„Der gemeine Sträfling hatte die Poesie verwirklicht, von der so viele Dichter geträumt haben. Über das Phänomen einer seelischen Vaterschaft hatte er den deutschen Aberglauben vom Doppelgänger verwirklicht, was die Frauen verstehen werden, die in ihrem Leben einmal wirklich geliebt haben: sie haben ihre Seele in die des Geliebten übergehen fühlen, sie haben sein Leben gelebt, sei es nun edel oder ehrlos, glücklich oder unglücklich, ruhmlos oder glorreich gewesen.
Der kleine Spaniel ist nun tot, und man fragt sich, ob sein schrecklicher Gefährte, der Löwe, am Leben bleiben wird! Im wirklichen Leben und in der Gesellschaft sind alle Ereignisse so verhängnisvoll miteinander verknüpft, dass eines nicht ohne das andere denkbar wäre. Das Wasser des Stroms bildet eine Art flüssigen Bodens; es gibt keine Woge, so wild und hoch sie auch brandet, deren mächtiger Wasserstrahl in der Masse des Gewässers nicht wieder untergehen würde. Man möchte sehen, wo die rebellische Woge wieder im Strom versinkt und wie das Schicksal dieses wahrhaft teuflischen, doch durch die Liebe mit der Menschheit verbundenen Mannes endet?“
Anschließend an „Verlorene Illusionen“ schreibt Balzac ab 1838 bis ins Jahr 1846, vor dem Umsturz von der Monarchie in die Zweite Französische Republik, den ebenso opulenten vierteiligen Roman „Glanz und Elend der Kurtisanen“, ein Schlüsselwerk innerhalb seiner monumentalen, unvollendbaren Sittenmythologie, der „Menschlichen Komödie“.
Augenscheinlich inspiriert durch seinen Zeitgenossen Eugène Francois Vidocq, dem wohl berühmtesten Sträfling in der Pariser Geschichte, der die Seite wechselte und den Polizeiapparat grundsätzlich revolutionierte, befragt Balzac die einzig wahre authentische Identität. Er durchspielt die Option eines richtigen Lebens im falschen und entwirft neue Perspektiven materialistischer Lebensgemeinschaften.
Nach der gemeinsamen Arbeit „Glanz und Elend der Kurtisanen“ von René Pollesch nach Balzac macht Martin Wuttke nun Balzacs Sittengemälde zum Gegenstand seiner Inszenierung. Die Balzac-Trilogie der Volksbühne wird damit komplett.
Spieldauer: ca. 2 Stunden
Mit: Hendrik Arnst, Jeanne Balibar, Jasna Fritzi Bauer, Franz Beil, Maximilian Brauer, Jean Chaize und Britta Hammelstein
Regie: Martin Wuttke
Bühne und Kostüme: Nina von Mechow
Grundraum: Bert Neumann
Licht: Lothar Baumgarte
Kamera: Andreas Deinert
Video: Jens Crull
Ton: Christopher von Nathusius, William Minke
Dramaturgie: Anna Heesen
Glanz und Elend der Kurtisanen (von René Pollesch nach Balzac)
La Cousine Bette (nach Honoré de Balzac. Regie: Frank Castorf)