In diesem Film wird man Zeuge eines Artikulationsversuches von eigentlich Unaussprechlichem. My Talk With Florence von Paul Poet ist ein wütender Film in einer seltsam gediegenen Umgebung. Die Protagonistin, die Französin Florence Burnier-Bauer, schildert darin in einem harten, genauen Deutsch ihre Lebensgeschichte, die eng mit der Kommune Friedrichshof des umstrittenen österreichischen Aktionismus-Künstlers Otto Mühl verzahnt ist. Während des Interviews sitzt sie, gekleidet in einer jugendlich wirkenden Jeansjacke in einem schweren Ledersessel, eigentlich versinkt sie fast darin. Die Stationen ihres Leidensweges sind von archaischer Wucht und auch Kinogeschichten: sexuell ausgebeutet innerhalb der Familie, ins Irrenhaus gesteckt, als sie rebelliert, hat sie lange auf der Straße gelebt, hat drei Kinder geboren und gerät dann in die Fänge der Otto Mühl-Sekte. Dort werden ihr die Kinder weggenommen und sie lebt fortan in einer Welt sexueller Gewalt, physischer und psychischer Tortur. Johannes Holzhausen an der Kamera zoomt auf sie, wieder weg, sucht immer mal wieder neue Bildausschnitte. Einmal unterbricht ein Telefonklingeln das Interview, ohne dass die Kamera ausgeschaltet wird, einmal wird ein Foto, das auf der Kommode im Hintergrund steht, von der Kamera weg drapiert, während Florence gerade davon erzählt, wie sie zuerst von ihrem Großvater, dann von ihrem Vater als Kind sexuell missbraucht wurde. Wir sind in einem Interview-Film. Der Plan war offensichtlich, ein langes Interview mit verschiedenen Bildausschnitten zu drehen, die nachher neu montiert werden sollten. Stattdessen hat der Filmemacher Paul Poet sich entschlossen, das Kameratape einfach durchlaufen zu lassen, und damit entwickelt sein Interview-Film eine unglaubliche Wucht. Die Erzählzeit des Films fällt eins zu eins mit dem Monolog von Florence zusammen, vorangetrieben durch mehr oder weniger behutsame Fragen des Filmemachers aus dem Hintergrund. Damit entsteht ein filmischer Resonanzraum von reiner Gegenwart mit dem Charme des Unfertigen, Unverschleierten. Das ist ungeheuer verstörend, weil man keine Distanz zu den Geschichten aufbauen kann und wenn es plötzlich heißt: End Of Tape One wird einem erst bewusst, dass man eine geschlagene Stunde lang ungeschönt und ungeschnitten an den Lippen dieser bemerkenswerten Frau gehangen hat. Ein weiteres Tape wird noch kommen, die Realzeit im Film macht süchtig nach mehr, Florence steigt auf wie Phönix aus der Asche.
Der Interviewfilm als Live-Konzert: Alec Empire (Atari Teenage Riot, Producer für Björk, Nine Inch Nails), Berlins Gottvater der intelligenten Electronica, Beat-Aktivist und Punkfloor-Pionier, untermalt im Stil seiner frühen Solo-Klassiker für das
Mille Plateaux-Label Paul Poets Film „My Talk with Florence”.
Kinostart am 14. Januar 2015
Tickets kosten 14,- Euro bzw. 10,- Euro (ermäßigt).
MY TALK WITH FLORENCE (Austria 2015, Paul Poet) OFFICIAL TRAILER from Paul Poet on Vimeo.