Volksbühne Berlin am Rosa-Luxemburg-Platz
 

Übergewicht, Unwichtig: Unform

von Werner Schwab


„Wir sind in die Welt gevögelt, aber können nicht fliegen...“

Ein Wort ergibt das andere, eine Verletzung die nächste. Sprechen ist in der Welt Werner Schwabs wie eine Körperfunktion, mal lebenswichtig, mal lebensgefährlich. Schwabs Stücke kapitulieren manchmal vor ihrer eigenen Sprache, deren Eigendynamik herkömmliche Funktionen der theatralen Kommunikation (etwa den zwischenmenschlichen Austausch oder die Beschreibung von Welt) weit hinter sich gelassen hat: „Die Sprache zerrt die Personen hinter sich her: wie Blechbüchsen, die man an einen Hundeschwanz angebunden hat.“ Was aber passiert, wenn man das Verhältnis umkehrt, den Menschen vor die Sprache stellt und damit Schwab beim Wort nimmt, mit den Radikalkomödien Ernst macht?

„Übergewicht, unwichtig: Unform“ ist ein Endzeit- und Kneipendrama, mit dem für den damals 33jährigen 1991 der Durchbruch als Dramatiker begann. In der Inszenierung des Prager Kammertheaters spielt es in einer Kneipe, die irgendwo zwischen Wien und Berlin liegen könnte. Auf den ersten Blick gewöhnliche Menschen, die auf ungewöhnliche Weise über alles andere als alltägliche Dinge sprechen. Eine klassische mitteleuropäische Schankwirtschaft, für manche Ausweg oder Asyl, für andere Schlachtfeld. Die Gesellschaft ist erlesen, der Anlass außergewöhnlich – das neue Jahr hat gerade begonnen, es ist Zeit für Vorsätze und geheime Wünsche, Zeit, um abzurechnen, einmalige Gelegenheit, Schaden anzurichten, der bedauert werden kann...ein europäisches Abendmahl beginnt: Hertas Zusammenleben mit Karli ist von Gewalt geprägt, Hasi und Schweindi debattieren über Nachwuchs, der ihnen aufgrund von Schweindis Potenzstörungen (und ihres fortgeschrittenen Alters) verwehrt bleiben wird, ein Lehrer gibt die Intelligenzbestie und sondert vorgefertigte Lebensanschauungen ab. Die resolute Wirtin harrt vorausahnend der Dinge, die da kommen werden, und wacht über Fotzi, die als Omega-Weibchen den Schuhabstreifer im sozialen Gefüge der Gäste abgibt. Einzig ein schönes Paar sitzt abseits und wird ob seiner sozialen Enthaltsamkeit und offenkundigen Zufriedenheit vom Kollektiv bald als bedrohender Fremdkörper identifiziert...

Schwabs Stücke, vor allem die sogenannten Fekaliendramen, erscheinen aus heutiger Sicht wie eine melancholische Bestandsaufnahme gegenwärtiger Werteverluste. Die jugendlich vordergründige Provokation ist nicht mehr das Thema, Schwabs Endzeit-Metaphorik hält der Zeit, die sie in mancher Hinsicht vorweggenommen hat, stand. Das Bild einer Gaststätte, in der sich zu spät gekommene Linke, unverbesserliche Gewalttäter, Prostituierte und Opferlämmer ein Stelldichein geben, um sich auf jede erdenkliche Art – Kannibalismus nicht ausgenommen – gegen Eingriffe von Außen zu schützen, beweist auch heute seine deprimierende Gültigkeit. Vielleicht deshalb, weil es nicht um einen zynischen Blick auf die Restbestände der menschlichen Gesellschaft geht. Schwab erstattet empathisch und verständnisvoll Bericht über Lebenslügen und unerfüllt gebliebene Träume. Ohne zu urteilen oder prefabrizierte Lösungen anzubieten – es bleibt dem Zuschauer überlassen, zu Gleichgültigkeit, Chauvinismus und Xenofobie Stellung zu beziehen.

Mit: Jiri Cerny, Martin Finger, Vanda Hybnerová, Daniela Kolárová, Stanislav Majer, Gabriela Mícová, Dana Poláková, Jirí Strébl und Roman Zach

Regie und Bühne Dušan David Parizek
Kostüme Kamila Polívková
Musik Jukebox
Licht Jirí Kufr

Premiere 18. Januar 2008 in Prag.

Gastspiel des Prager Kammertheaters. In Zusammenarbeit mit dem Festival tschechischer Kunst und Kultur „Prag-Berlin“. Gefördert durch den Deutsch-Tschechischen Zukunftsfonds und das Staatsministerium für Kultur der Republik Tschechien.

Das Prager Kammertheater spielt seit 2002 im historischen Theaterbau Divadlo Komedie, unweit des Prager Wenzelsplatzes beschäftigt sich mit der mitteleuropäischen Dramatik und Literatur von der Moderne bis zur Gegenwart, den Schwerpunkt bilden vor allem Erst- und Uraufführungen tschechischer und deutschsprachiger Texte.

  


Regie: Dusan David Parízek

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