„Ich fand diesen Bombenangriff nicht besonders interessant, sagte ich zu meinem Bruder Kicki. Aber Kicki schien mir nicht zuzuhören. Mit einer unglückseligen Miene blickte er in die Richtung seines Bauches. Was hast du denn, fragte ich ihn. Ich habe, obwohl ich schon zum General ernannt worden bin, ins Bett gemacht, stammelte er, indem er die blutrote Schachtel mit dem pechschwarzen Hakenkreuz beiseite schob, seine Bettdecke hochhob und mir den großen, gelben, nassen Urinflecken auf der Mitte seines Lakens zeigte. Ungerührt betrachtete ich diesen Urinflecken. Du bist ein Bettnässer, konstatierte ich. Es ist einfach so aus meinem Pimmel herausgelaufen, stammelte mein Bruder. Ein Bettnässer darf nicht in die Partei, entgegnete ich ihm. Glaubst du, der Führer erfährt, daß ich ins Bett gemacht habe, fragte mich Kicki mit zuckenden Mundwinkeln. Der Führer erfährt alles: Der Führer weiß alles: Deswegen ist er ja unser Führer, belehrte ich ihn.
Verzweifelt begann mein Bruder, den großen, gelben, nassen Urinflecken auf der Mitte seines Lakens trockenzureiben.
Du bist selber schuld, daß du jetzt auch nicht mehr General werden darfst: Nicht einmal ein SA-Mann kann ein Bettnässer werden, erklärte ich ihm. Kann ein Bettnässer wenigstens stellvertretender Gauleiter werden, erkundigte sich Kicki bei mir. Voller Unerbittlichkeit schüttelte ich den Kopf. Ein Bettnässer kann nur KZler werden: Du kommst ins KZ: Alle KZler machen ins Bett, erwiderte ich, fest überzeugt von der Wahrhaftigkeit der Enthüllungen meiner Freundin Gaby Glotterthal, immerhin der Tochter eines Obermedizinalrates, die mir vor einiger Zeit auseinandergesetzt hatte, daß alle KZler, abgesehen davon, daß es sich bei ihnen samt und sonders um Kommunisten und somit gleichzeitig, weil alle Kommunisten Juden und weil alle Juden Kommunisten waren, um Juden handelte, Bettnässer waren. Mein Bruder fing trotz seiner Bemühung, stets HART WIE KRUPPSTAHL zu sein, zu weinen an. Wie er da schluchzend neben der blutroten Schachtel mit dem pechschwarzen Hakenkreuz auf der Mitte des Urinfleckens in seinem Feldbett hockte, bot er in der Tat ein Bild des Jammers. Ich fand sein Los zwar hart, aber unabwendbar. Kann ich deine Schachtel mit der deutschen Wehrmacht und mit unserem Führer haben, wenn du von der Gestapo abgeholt worden bist, erkundigte ich mich bei ihm.
Doch mein Bruder Kicki schüttelte nicht nur den Kopf. Vielmehr legte er obendrein schützend die Hand auf die blutrote Schachtel mit dem pechschwarzen Hakenkreuz, in der sich die deutsche Wehrmacht und unser Führer befanden. Die nehme ich mit ins KZ, entgegnete er mir, ehe er, als bestünde für ihn doch noch der Rest einer Aussicht auf Rettung, fortfuhr, den großen, gelben, nassen Urinflecken auf der Mitte seines Lakens trockenzureiben.“
Gisela Elsner, Fliegeralarm
Spieldauer: ca. 1 Stunde 40 Minuten
Mit: Joy Dorany, Yasmin El Yassini, Judith Gailer, Ann Göbel, Jonathan Kempf, Maximilian Menzel, Charlotte Polte, Josif Stavarache, David Thibaut, Alena Wagner und Pia Zessin
Regie: Silvia Rieger
Raum: Bert Neumann
Dramaturgie: Sabine Zielke
Internationale Gisela Elsner Gesellschaft
Verbrecher Verlag | Gisela Elsner
Kommentar
Der Bombendonner verspricht den Glücklosen, dass auch niemand Andres glücklich sei. Vom schrillen Gesang der Sirenen gerührt, stimmen sie ein in das Lied, das die Vernichtung der Andren bedeutet; und stimmen sie zu ihrer eignen Vernichtung im rauschhaften Kriegstaumel. Die verkehrte Logik faschistischen Traumschlafs erlaubt es zum Schein, die ganz eigene Niedertracht auszutreiben an den Anderen. Der Antisemitismus ist das Märchen über die Juden, von ihrer Ausrottung würde das Glück der Welt abhängen. Dies Märchen lebt fort und findet Anklang in den gekränkten Herzen von uns Kindern des Kapitalismus. Und solange nicht sämtlich aus den dunklen Kellern die Leichen geborgen sind, und solange der Kadavergehorsam in den Köpfen nicht gebrochen ist, droht die Geschichte mit Wiederholung.
Thomas Zimmermann