Geschichten aus dem Wiener Wald
Christoph Marthaler inszeniert Ödön von Horváth
Christoph Marthaler inszeniert „GESCHICHTEN AUS DEM WIENER WALD“
„Man lacht vor so viel trauriger Zoologie“, schrieb ein Kritiker nach Uraufführung der „Geschichten aus dem Wiener Wald“ in Berlin 1931. Geschichten von Deklassierten, von abgestürztem Mittelstand, von Menschen im sozialen Niemandsland mit starker Familienideologie. Ödön von Horvath schrieb von diesen traurig-komischen Überlebensversuchen Ende der 20er Jahre, einer Zeit der großen Wirtschaftskrise, der Verarmung, in der viele nach dem Ersten Weltkrieg sozial funktionslos und überflüssig Gewordene ein Wählerpotential der Nazis bildeten. Die sozialen Phänomene der 20er Jahre sind erstaunlich aktuell. Horvath schrieb dieses Stück zwischen Berlin und Wien. Wienerisch an seinen Figuren ist außer dem Wiener Idiom vor allen Dingen die Zeit, die sie haben oder sich lassen, ihr Fatalismus, ihre Gelassenheit, und dass sie ohnehin lieber lassen als tun. Man sollte dieses gegen das Wiener Volksstückgenre geschriebene Volksstück zwischen den Orten und zwischen den Zeiten lassen.
Anna Viebrock hat für Christoph Marthalers Inszenierung an der Volksbühne einen dementsprechenden Raum erfunden: Ein Hof in Marzahn, eine geschlossene Berliner Gaststätte und der geöffnete Eingang ins Wiener Belaria Kino, wo die alten Leute sitzen und immer nur die Filme aus der Vergangenheit laufen, in denen die Rittmeister vorkommen aus einem Leben, das es auch Ende der 20er Jahre in Wien gar nicht mehr gab. Auch im heutigen Berlin wird ja gerne an früher gedacht mit Verklärung, und egal, ob damit für die einen eine geträumte DDR und für andere ein nie erlebtes Preußen gemeint sind: man flüchtet, weil man sich in der Gegenwart nicht zu Hause fühlt, weil man Angst hat und weil man immer nicht richtig dabei sein kann beim Leben. In Horvaths anderem großen Volksstück „Kasimir und Karoline“ sehnen sich die Menschen nach der Zukunft, nach Zeppelinen, Achterbahnen, Vergnügungsindustrien, die ferne Länder imaginieren, im „Wiener Wald“ sehnen sie sich nach nicht weniger imaginären Vergangenheiten: Vor allem nach einem Heimatgedanken, kulturellen Werten und Religion.
Das Wort „Wien“ könnte man immer durch Heimat und Heimatgedanken ersetzen, fast wörtlich in den heutigen NPD-Manifesten nachzulesen. Im Grunde sehnen sie sich nach dem Tod, ohne es zu wissen, wobei sie aber viel trinken, vögeln oder davon reden, uneigentlichen Verdrängungskitt von sich geben, sich benebeln, moralisieren und ein kleines Kind umbringen. Sie sind beschränkte Menschen, die sich deshalb an alle Gegebenheiten irgendwie anpassen, sich abfinden, klug zu sein glauben. „Nichts gibt so sehr das Gefühl der Unendlichkeit wie die menschliche Dummheit“ hat Horvath über sein Stück geschrieben. Die Dummheit, die uns immer wieder daran hindert, unsere Lage einzuschätzen. Im Selbstbetrug lässt es sich aushalten – vorübergehend. Man kann sogar einen diffusen Gemeinsinn akklamieren, indem man jeden andern als möglichen Konkurrenten wegwünschen muss. „Die verwirrten Sätze seiner Personen erschrecken mich; die Modelle der Bösartigkeit, der Hilflosigkeit, der Verwirrung in einer bestimmten Gesellschaft…“ schrieb 1968 Peter Handke über Horvath, den er lieber mochte als Brecht. „… ihre Eintracht auf Basis boshafter Geringschätzung, ihre enge, liebevolle Verbundenheit durch den Kitt wechselseitiger Missachtung.“
Stefanie Carp, 2006
Premiere am 30. November 2006