Rechtzeitig zum Ende der letzten Spielzeit der Volksbühne, die auch Christoph Schlingensiefs zentraler institutioneller Bezugspunkt war, und pünktlich zum Beginn des Wahlkampfs für die nächsten Bundestagswahlen zeigen wir den gerade von Kathrin Krottenthaler fertig geschnittenen Film über eine der längsten Theateraktionen aller Zeiten und Schlingensiefs Ausflug in die Niederungen der Parteipolitik – basierend auf einer Fülle an weitgehend unveröffentlichtem Material von Christoph Schlingensief und Sibylle Dahrendorf.
Seine politische Partei Chance 2000 mit Wahlparolen wie „Wähle dich selbst“, „Scheitern als Chance“ oder „Rettet die Marktwirtschaft, schmeißt das Geld weg“, die er 1998 in einem Zirkuszelt gegründet hatte, war eine sich über neun Monate hinziehende Kunstaktion, die man gleichwohl bei den deutschen Bundestagswahlen im Herbst desselben Jahres wählen konnte. 56.000 Protestwähler taten das sogar und stimmten damit zum Beispiel für die „Anerkennung von Arbeitslosigkeit als Beruf“. Bei dieser Veranstaltung ließen sich Theater und Wirklichkeit selbst von Schlingensiefs Schauspielern und Teammitgliedern häufig nicht mehr unterscheiden. Viele machten von der Möglichkeit, selbst Kandidat zu werden, Gebrauch und schafften es auf den Stimmzettel. Das reichte allerdings nicht, um Kunst in Politik zu überführen, schaffte aber immerhin, die 16jährige Herrschaft Helmut Kohls zu brechen. Für Schlingensief mündete das großangelegte „Wahldebakel“ in den Versuch, einen eigenen, nicht territorial gebundenen Staat auszurufen, um die Autonomie des vom demokratischen Staat in die Politik und Bürokratie gezwungenen Künstlers wiederherzustellen und sich den diesbezüglichen Verstrickungen zu entziehen. Die Partei wurde verkauft, der „Abschied von Deutschland“ beschlossen. Seit dieser Zeit lebte Schlingensief, wo er auch war, im Exil... .
Am 27. Juni versammeln sich die Veteranen von Chance 2000 in der Volksbühne und beschäftigen sich nach der Filmvorführung mit der politischen Lage und den Chancen ästhetischer Praxis heute. Auch der Zirkus Sperlich, der Chance 2000 von Anfang an unterstützt hat, wird eine Delegation entsenden.
Konzept: Frieder Schlaich und Kathrin Krottenthaler
Montage: Kathrin Krottenthaler
Material: Sibylle Dahrendorf und Christoph Schlingensief
Produktion: Filmgalerie 451
Tickets kosten 8,- Euro bzw. 6,- Euro (ermäßigt)
Liebe Freundin, lieber Freund,
einen Jahreswechsel wie den übernächsten erlebt man nur einmal in 1000 Jahren, trotzdem wird es sein wie immer an Silvester, man nimmt sich was vor, aber es ändert sich nichts, es geht alles so weiter wie bisher. Wir sind wie Züge, die, auf Schienen gesetzt, nie oder selten entgleisen. Das ist ordentlich und beruhigend, aber auch tödlich langweilig. Die Richtung, in die wir so zwangsläufig rollen, haben wir uns nicht ausgesucht, sie ist vorgegeben, und zwar jede Kurve und jeder Stop. Und der Zielbahnhof ist, das ahnen wir schon lange, für jeden derselbe: das Grab. Dafür, dass wir in einem freien Land leben, ist das eigentlich ganz schön wenig. Wo sind denn unsere Wahlmöglichkeiten? Vielleicht werden Sie einwenden: Wir haben bei 160 TV-Programmen so viele Wahlmöglichkeiten, dass uns Hören und Sehen vergeht. Ich aber sage Ihnen, es vergehen Ihnen nicht nur Hören und Sehen, sondern auch sämtliche anderen Möglichkeiten, die in Ihnen schlummern. Die Wahl zwischen Fernsehkanälen hat den gleichen Haken wie die Wahl zwischen politischen Parteien. Sie wählen immer andere und anderes, nie sich selbst! Eigentlich komisch. Diese Gesellschaft beruht doch auf Privategoismus, warum wählt man dann nie sich selbst? Sie drücken ihre Fernbedienung oder machen Ihr Kreuzchen, Sie wählen nicht, was Sie wollen, sondern das, was andere wollen. Ja, die müssen mir aber gefallen, sonst wähle ich einen anderen (Kanal, und die Quoten fallen), werden Sie vielleicht sagen, aber das nützt Ihnen nichts. Sie können sich als König (Kunde) fühlen, um den sich alles dreht, aber in Wirklichkeit sind Sie ein Arbeitsloser, der dasitzt und zusieht, wie andere was machen.
Deutschland ist zweigeteilt, in die, die fernsehen, und die im Fernsehen. Der Mensch ist, was er tut. Wer also nichts tut als fernsehen, ist auch nichts anderes als ein Fernseher. Falls er noch arbeitet, nützt ihm das auch nichts: Die Arbeit gehört der Firma und nicht ihm. Das heißt, eigentlich ist er gar nicht da. Aber das darf nicht sein. Das Volk kann doch nicht einfach verschwinden und das wahre Leben den Kunstfiguren überlassen! Deshalb fordern wir Sie auf: gehen Sie auf Sendung! Machen Sie mal was! Was ist egal. Hauptsache, Sie können es vor sich selbst vertreten. Natürlich wird es eine Pleite werden, wenn Sie selbst was machen. Aber eine Pleite, die von Herzen kommt, ist besser als eine Million, an der Scheiße hängt. Das nächste Jahrtausend kommt, mit Ihnen oder ohne Sie. Sie haben es in der Hand! Wir geben Ihnen einige Tipps und Hinweise, etwas aus Ihrem Leben zu machen. Es ist das einzige, das Sie haben. Wir helfen Ihnen gerne. Freiheit ist, grundlos etwas zu tun, das kann gut oder böse sein. Wir haben uns diesmal für das Gute entschieden.
Ihre Chance 2000
Christoph Schlingensief und Freunde, März 1998