„Bernie Sanders war der erste Präsidentschaftskandidat der US-Geschichte, der sich offen für eine sozialistische Revolution aussprach und damit der populärste Kandidat wurde.“ Wenn man 30 Jahre nach dem Ende des Sozialismus im Osten einen Satz wie diesen in der Zeitung liest, ist man schon etwas perplex. Und wenn man liest, was Boris Groys, der seit einigen Jahren in New York als Professor arbeitet, im gerade erschienenen „Castorf“ - Arbeitsbuch über das Ende der kulturtragenden Mittelschicht in den Vereinigten Staaten sagt, kapiert man sofort die Tragweite. Während in unseren Breiten „Helikopter-Eltern“ zur Verbesserung der Karrierechancen ihre Kinder bereits mit zwei Jahren Fremdsprachen lernen lassen und „panisch“ an deren Hochqualifizierung arbeiten, um sie für den globalen Konkurrenzkampf fit zu machen, stellt Groys fest, dass „in der amerikanischen Wirtschaft die Prozentzahl der unqualifizierten Kräfte ständig steigt und die Zahl der qualifizierten Kräfte ständig abnimmt“. Denn alles, was Qualifikation verlangt, wird in andere Länder verlagert, in denen qualifizierte Fachkräfte weniger Geld bekommen als hier. Das simple und unvermeidliche ökonomische Gesetz, Arbeitskosten niedrig zu halten, führt dazu, dass nur noch die zumeist „einfachen“ Dienstleistungsjobs, die sich nicht verlagern lassen, im Land bleiben und dass an die Stelle der Mittelschicht ein Dienstleistungsprekariat tritt, das sich die in den USA privat zu finanzierende Ausbildung der Kinder genauso wenig leisten kann wie eine Krankenkasse oder eine Absicherung im Alter. In dieser Situation des Marktversagens haben sozialstaatliche und sozialistische Ideen Konjunktur. Die Mittelschicht, die ökonomisch keine Chance hat, soll, so steht es in Bernie Sanders Programm, künstlich durch staatliche Maßnahmen am Leben gehalten oder wiederbelebt werden, nicht um den Kapitalismus abzuschaffen, sondern um seine Rahmenbedingungen zu erhalten...
Auch bei uns kann man sich dem stummen Zwang der ökonomischen Logik nicht entziehen, auch bei uns wird es mit der entsprechenden Zeitverzögerung die gleichen Phänomene geben. Auch, wenn die wirtschaftliche Lage angeblich nie besser war als heute und das Lohnniveau in Deutschland traditionell niedrig ist, qualifizierte Arbeit wird einfach zu teuer. In Vietnam, China oder Indien kostet die gleiche Arbeit nicht mal 10% dessen, was hier bezahlt wird. Welcher verantwortungsvolle Unternehmer kann es sich leisten, auf solche enormen Einsparungsmöglichkeiten auf Dauer zu verzichten und damit mutwillig seine Konkurrenzfähigkeit zu schwächen? Die qualifizierte Mittelschicht, der Kern unserer Gesellschaft und ihrer Kultur, ist ökonomisch nicht zu retten. Und deshalb steht 30 Jahre nach der Wende der Sozialismus wieder auf der Tagesordnung, der immer schon dazu da war, den Kapitalismus am Leben zu halten. Diesmal kommt er nicht aus dem Osten, sondern aus dem Westen, nicht aus den Weiten eines russischen Feudalreichs, sondern aus dem Land des am weitesten entwickelten Kapitalismus.
Unser Versuch, Bernie Sanders kurzfristig in die Volksbühne einzuladen, um seine revolutionäre Bewegung auch hier im Mutterland des Sozialismus vorzustellen und zu diskutieren, ist angesichts der Turbulenzen des amerikanischen Wahljahres gescheitert.
Deshalb wird diese Veranstaltung auf 2017 verschoben. Das wird ihre Aktualität nicht mindern. Außerdem wird durch die Verlegung eine Überschneidung mit der ähnlich gelagerten Veranstaltung „Tacit Futures“ vermieden, auf der der berühmte kanadische Philosoph und Deleuze-Übersetzer Brian Massumi fragt: „Who controls the Movements?“ (20 Uhr, 3. Stock).