Volksbühne Berlin am Rosa-Luxemburg-Platz
 
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Professor Y

nach Louis-Ferdinand Célines "Gespräche mit Professor Y"


Céline und die Schafe Es gibt Menschen, die tun alles doppelt, die denken “A” und ihre Stimme sagt “B” – und wenn man ihnen dann auf “B” antwortet, sind sie beleidigt, weil sie doch “A” gedacht haben. Ja, es gibt Menschen, die fragen nach dem Weg und fühlen sich bevormundet, wenn man ihnen hilft. Es gibt Leute, die leben dialektisch, bei denen ist das Gegenteil immer genauso wahr, die fallen sich, redend, selber ins Wort. Die wünschen sich Gemeinschaft und ertragen die Menschen nicht, die wollen geliebt werden und finden Liebende dumm, die wollen Künstler sein und hassen den Kunstbetrieb, die reden von gewaltigen Triumphen und verirren sich im Spiegelkabinett ihrer Niederlagen. Der französische Dichter Louis-Ferdinand Céline war ein solcher Fall. Er wollte Kommunist sein, aber er schrieb ganze Bücher zur Verspottung des sozialistischen Realismus. Er wollte die Verheerungen des Kapitalismus anklagen, aber er schrieb antisemitische Manifeste, in denen er die absurdesten bürgerlichen Vorurteile bis ins Groteske steigerte. Er wollte vom Publikum gefeiert werden, aber er ließ keine Gelegenheit aus, es zu beleidigen und gegen sich aufzubringen. Er wollte ein Held der Franzosen sein, aber er tat alles, um die Grande Nation als ein Land der Kriecher, Kollaborateure, Kriminellen und Geisteskranken bloßzustellen. Von jedem, der sich nicht (wie die heutige Kritik) in den Kopf gesetzt hat, ihn vorbehaltlos zu bewundern, ist er deshalb für wahnsinnig gehalten worden - und hat seine bittere Freude daran gehabt. “Kriecher, Kollaborateure, Geisteskranke” – Sozialistischer Realismus Céline, das ist der dunkle Schatten auf dem swingenden Frankreich der Existenzialisten, das ist der übel riechende Fleck auf den Fotos Bressons. Letzthin saß ich einen Nachmittag lang mit Philippe Djian in einem Pariser Kaffeehaus, und er erzählte mir, wie er auf dem Weg zur Schule jeweils an Célines letztem Haus in Meudon vorbeikam und instinktiv den Kopf einzog; wie noch damals, in den späten 50er Jahren, Frankreich voll war von diesen zänkischen, schlecht gelaunten, emotional gestörten Überlebenden des 1. Weltkriegs, denen jedermann aus dem Weg ging, ohne ihnen helfen zu können; wie die Welt Célines, diese Millionen lebendiger Kriegstoten, diese Zombies der Grande Nation, diese Welt aus existenzieller und ideologischer Inkontinenz, wie dieses gewaltige, hasserfüllte, in den Gräben debil geschossene Kleinbürgertum – wie diese Welt erst im Mai 68 endgültig gestürmt, endgültig erobert, endgültig entmistet wurde und Céline, sieben Jahre nach seinem Tod, zum Klassiker, zum Chronisten eines Zeitalters erklärt wurde, das von Verdun bis auf die Pariser Barrikaden ein ganzes halbes Jahrhundert gedauert hatte. Nun macht es hier keinen Sinn, zum 100sten Mal den “Fall Céline” aufzurollen: Sein Werk ist das Porträt eines Mannes, der voller Hass war, eines Schriftstellers, der den Hass und den Ekel wie ein zweite, emotionalere Sprache gebrauchte – eine Sprache der rasenden Emotion, die in die richtige wie ein Teufel hinein fuhr, sie beschleunigte und zerfetzt liegen ließ. Célines biographische Taktik, das eigene Leben so unerträglich und widersprüchlich wie möglich zu gestalten, um noch die verborgensten gesellschaftlichen Frustrationssphären anzuzapfen, sich immer in nächster Nachbarschaft zum jeweils, wie er sagte, “größten vorhandenen Misthaufen” anzusiedeln – dem Grabenkrieg, dem untergehenden französischen Kolonialreich, dem faschistischen Subproletariat, dem untergehenden Dritten Reich – macht sein Leben zu einem Dokument der Widersprüche des 20. Jahrhunderts. Es reichte Céline nicht, den irre gewordenen Kapitalismus der Zwischenkriegszeit bloß theoretisch, bloß literarisch zu hassen, wie das sein ästhetischer Gegenpart, der Schöngeist Gide tat; er wollte nicht nur ein bisschen Dreck am Stecken haben, er wollte im Dreck versinken, er war die Hauptfigur all seiner Bücher: er kämpfte im sinnlosesten Krieg der Menschheitsgeschichte, er wurde lahm und halb taub geschossen, er fuhr für den Völkerbund nach Afrika, wurde Seuchenarzt, forschte in den amerikanischen Ford-Werken, wurde Kommunist, bereiste die Sowjetunion, überwarf sich dort mit jedermann und wurde genau in dem Moment Faschist, als in Frankreich die Volksfront an die Macht kam und sich auf einmal auch der dümmste Nationalist für den National-Kommunismus begeisterte. So wie er als Sozialist über das Proletariat und die Moral des “Neuen Menschen” gespottet hatte, so wie er seinen Gegenstand hassen musste, um ihn zu verstehen, so war auch Célines Variante des Faschismus schizophren. Céline verfasste bösartige antisemitische Pamphlete, denen er aber, als Anhänge, seine Doktorarbeit (eine Jubelschrift auf den jüdischen Chirurgen Semmelweis) und abstruse Ballettmanuskripte beilegte. Während er sich von den Besatzungsoffizieren feiern ließ, veröffentlichte er antideutsche Leserbriefe und machte – obwohl der Holocaust offiziell geheim gehalten wurde – mehrfach den Vorschlag, ihn, Céline, gleich gemeinsam mit den Juden zu ermorden. In den letzten Kriegstagen floh er nach Deutschland und von dort nach Dänemark, wo er als Verräter eingesperrt wurde. Zum Tode verurteilt und begnadigt, als französischer Autor inmitten der selbsternannten Résistance-Kämpfer um Sartre unmöglich geworden, kehrte er doch nach Frankreich zurück und lebte als Armenarzt im Pariser Banlieue: immerhin 12 Jahre, in denen er mit wachsender Wut den verlogenen Neoklassizismus, den schöngeistigen Humanismus der Nachkriegsjahre aus der Froschperspektive des (neben Pound) weltweit berühmtesten Kollaborateurs beobachtete. Gide, der den Krieg im deutsch besetzten Nordafrika mit Voltaire-Lektüren und auf Sektempfängen der Wehrmacht verbracht hatte, wurde der Nobelpreis verliehen. Célines Alterswerk dagegen wurde von seinem Hausverlag Gallimard an der Werbung und am Publikum vorbei in Kleinstauflagen beerdigt. “Größter vorhandener Misthaufen” – Frankreich 1915 Der Regisseur Ron Rosenberg hat nun, im 3. Stock der Berliner Volksbühne, Célines späten Interview-Roman “Entretiens avec le Professeur Y” mit Herbert Sand als Célines Alter Ego inszeniert. Mit nichts als einem Stuhl, einem Tisch und einer Pflanze auf der Bühne. Mit einem fast vorgangslosen, aber tief berührenden Video (Cornelius Onitsch), das als Tafelbild über der Szene hängt und einen leeren Schafstall zeigt, der sich am Ende der Vorführung mit eben diesen Tieren füllt. Mit vier, fünf Takten klassischer Musik. Mit eigentlich gar nichts, keinen Lichtspielereien, keinen Zitaten, keinen Theater-Aufgeregtheiten, mit rein gar nichts: kein Eiffelturm, kein Hakenkreuz, kein Pariser Jugendstil und kein Banlieue, überhaupt kein Paris und kein 20. Jahrhundert, auch fast kein Theater, keine existenzialistischen und keine postmodernen Gesten – außer einem unfassbar präsenten Herbert Sand und einem auf drei, nein vier, nein: 100 Ebenen gleichzeitig spielenden Selbsterklärungstext des einsam in Meudon vor sich hin brüllenden, des durch 1000 Ideen und Wachträume hetzenden, die üblichen Céline-”Abenteuer” erlebenden, in Hass- und Trotzfragmente zerfasernden Autors Céline. Nun: Wie haben die das gemacht? Wie haben die diesen Mann, der wusste: Ich bin der größte Schriftsteller Frankreichs und ein verblödetes, verkitschtes, verlogenes Frankreich schweigt mich tot – wie haben die diesen Schriftsteller, der gleichzeitig ein Menschenfeind war und sich nach der Liebe der Menschen, nein, viel lächerlicher: seines Lektors gesehnt hat – wie haben die diese verdammte, eingebildete, unsympathische Ratte aus Meudon, diesen Übersteigerer und Selbsterniedriger, exakt lebensgroß auf die Bühne gebracht? Wie spielt Herbert Sand einen Mann, der uns beleidigt, um geschätzt zu werden? Der seine Intelligenz und sein Herz unter allen Misthaufen begräbt, damit er sie, seine Intelligenz, seine Sprache, sein Herz besser und glanzvoller nutzen kann? Wie spielt man das: diese absichtliche Schizophrenie – ohne expressionistisch zu werden? Den Größenwahn des genialischen Verlierers – ohne nur Theatergesichter und Theaterideen aufeinander zu häufen? Wie spielt, wie inszeniert man das so menschlich, so sanftmütig bei allem besserwisserischen Zorn, dass der Zuschauer am Ende versöhnt und wie aufgehoben von der Menschlichkeit dieses doch so hinterhältigen und rachsüchtigen und auch noch ziemlich schwer verständlichen Textes aus dem Saal geht? Es gibt, wenn man sich mit Céline befasst, zwei Möglichkeiten: Man versteht ihn oder man erklärt ihn. Man lässt sich auf ihn ein oder man baut aus ihm etwas Anderes, Theatrales. Ihn als Baumaterial zu verwenden, das hat – unter anderem, unter sehr viel anderem – Castorf in seiner Inszenierung “Nord” gemacht. Rosenberg und Sand haben versucht, Céline zu verstehen. Sie haben sich, stelle ich mir vor, vor diese Textlandschaft gestellt, sie haben sich also vor diesen Text gestellt, und ihn, von ihrem eigenen Leben aus, durchquert. Castorf sieht in Céline das Besondere, das Ekelhafte, das Wunderbare, die Rubens- und Breughel-Dimension. Céline ist, das stimmt, eine Art Lautsprecher gewesen, der das Gerede seiner Zeit – der 30er, 40er, 50er Jahre: dieser Wille zur Reinheit und zur klassischen Form – laut und in ihrer ganzen tiefen Vulgarität und Gemeinheit in die Welt hinaus geschleudert hat. Und als solchen, als Stimmenimitator, als emotionales Aufzeichnungsgerät hat ihn Castorf auch benutzt. Rosenberg und Sand (und vor allem auch Onitsch) sind bescheidener. Was sie zeigen, ist die Art wie der wahre, der richtige Céline, dieser Armenarzt, dieser einst so angesehene Schriftsteller, sich selber versucht hat zu verstehen in jenen Jahren, als die beiden Edel-Moralisten Gide und Mauriac den Nobelpreis bekamen, Céline aber von aufrechten Franzosen hölzerne Särge zugeschickt wurden: von den gleichen aufrechten Franzosen, nebenbei bemerkt, die den Mythos der “Résistance” genau in dem Moment erfanden, als die Amerikaner die Wehrmacht über den Rhein trieben. Was Herbert Sand zeigt, ist die verworrene Gefühlswelt eines Mannes, der “A” sagt und “B” meint, der uns beleidigt, verspottet, fertig macht, um bei uns Erlösung zu finden, der interviewt werden und wieder berühmt sein will und doch nur Hass empfindet für seinen Interviewer; einem Mann, der es einfach nicht glauben kann, dass nicht einmal 60 Millionen Tote ausgereicht haben, um die ganz oberflächlichen, kindischen und so offensichtlichen Lügen des französischen Literaturbetriebs zu beenden. “60 Millionen Tote” – Vollversammlung der Académie Française Céline erklärt uns seine literarische Theorie; Céline tobt und erzählt uns fäkale Phantasien; Céline schwitzt, schweigt, spricht ins Leere, zetert wie ein Prolet: das alles kennt man, das alles ist gar nicht so wichtig und wird in Rosenbergs Inszenierung auch mehr oder weniger ausgeblendet. Nicht unterdrückt, nein, nicht durch irgendwelche Formalismen von der Bühne gedrängt, es ist nur nicht so wichtig. Wichtig, ja unvergleichbar sind diese Momente: Wenn Herbert Sand auf die Bühne kommt, sich steif auf die Bühne schiebt, in dieser aus allen Maßstäben gefallenen, aggressiven, überheblichen Wunderlichkeit des Célineschen Menschen zu sprechen beginnt, in einem Stummfilmkostüm, mit Stummfilmschminke, mit einer Stummfilmstimme wie aus Papier, die nur langsam und mit einer ganz leisen Distanz zur Figur an Farbe und Volumen gewinnt. Wenn er auf einmal eine Bodenklappe öffnet und springt, nur, um sofort wieder aufzutauchen – wie als Beweis der eigenen Vorläufigkeit in diesem blödsinnigen Welttheater. Und wie er sich aufbläht, wie er in sich zusammenfällt, sich gegen Gespenster verteidigt, die ganze Zeit nur Recht hat! Wie er sich immer komplexer einwebt in sein Netz aus Vorhaltungen, Rechtfertigungen, Angriffen und Literatur-Theorien, in diese Scheißhausideen, Prügeleien, Beleidigungen und Weltuntergangspläne, in denen er, Céline, natürlich immer als erster gelyncht wird vom Laufpublikum seines Traum-Theaters. Was für einen exzentrischen Ton er anschlägt, was für eine Energie und was für eine schonungslose Intelligenz er entwickelt, um sich gegen alle möglichen eingebildeten und wirklichen Feinde zur Wehr zu setzen. Und unweigerlich wird man eingesogen in diese Ekstase des Nein, in diesen unglaublichen Hass auf die Gesellschaft, die Literatur, Frankreich, Europa, in diesen Überdruss, ständig irgendwelchen Leuten Rede und Antwort zu stehen, sich verteidigen, sich anbiedern, sich erklären zu müssen – und deshalb ganz konsequent alles zu tun, um ein Paria zu bleiben. Liebt mich, aber liebt mich in meiner ganzen Verworfenheit! Herbert Sand als Céline: das ist das eine. Das zweite ist die Inszenierung. Sie ist, um es mit einem Wort zu sagen: zärtlich. Sie ist verständnisvoll, sie ist unglaublich zurückhaltend, sie drängt sich nie in den Vordergrund, sie steht, fast unsichtbar, einen halben Schritt hinter dem Schauspieler Herbert Sand. Die Inszenierung verdoppelt die ohnehin überspannte Theatralität von Célines Vorlage in keinem Moment, sie vermeidet (von einigen Ausnahmen, etwa einer Hitler-Persiflage abgesehen) jede theatrale Erklärungs- oder Verdeutlichungshaltung. Sogar wenn Herbert Sand schreit, und er schreit ab und zu, wird es nicht wirklich laut, nicht wirklich hysterisch - und Céline, dessen Bücher von der Übertreibung und der Übersteigerung, einer gewissen emotionalen Lautstärke leben, tut dieses Understatement erstaunlich gut. Was dieser Céline redet, wird von der Regie so ausdrücklich, so eindeutig und doch ohne jede existenzielle oder ironische Geste auf den, der da spricht zurückgeschrumpft, dass nicht Herbert Sand hinter Céline, sondern der Popanz Céline hinter Sand vollständig verschwindet. Es geschieht damit etwas Seltsames: Indem nichts erklärt und nichts unterstrichen wird, erscheint auf einmal, vielleicht zum ersten Mal überhaupt, ein Mensch namens Louis-Ferdinand Destouches auf der Bühne, dieser Armenarzt aus dem Pariser Banlieue, dieser Großschwätzer und aufgedonnerte Überfaschist, dieser bedauernswerte Verlierer an allen Fronten, dem soviel Gemeinheit widerfuhr und der soviel Gemeinheit in sich trug, dass die Gemeinheit zu seiner künstlerischen Methode wurde. Es ist wohl so, dass Céline mit dem “Professor Y” seine geistige Überlegenheit über seine Zeitgenossen noch einmal, ein letztes Mal fein säuberlich ableiten und vor dem Leser auftürmen wollte – ein Trash-Monument, der Zombie eines Monuments, natürlich. Aber doch ein Monument mit all seiner einseitigen Lügenhaftigkeit. Diesen rhetorischen Täuschungszusammenhang wie einen Radarschirm unterflogen zu haben, ist die nicht zu überschätzende Leistung der Inszenierung. Der Mythos Céline, dieses im großen Spaß des Mai 68 untergegangene Geister- und Gegen-Frankreich wird in Rosenbergs “Professor Y” für einmal beiseite getan, und worauf man trifft, ist ein derart vermenschlichter und präsenter und aktueller Céline, ist ein derartig intimes Kennenlernen einer literarischen Figur, dass ich mir in Zukunft diesen so berühmten und doch so unbekannten Céline als Herbert Sand werde vorstellen müssen. Als den Schauspieler Herbert Sand, als Mann im Frack und mit Stummfilmschminke, der in seinem Leben kein Glück gehabt hat und darauf besteht, dass wir von seinem Unglück Kenntnis haben. Als Mann, der sich Gemeinschaft gewünscht hat und die Menschen nicht ertrug, der Künstler sein wollte und den Kunstbetrieb hasste, der von gewaltigen Triumphen sprach und sich doch nur im Spiegelkabinett seiner Niederlagen verirrte. Herbert Sand ist ein wunderbarer, charmanter, unbeirrbarer, anstrengender, selbstverliebter, herzzerreißender Schauspieler, der unser Wissen über Céline und über das, was Menschen für sich und füreinander sein können, vergrößert und unsere Liebe zum Theater steigert. Am Ende, wenn die Bühne leer ist und die Schafe eins nach dem anderen in Onitschs Stallbild laufen und sich an der Futterkrippe aufreihen, fast wie in einer Choreographie, fast als hätte eine geheime Regie am Boden unsichtbaren Lockstoff ausgelegt, wird einem leicht ums Herz. Herbert Sand geht ab, etwas Zeit vergeht, und die Schafe trippeln ins Bild und beginnen zu essen. Von Milo Rau
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