptcharaktere des Dritten Reiches verwendet Castorf Célines physiologische Betrachtung der europäischen Schlachtfelder als Folie durch die sich die Form von Trauer und Bedrängung der Menschen im Krieg abzeichnet. Der Überdruck, der entsteht, als das System noch gerade eben aufrecht erhalten wird und der Exzess den verlierenden Machthabern als letzter Beweis ihrer Existenz gilt entlädt sich in die Inszenierung eines vielschichtigen Überlebens in der Katastrophe, eines Zusammentreffens von polnischen, russischen, französischen Kriegsgefangenen mit Dorfbewohnern, SS-Leuten und schutzsuchenden Kollaborateuren.
Dazu Castorf: „Céline schafft inmitten der extremen und schrecklichen Bedingungen der Zerstörung das Bewusstsein eines Europas in Auflösung, außerhalb staatlicher oder militärischer Hierarchie. Heute scheint es als lebten wir in Harmonie mit vielen europäischen Ländern, aber man kann sich fragen, worin die gemeinsame Qualität dieses Europas liegt, das bei Céline in Norden als Negativentwurf wie eine Vorahnung abgebildet wird, und worin die europäische Realität besteht.“