„Ich will eine Frau!“, brüllt der behinderte Onkel in Fellinis AMARCORD von seinem Baum in die Welt hinaus. Peinlich berührt und hilflos versuchen seine Verwandten, ihn zum Schweigen zu bewegen. Das Echo dieses Schreis hallt laut in Die Menschenliebe nach. Noch immer haben Menschen mit Behinderung kaum die Möglichkeit, ihr Begehren selbstbestimmt zu leben. Jochen muss sich verzweifelt gegen seine Schwester wehren. Die konfisziert seine Pornos und negiert seine Gefühle, denn sie weiß, dass ihr Bruder das doch gar nicht will. Sven sitzt im Rollstuhl und kann seine Bisexualität nur ausleben, wenn er dafür bezahlt. Diese Gesellschaft sieht ihre Behinderten als ewige Kinder. Unschuldig wie Adam und Eva vor dem verdammten Apfel. DIE MENSCHENLIEBE hingegen plädiert für einen gleichberechtigten Sündenfall und gibt den Protagonisten damit ihre Würde wieder.
„Es passiert ganz beiläufig im Hintergrund: eine Frau im Rollstuhl, eine Nebenfigur, lächelt und winkt. Plötzlich hebt ihr Rollstuhl ab und verlässt mit ihr die Erde. Wer es bemerkt, muss sich fragen, was hier noch dokumentarisch ist. In der Tat setzt der Film viele Zeichen, dass er zwischen Dokumentar- und Spielfilm nicht kategorisch unterscheiden will. Seine bewusste Unschärfe, die die Wahrnehmung des Zuschauers kontinuierlich auf die Probe stellt, korrespondiert auf der inhaltlichen Ebene mit seiner Verweigerung der Kategorien „gesund“ und „behindert“. Sexualität und Liebe, und damit sind wir beim Thema, wollen schließlich von allen Menschen gleich gelebt werden. Da ist zum einen Joachim, der alleine wohnt, vollkommen gesund wirkt und doch in einer Grauzone lebt: zwischen relativer Selbstständigkeit und Bevormundung, insbesondere durch seine Schwester, die seine Verliebtheit in eine Prostituierte als Anomalie abtut. Die subjektive Kamera zwingt uns in Joachims Perspektive, in die unbequeme Perspektive eines Stalkers. Sven dagegen, Protagonist des zweiten Kapitels, ist körperlich deformiert und sitzt im Rollstuhl, hat dafür aber ein außergewöhnlich stark ausgeprägtes Bewusstsein für seine Bedürfnisse, die er offen formuliert und durch männliche und weibliche Prostituierte abdeckt. Die Sehnsucht nach Liebe erfüllt sich für ihn aber nicht. Was müsste dafür geschehen? Permanent wirft der Film Fragen auf, die nur der Zuschauer selbst beantworten kann.“
Lars Meyer (dok Leipzig)
Mit: Joachim Neumann, Sven Normann, Tina Pfurr, Janin Stenzel, Björn Wunsch
Tickets kosten 8,- Euro bzw. 6,- Euro (ermäßigt).
DIE MENSCHENLIEBE (THE HUMANITARIANS) TRAILER 1 from Amerikafilm on Vimeo.
DIE MENSCHENLIEBE (THE HUMANITARIANS) TRAILER 2 from Amerikafilm on Vimeo.