Wenigstens 200000 Berliner seien zu beseitigen, fordert Brecht im Juni 1931, am Strand von Le Lavandou: „200000 in fünf Tagen, und sei es auch nur, weil man damit Leute hineinzieht“. So protokolliert Walter Benjamin einen Beitrag Brechts zur Frage, wie das Berliner Proletariat im Klassenkampf zu einen wäre. Die Erweiterung des Kunstbegriffs auf einen Massenmord mag ein Privileg des Intellektuellen sein, die Geschichte zeigt auch, daß alles, was gedacht wird, auch getan werden wird irgendwann. Ein anderer Gesprächsgegenstand im Sommer 31 an der Côte d’Azur: das Wohnen. Brecht und Benjamin entwickeln Wohn-Theorien. Jedes Wohnen hat seine sozial determinierten Gewohnheiten, seinen Gestus. Es sind Mietwohnverhältnisse, die untersucht werden – der Eigentümer einer Wohnung wohnt in einem anderen Bewußtsein als der Mieter. Daß man einen Menschen mit einer Wohnung erschlagen kann wie mit einer Axt, hat Heinrich Zille um 1900 gewußt. Auch durch Wohnverhältnisse lassen sich Leute beseitigen. Wohnen muß man sich erobern. Wohnen ist lernbar und darstellbar. Die Würde des Wohnenden ist antastbar – es gibt kein Grundrecht auf Wohnen. Wohnen in der öffentlich-rechtlichen Anstalt Theater ist verboten, unter den Anführungszeichen der Kunst aber darstellbar. Auch ein deutsches Stadttheater wird gemietet und man zahlt dafür. Ein Theater wird bewohnt wie jede Arbeitsstätte, an der ein Mensch mehr Zeit verbringt als zuhause. Kunst kann sich schwer nach Arbeitsstunden richten; daß sie Arbeit ist und Arbeit macht, ist unumstritten und im Theater gegen Eintritt zu betrachten. „Berlin-Arbeit“ heißt ein Programm der Politik, mit dem die Arbeitslosenzahl in der Hauptstadt unter 200000 zu drücken sein soll. 216103, sagt die Politik, sind es im März 2013, Künstler eingeschlossen, sie müssen draußen und zuhause bleiben. Ich kann meine Wohnung zu privaten, nichtkommerziellen Zwecken vermieten bzw. untervermieten. Ich kann in meiner Wohnung unentgeltlich unterrichten, Theaterspielen, für Fremde gratis Suppekochen undsofort. Ich kann pornografisches Material in meiner Wohnung produzieren, vertreiben darf ich es dort nicht. Zum Vertrieb benötigt wird ein Gewerbeschein und Gewerbemiete ist zu zahlen. Reines Wohnen verpflichtet zu Privatheit, kollektivbildende Maßnahmen sind laut Mietrecht ausgeschlossen bzw. der Familienbildung vorbehalten, ansonsten gilt der Wohngemeinschaftsmietvertrag. Funktionszusammenhang ist auch ein schönes Wort, es beschreibt vor allem sich selbst. Keine Funktion ohne Zusammenhang; in der Kunst hängt alles mit allem zusammen, das macht sie autonom und prostitutiv zugleich. Das Haus der Kunst hat viele Wohnungen und zu viele Mieter in einer Zeit, in der die Arbeit nicht für alle reicht und ein überdehnter Kunstbegriff für eine Beschäftigungspolitik herhalten muß, die nur versuchen kann, eine Zwangslage gegen die andere zu tauschen. Die zu Ateliers und Kleinst-Galerien zerlegten Fabriken stehen dafür wie die entmieteten Theater in der Provinz. Glücklich, wer den Besuch eines Kunstinstituts als kollektivbildende Maßnahme mit einhergehender Befreiung des Individuums erleben darf, es soll vorgekommen sein.
Thomas Martin
Gegenwartskultur ist Popkultur, von Marktgesetzen diktiert: Wir dürfen sterben, wann wir wollen, nur alt werden dürfen wir nicht. Die erste, noch aktive Generation popmusikalischer Halbgötter (zum Beispiel) rekultiviert mit dem Eintritt ins akute Stadium des Verfalls die ursprüngliche Geste, zumindest des Rock, als zelebriertes Aufbegehren. Sie sind noch einmal Protestsänger geworden im Schaukampf gegen die eigene Verweslichkeit auf offner Bühne. Die Hoffnung, daß hier ein dialektischer Kniff angewandt wird, zu zeigen, daß in der überalterten Wohlstandsgesellschaft das Sterben vor der Verwurstung nicht bewahrt wird, trügt. Bleibt die Faszination, daß sie »immer noch da sind«, die Alten, Warten auf das, was sie sagen, die Alten, wie sie es sagen, die Alten, warum. Mag sein, wer durchhält wird belohnt: Ernst Jünger, kein Pop-Star an sich, wurde als 98Jährigem der Preis der venezianischen Biennale mit Verweis auf seine »biologische Widerstandsfähigkeit« verliehen. Dasselbe kommt auf Yoko Ono, frische 80, zu. Das Lametta später Ehrungen umflort das Werk der Umstrittenen und rückt es ins Zwielicht einer Verhandlungsmasse zwischen Weltkulturerbe und postmodern verbrämter Souvenirindustrie. Das Inkommensurable der Kunst löst sich vom Schöpfer, er fährt ins Grab, in die Hagiographie oder ins Fernsehn des Vergessens. Die Irrtümer Gottfried Benns (»Hat zu gewisser Zeit seines Lebens Ansichten geäußert, die später als unpassabel galten …«) erhalten ihn jünger als die Obduktionspoesie seiner Jugend oder das Spätreife der STATISCHEN GEDICHTE. Mancher Frühverstorbene leuchtet in der Glorie der Verdammnis durchs hohe Alter ganzer Generationen an Nachfahren. Manches Frühwerk glänzt im Gebrechen der Greise erst recht. Wie singen die Großeltern ihr No Satisfaction, ihr My Generation, wie tanzen sie das? Wie sieht der Protest der Gebrechlichen aus, die vor dem Altwerden verbrennen wollten? Wie ihr Widerstand, ihre Behauptung? Rimbaud, der seine 37 schafft, stellt das Dichten mit der Volljährigkeit ein, Büchner lebt ganze 23 Jahre, davon mit Schreiben verbracht 3; er wie Rimbaud wirkt bis heute, weil er Zeit (und Frist) übersprang mit blindem Wissen in der Form und dem Griff in die historische Zäsur. Mancher früh Verstorbene überstrahlt den Horizont der überalterten Olympier. Faßbinder, mit 35, dreht 2 Jahre vor seinem Tod BERLIN ALEXANDERPLATZ in 14 Folgen (»Danach hatte ich das Gefühl, du kannst deinen Beruf«) – als absolutes Spätwerk vor dem Hintergrund seiner 20 Stücke, seiner drei Dutzend Filme bis dahin zu betrachten. Mancher Frühverstorbene hat die Menschenalter mit sich selbst ins Werk gesetzt; Schlingensief, der radikale Ministrant, keine 50 geworden, hat seins dem Nachspiel der Heiligen Messe im Geist des Pop und Trash gewidmet, er bleibt als Allegorie zurück. DAS WERK ist alterslos, ist biographisch nicht zu werten, schreibt sich durch die Zeiten weiter. Altern im Popzeitalter ist ein Phänomen. Aus den Materialschlachten der elektrifiziert Pubertierenden sind fröhliche Rückzugsgefechte geworden, das Sterben spielt mit. Sieht man den Alten auf der Bühne zu, muß man sie fragen, wie die mediokre Zwischenphase zu ertragen war, bevor Altern als Herausforderung aufscheinen konnte, nachdem die gesellschaftlichen Erschütterungen sich unberührt zeigten von ihrer Musik. The flash of a distant camera / reconnecting thoughts and actions / new things and old, both disappear singt Neil Young im Abendlicht von SILVER & GOLD im Jahr 2000, auf dem Scheitel der Binsenwahrheit, daß alles Neue besser ist als alles Alte bis zuletzt. Der Künstler, der sein Werk vom Leben, das ins Sterben übergeht, nicht trennt, ist ein Arbeiter im Brachfeld der Kunst. »Genie ist Fleiß« wird im Alter neu gelesen.
Thomas Martin
Wenn Sie zur Vorhölle möchten, Sie gehen am besten zu
Fuß: zwischen zwei Zebrastreifen, zivilisiert
Im Parcours über die Ahnen, in Asphalt planiert wie in
Aspik, längs der Ladenzeilenbanderole, längs
Der halbseidenen Stadt, die mit Stiftzähnen um sich
und nach nirgendwo greift, vorwärts über
Minderheiten, längs
Der Höhlenzeichnungen breitfüßiger Neanderpennäler,
denen die Zahnspangen im Maul klirren, wenn der
Gegenwind bläst
An Bettengruften, trojanischen Stufen, Baugruben,
Totenstreifen, der Tankstelle dort, den
Bankfilialen
An EROS-, ASIA- und IMBISS-Center vorbei, und wo GLÜCKS-
SPIEL angeschrieben steht, halten Sie an; dort
Steigen Sie ein durch das Tor (Ihr Schuhwerk legen Sie ab
an der Garderobe), von Außenstehenden dürfen
Sie sich nicht abhalten lassen, links
Liegen lassen Sie das Purgatorium der Dönerbuden,
Karussell schweigender, in Rinderwahn bratender
Hammel, fettriefende Schenkel am Spieß, die
Odysseus
Unbesehn vorbei am Einäugigen trugen, den Lebenden
durch seine Totenwelt, ins Duell mit dem
Schatten, der ihn überlebt
Leben und Sterben sind nicht von Dauer, ewig ist der
Tod – er, wie jedes Reich auf Erden und drunter,
hat seine StVO (Parkverbote beachten!)
Und keine Gewißheit, als „in meinem Ende wird mein
Anfang sein“, keine, als die Lücke
Zwischen Zufall und Tod in den Kakophonien der
Stoßzeit, die über ungeheure Brücken ziehn
Unter denen immer jemand in Scherben liegt, der sich
wieder und wieder aus dem Alltag stürzt und
zurück, ein Clown
Der aus der Zeit gefallen ist, eine endlos Pirouetten
drehende Ballerina, vom Licht
In den Fenstern getrieben und verrückt, in die Materie
gestürzt, aus dem SPIEL, dort fangen wir an.
Thomas Martin
Köpfe. Ich habe Köpfe gesehen, nicht die besten, nicht die ersten, Köpfe am Rand meiner Generation, am Rand und dahinter, drüberhinaus
Köpfe, in Bars hinter Theken, auf Abtretern hockend, in welken Kantinen, an verschlossenen Eingängen leerstehender Bühnen, Buchhandlungen, Plattenläden, am Rand von Stadtbezirken und Städten, in Wohnungen, allein und zu Grüppchen geklumpt über Wasch- und Pißbecken
Köpfe, die an sich selber nagen, sich verzehren ohne Grund, zugrundgehn ohne Grund und weitermachen trotzdem, wie immer, wie gewohnt, wie gehabt, manchmal aus Trotz, aus Vergessen, Versehen trotzdem
Köpfe, die über die Schultern hinaus nicht mehr wollten, die zu viel zu tun hatten, ihr Ende vorwegzunehmen (das letzte, was sie sich nicht nehmen ließen), die sich von Brücken warfen, Brücken, unter denen kein Gleis, keine Straße, nicht ein reißender Fluß war, nur Worte lagen, vereinzelt und fallengelassen im Weg, einfach so, wurde gesagt
Köpfe, die nicht schwimmen konnten, Köpfe, die nicht fliegen konnten, die auf Berliner Pflaster krachten, die an klebrigen Gitarrensaiten in Kellern ihrer Wohnblocks hingen, Kocktails aus Zigarrenasche, Asthmatee und Stechapfelsud schlürften, die Franzbranntwein und Zuckerwasser in ihre jugendlich gespannten Adern drückten, das und was es sonst noch so gab, um anschließend, gleich nach dem letzten Hahnenschrei, die Welt zu ändern, auf den Kopf zu stellen, was verkehrt gegangen war,
Köpfe, die dachten, jetzt geht es los, muß es losgehn, immer noch, Köpfe meiner Jugend, Greisenköpfe, die immer noch denken: jetzt geht es los
Köpfe, die mit gummiknüppelharten Schwänzen aufstanden gegen sich selbst und sonst gegen nichts, die fortgingen, die wiederkamen unbemerkt, die, wie nachzulesen ist, Mangel an so gut wie gar nichts hatten
Köpfe, denen der Mangel zuviel war, denen Worte alles waren, und natürlich: frei Schnauze war kein Tabu, war Unschuld, war Krankheit, war Volkseigentum, denn der Grund unter dem Grund, der Untergrund noch, gehörte dem Staat
Kinder bekamen ihre Köpfe auf, einen Kopf auf den andern, Kopf um Kopf um Kopf, und kein Ausrufezeichen war nötig, nur ein Fingerzeig dorthin, wo ein Kopf mit dem Kopf gegen die Wand geplatzt war und ein Abdruck davon
Köpfe, ich habe Köpfe gesehen, Kunstköpfe, die pausenlos geöffnet waren, die pausenlos Gedanken ausdünsteten … Ginsberg, als er von Berlin zurück nach Berlin fuhr, auf dem Bahnsteig Friedrichstraße (B) sagte: „Affen!“, Affenköpfe, weil er an das Restaurant in Hongkongs Cheung Sha Whan gedacht haben soll: Affen im Schraubstock serviert, der Kellner trommelt die Fontanelle mit dem Löffelrücken durch und der Gast schmeckt das breiig pulsierende Hirn
Köpfe, die Ginsberg gemeint und gesehn haben soll, Köpfe, mit denen mein Kopf in Budapest und Prag, in MITROPA-Gaststätten, an zerlehnten Bierkiosken in Rostow-am-Don und im Thüringer Wald, in osmotisch unzuverlässigen Schlafsäcken am Strand von Mangalia, in Zimmern und Zellen gesprochen hat über Köpfe und darüber, wie es werden wird
Köpfe, ich habe Köpfe gesehen, die sich gegen Köpfe warfen voll von Wut, Köpfe, die Kopfwelten regierten, Köpfe, die man selber auf und ausgeliehen hatte und nicht unbedingt behalten wollte, mit der Vision vollkommener Freiheit, denen eine Zweizeilenstrophe in zerlutschtem Änglisch den Weg zeigte dorthin
Köpfe, ich habe Köpfe gesehen, und „Ach, ja Köpfe“, werden Sie sagen, „der Jammer!“, werden Sie sagen, Jammer, der in Büchern steht und in der Zeitung, der keinem Weltkrieg auf der Welt mehr anzulasten ist, keinem, Adolf Hitler nicht, nicht Yoko Ono, keinem Einzelnen überhaupt
Kopf-Jammer, der bestenfalls taugt, ein Versmaß zur Verzweiflung zu bringen oder Schauspieler zum Singen, denn Opfer, Opfer gibt es hier nicht, nicht zu beklagen, wir werden sehen, nicht wahr.
nach Allen Ginsberg/Yoko Ono
Der Traum von Amerika — Traum der USA — ist das Sofortbild der Utopie. Eine Momentaufnahme, aufzugießen wie Instantkaffee, vorzugsweise to go. Der Amerikanische Traum ist der Traum der Einwegfreiheit, die einen im Moment erlöst und den Moment erhält im Film. Das Filmbild ist ein Markenprodukt, es lädt zur Vervielfältigung ein, zum biographischen Gebrauch. Wer es trägt, trägt seinen Teil vom Traum bei sich, die Marke ist das Abziehbild der Utopie für jeden einzelnen. Heimat ist der Gegenentwurf — er markiert Grundlage und Verlust von Biographie zugleich. Kafka, der ewige Amerika-Reisende, hat die Präambel dieses Traums entworfen: „Der entscheidende Augenblick der menschlichen Entwicklung ist immerwährend. Darum sind die revolutionären geistigen Bewegungen, welche alles Frühere für nichtig erklären, im Recht, denn es ist noch nichts geschehen.“ Dieser immerwährende Augenblick ist der Augenblick der USA. Das Geschehen ist der Moment, die absolute Gegenwart, der Rest ist Geschichte. Dagegen steht das Reservoir an Zukunft, formuliert als Utopie. Dass sie im Moment eher zuviel als zu wenig Gestalt hat, ist der Makel unserer Zeit. Die US-amerikanische Version der Utopie ist die der Ökonomie. Sie geht einher mit größtmöglicher Öffentlichkeit, abzulesen in den Statistiken der Netzgemeinden. Es gibt kein soziales Netzwerk ohne asoziales, jedes Netzwerk impliziert den sozialen-asozialen Gehalt an Arbeit, an Kreativität. Wer ersteres nicht hat, kompensiert sich durch das zweite. Erst durch Arbeit wird der Mensch zum Menschen, sprechen Marx und Engels, nur der verdiene sich, sagt Goethe, Freiheit wie das Leben, der täglich … positive Freiheit, negative und so fort. Freiheit widersetzt sich wie Heimat, wie auch Kunst, der eindeutigen Definition. Erobern ist zum Er-Fahren geworden, Freiheit als vermeintliches Grundrecht unserer Gesellschaftsordnung so selbstverständlich, dass sie erst im Schock, der die Einsicht in bestimmte Notwendigkeit bringt, wahrgenommen wird. Wo Freiheit kennbar bleiben soll, braucht sie eine Grenze. Geld kann eine Grenze sein, Besitz kann eine Grenze sein, Religion, Ideologie, das Raster der Politik, Moral und Justiz, und natürlich über allem der Markt, er wird als Synonym der Freiheit gehandelt. Freiheit ist käuflich und die Utopie ihr Geld wert im Amerikanischen Traum. An der Börse der Träume ist er der höchstnotierte. Er verspricht das Unbegrenzte und das in jeder Beziehung. Der Traum ist zum Markt geworden und der Markt zum Traum. Die Symbiose kann zum Albtraum führen, Terror, Krieg und Klima zeigen es periodisch an. Der Amerikanische Traum ist der globale Traum des Einzelnen, der Traum des Globalismus. Damit ist der Traum der Chancengleichheit zum Traum der Ungleichheit geworden, der nur für die ökonomisch besser gestellte Minderheit eine Utopie sein kann, für die Mehrheit bleibt er Alltag, bleibt er Arbeit, Hoffnung auf Arbeit, die bleibt. Marktwirtschaft ist zu Marktgesellschaft geworden, das gewohnte Attribut „sozial“ beschreibt kein Positiv, zeigt vielmehr an, wie sehr das Marktverhalten zur sozialen Geste geworden ist. Das aufrecht Primitive des gesellschaftlichen Konstrukts der USA hat seinen Grund darin, dass Amerika vom immerwährenden Anfang der Geschichte ausgeht, Europa dagegen von deren Ende. Im Zeitraum einer Generation seit 1989 haben sich beide Visionen überlagert. Geschichte im postmodernistischen Posthistoire ist ein Haufen, darunter brüten die Miasmen der Gegenwart den Atem der Freiheit aus.
Empfehlung: Michael J. Sandel, What Money Can’t Buy: The Moral Limits of Markets
Thomas Martin
Hat man bemerkt, daß die Hoffmannsche Zunft der jungen Mädchen, diese Antipoden der ja auch gut bürgerlichen Lottchen, Klärchen, Gretchen und Käthchen, die von Marx definierte Bourgeoisie im Idealzustand ist? Sie, die – siegreich in Frankreich, längst waltend in England – sich in deutschen Landen jener Zeit durchaus noch nicht einmal ökonomisch, geschweige denn politisch durchgesetzt hat, beherrscht in diesen Gören den Alltag, und auf eine Weise, die ihr als Klasse stets mangeln muß: liebenswert. – Welcher Charme des eiskalten Egoismus, welche Anmut banausischen Krämergeistes, welche Kokettheit gesunden Menschenverstandes, welche Arabeske der Einlinigkeit! Und doch – und das heißt: deswegen – ist es fast unmöglich, sie, deren Sinn doch nur aufs Heiraten zu stehn scheint, sich auch nur auch als das zu denken, was den Klärchen und Gretchen so unabdingbar Natur ist: als junge Frauen mit Sexualität und erotischer Aura. – Sie denken bei ihren Heiratsplänen nicht an den Mann, sondern an dessen Karriere; sie wollen nicht so sehr unter die Decke als unter die geschmückteste Haube und nehmen, daß die Nachbarin vor Neid platze, dann auch das Bett so entschlossen in Kauf wie die Hexe und den blausprühenden Kater. – Nein, die vergehen nicht an des Geliebten Küssen, aber sie lassen auch keinen Mann an ihren Küssen vergehn. – Ach, diese zauberhaften Entzauberer, diese liebenswerten Entwerter der Liebe, sie sind ja Gespenster, und doch Alltagswesen, langbeinig und mit Wimpernprothesen, und selbstverständlich physisch vollkommen, und selbstverständlich aufgeklärt. Noch keine Berufsfeministinnen, das macht den Vorzug wie auch den Nachteil ihres Charmes. Sie sind die Erzeuger der Sehnsucht nach etwas, das sie ihrem Wesen nach nicht sind, auch darin repräsentieren sie die Frühzeit der bürgerlichen Gesellschaft, und in diesem einen Zug nicht nur die des Bürgertums. – Idealinkarnationen der praktischen Vernunft, aber denkt man sie zu Ende, heißt ihre Königin Olimpia. – Die Gesellschaft der Programmierten. – Doch nicht die Automatin ist das Schauerliche, sondern daß sich einer bis zum Wahnsinn in sie verliebt. Freilich: Er braucht dazu eine besondere Brille. – »‘Mir sind’«, läßt Hoffmann im Novellenessay »Die Automate« einen Freund namens Ludwig gestehen: »‘Mir sind alle solche Figuren, die dem Menschen nicht sowohl nachgebildet sind, als daß sie das Menschliche nachäfften, diese wahren Standbilder eines lebendigen Todes oder eines toten Lebens, im höchsten Grade zuwider. Schon in früher Jugend lief ich weinend davon, als man mich in ein Wachsfigurenkabinett führte, und noch kann ich kein solches Kabinett betreten, ohne von einem unheimlichen grauenhaften Gefühl ergriffen zu werden. Mit Macbeths Worten möchte ich rufen: ›Was starrst du mich an mit Augen ohne Sehkraft?‹ wenn ich die stieren, toten, gläsernen Blicke all der Potentaten, berühmten Helden und Mörder und Spitzbuben auf mich gerichtet sehe –’« Der Höllenbezirk der Surrogate, doch nur die gehen ja im Tauschwert auf, und wenn ein Wesen Tauschwert wird, wird es zum Surrogat seiner selbst. – Wenn Zeit Geld sein kann, ist sie nicht mehr Zeit, wiewohl sie Zeit bleibt, denn nur als diese kann sie ja Geld sein. Man hilft sich dann gern mit dem Wörtchen »wahr« – die »wahre Zeit« gegen die »Ware Zeit«, und dennoch muß etwas »das Wahre« sein, wenn es zur Ware werden soll, und eben damit ist es das Wahre nicht mehr. – Brechen wir’s ab.
Leihgabe: Franz Fühmann, FRÄULEIN VERONIKA PAULMANN AUS DER PIRNAER VORSTADT ODER ETWAS ÜBER DAS SCHAUERLICHE BEI E.T.A. HOFFMANN, erschienen und alle
Rechte beim Hinstorff-Verlag, Rostock 1979
Wenn dir der Vorwurf gemacht wird, zu oft einem Bedürfnis nach Ruhe Ausdruck zu geben, und dem durch Vermeidung von Kontakt und Resonanz auch nachzukommen, wirst du, wenn es dir gut geht, mit mehr antworten als mit Gähnen. Mit Denken wenigstens, wo die Vorhaltungen überhandnehmen. Denken ist ein Sport, der Zeit braucht – Zeit und, mitunter, auch Ruhe: »In dir, mein Geist, messe ich meine Zeiten« (Augustinus). In Zeiten und Breiten der informellen-informativen Überforderungen und Übersprungshandlungen, braucht Ruhe mehr Kraft als der Gegenentwurf. Ein Anhalten kann (wie ein Aushalten) mehr verlangen als die Vorwärtsbewegung. Ruhe gilt als Bestandteil der Bewegung, die in der Zeit verläuft – Bewegung dabei als absolut, Ruhe als relativ anzusehen. Wenn ich Ruhe als Pause betrachte, erkenne ich damit die Zeit an als Frist – Zeit, die mir auf Erden, oder wo immer, gegeben ist. Vollkommene Ruhe ist die, die die Unruhe mit einschließt. Organische Bewegung hat den Tod zum Ziel, danach kommt die Wiederauferstehung, und sei es als Idee. »Zu sterben bist du geboren« (Seneca). Der Mensch bewegt sich auf den Tod zu, aber sein Ziel ist die Erfüllung, ein Paradies diesseits des Todes. Die Suche danach ist das menschliche Wozu, ohne daß unsre Bewegung sinnlos unbestimmt verläuft. Das Wozu hat viele Namen; am geläufigsten ist, in der von Konflikt, Reglement und Verdrängung formulierten Zivilisationsgeschichte, das schöne Wort Freiheit. Freiheit als Einsicht in Notwendigkeiten, heißt auch Einsicht in die begrenzte Zeit, die dem Lebenden zur Verfügung steht. Freiheit muß man sich nehmen, manchmal mit Gewalt. Wer sich Freiheit nehmen kann, ohne anderen etwas zu nehmen, ist im Glück. Wer sich im Glück befindet, befindet sich in Ruhe. Ruhe muß nicht kontemplativ sein. Freiheit ist mit Zukunft identisch, ein Potential, das mit zunehmender Lebenszeit proportional schwindet. Das Ziel wird mit der Einsicht in bestimmte Notwendigkeiten – wie der des Ab-Lebens – überschaubar und relativiert. Aus Illusionen werden Relationen, aus Utopien Wünsche, aus Hoffnung wird ein Wartesaal. Dagegen kann unendliche Bewegung unendlichen Spaß erzeugen; ohne einen Moment des Stillstands wird er nicht erkennbar sein. Der Moment der Ruhe ist der Moment der Freiheit – auch um zu sehen, was zum Beispiel an privater Freiheit mir noch möglich ist. Ruhe vom »täglichen Erobern«, wie Goethe das Wort seinem Faust in den erkenntnisreichen, doch auch schon zahnlosen Mund legt. Freiheit steht am Ende der Hoffnung, wer frei ist, ist auch frei davon, der zufriedene Faust stirbt blind; von heute aus gesehen die erste Tragödie des postmodernistischen ruhlosen Ichs. Ruhe heißt, sich zu verweigern – der Betriebsamkeit rundum, dem Plänemachen, der Hast nach Glück, Besitz, Erfolg, der Liebe und was sonst noch alles wichtig ist. In dir mein Geist …
... messe ich meine Zeiten. Geschichte ist Gedächtnis, Gedächtnis ist das Sich-Erinnern. Erinnern heißt Anhalten, um das Kontinuum erlebter Geschichte aufzubrechen. Wer in die Tiefen der Geschichte will, muß ins Gedächtnis wollen, muß die Uhren anhalten können; das geht von der Lebenszeit ab. Ruhe ist nichts Abruptes, sie bedingt Kontinuität: Wenn ich mich aus dem Strom, der sich zwischen Vergangenheit und Zukunft bewegt, ausklinke, die Klinke zur Türe, die zu nächsten, tieferliegenden Räumen führt, in die Hand nehme. Ruhe ist keine Insel, sie ist der Neben-, kann der Gegenstrom sein. Reflexion verdeutlicht diese Geste: sich zurück-beugen, um zurück-zu-denken, die Bewegung vertikal. Ruhe ist Verweigerung. Die Zukunft der totalen Vernetzung, in der Zeit und Raum im Erreichen immer größerer Geschwindigkeiten keine Rolle mehr spielen, ist längst Gegenwart geworden. Das Gegenteil ist relevant: Ruhe, um zu begreifen, was überhaupt ist. Sich-gegen-den-Strom-stemmen kann mehr Kraft kosten, als ein Sprint. Umgekehrt: je mehr an Zukunft je weniger Auswahl an Ziel; Ruhe heißt, mit wenig auszukommen, mehr noch: mit immer weniger. Wenn im materialistischen Zug grenzenloser Geschwindigkeit ein Zurück in die Zeit möglich sein sollte, wird auch Bewußtsein »überholt«. Wo alles wiederholbar ist, kann nichts zu Ende gedacht werden. Wo alles wiederholbar wird, weil (genetisch) reproduzierbar, wird der Katalog der Humanität mit Begriffen wie Ethik und Moral neu geschrieben. Wenn solche Raum-und-Zeit-Verschiebung möglich sein sollte, ist Ruhe dann nichts anderes: Simulation, Kopie der Bewegung, überlagerte Zeit, leerer Transport. Der Moment des Anhaltens im DAZWISCHEN – zwischen der Zeit und den zu überblickenden Schichtungen von Geschichte – ist zu bestimmen. Es ist der unbedingte Griff zur Notbremse im Express der Geschichte, den Walter Benjamin in seiner Umdeutung der Marxschen Revolutions-Metapher erkennt. Ruhe – im grenzenlosen Transrapid der Zeit – ist Revolution.
Thomas Martin
Du definierst Philosophie als Selbstbeschleunigung und Selbstüberstürzung. In der Übertreibung, Überstürzung und Beschleunigung öffnet sich das menschliche Subjekt auf die Grenze der Realität. Es greift damit über seine Gewissheiten hinaus ...
Offenkundig ist der Mensch ein Tier, das etwas anderes als die konstituierte, positiv gegebene, sozio-symbolisch, politisch, ökonomisch kodifizierte Realität braucht. Festzustellen, dass der Mensch – oder das Subjekt – die Kluft zwischen der Realität und dem Realen – das den Irrealitätsmoment der Realität markiert –, bewohnt, heisst, ihn im Spannungsfeld zwischen Immanenz und Transzendenz zu situieren. Ein Minimum an Realität macht das Reale überhaupt erfahrbar, während Realität unter vollständiger Ausblendung des Realen zu nacktem Schein zerfällt. Es ist wichtig, nicht zu verkennen, dass unsere kollektiven Fiktionen – unsere sozialen und kulturellen Narrative – als solche real sind und sehr gut funktionieren. Ebenso wichtig ist es, ihre Kontingenz einzusehen, ihre Nicht-Notwendigkeit. Ich definiere Philosophie als Öffnung auf diese Kontingenz, als Affirmation der Inkonsistenz von Realität. Die Finanzkrise als Vertrauenskrise, beispielsweise, ist eine Realitätskrise. Sie führt uns – sofern wir sie denken – an den kritischen Punkt unserer Realität oder unserer Realitäten, unserer geteilten Welt ohne Hinterwelt. Es gibt nur das Diesseits ohne Jenseits. Aber dieses Diesseits, die Immanenz ohne Transzendenz, ist rissig oder löchrig, wie ein poröses Gewebe, es gründet in keinen höheren Prinzipien, in keinerlei Autorität. Den Verlust einer solchen Autorität hat Nietzsche als Tod Gottes beschrieben. Später sagt Lacan, das der große Andere (das Konsistenzversprechen, dass unsere symbolische Ordnung impliziert) nicht existiert. Heute wissen wir: Die letzte Bank (mit unerschöpflichen Reserven) existiert nicht. Und dennoch: Auf eine mehr als zweifelhafte Art hat Gott auf den Finanzmärkten überlebt, sofern zu ihrer Dynamik eine Art permanenter creatio ex nihilo gehört: Wertschöpfung aus dem Nichts.
Thomas Martin
Marcus Steinweg
»Die Wahrheit jeder Ökonomie ist ihre Tendenz ins Anökonomische«, hast Du in einem unserer Gespräche gesagt. Kann das auch für die Liebe gelten, von der die romantische Tradition eben das fordert: den Exzess – die Überschreitung der Ökonomie?
Im Begriff der Ökonomie verdichten sich alle Schwierigkeiten – auch die der Liebe. Vielleicht sollte man – mit Georges Bataille – zwischen der bestimmten und der allgemeinen Ökonomie unterscheiden. Die bestimmte Ökonomie wäre die Ökonomie im engen Sinn. Sie ist haushälterische Vernunft. Sie folgt dem Äquivalenzprinzip und der Idee des Äquivalententauschs. In ihr – zumindest ist das ihr Selbstverständnis – gibt es keinen Überschuß, kein Ungleichgewicht. Ausgaben und Einnahmen – und ich rede hier nicht nur von Geld – halten sich die Waage. Die bestimmte Ökonomie ist ausgewogene Ökonomie. In ihr ist kein Platz für Übertreibung und Exzess. Die allgemeine Ökonomie integriert Exzess und Übertreibung in ihr Selbstverständnis. Ihr sind Überfluß und Verausgabung inhärent. Die romantische Konvention erwartet einen gewissen Exzess – ein Minimum an Kopflosigkeit und emotionalem Taumel – auch von den Liebenden. Die Ökonomie der Liebe erweist sich als anökonomisch. An diesem Punkt konzentrieren sich die jeder Liebeserfahrung impliziten Aporien.
Die anökonomische Ökonomie der Liebe bleibt eine Ökonomie. Der Exzess kann nicht total sein, die Verschwendung (im Anderen, für den Anderen) nicht absolut.
Zum romantischen Kitsch gehört der zuletzt narzisstische Totalismus oder Absolutismus. Die romantische Liebe ist wesentlich Selbstliebe. Man liebt sich als Liebenden und/oder Geliebten. Romantismus ist Liebe unter Umgehung des Anderen, indem man ihn (und seine »Liebe« zu ihm) verabsolutiert. Der nicht mehr romantisch-narzisstische Exzess wäre die Selbstüberschreitung des Subjekts auf den realen Anderen im Medium der Normalität oder schlicht Realität. Ich würde das eine präzise Überschreitung nennen, einen nahezu ökonomischen Überschwang.
Eine Ökonomisierung der Anökonomie?
Ökonomie und Anökonomie – Kalkül und Leidenschaft, Vernunft und Unvernunft, Verstand und Emotion (oder das, was man so nennt) – kooperieren, in der Liebe wie anderswo. Es ist eine Unschärferelation. Ich bin immer entweder zu kalkulatorisch oder zu verschwenderisch. Zu keinem Zeitpunkt hält sich das die Waage. Zur Liebe gehört die Affirmation dieser Unschärfe und der ihr korrelativen Aporie. Ihre Rechnung geht nur im Scheitern auf. Deshalb ist es gut, mit dem Scheitern zu rechnen, das Nichtkalkulierbare ins Kalkül einzubeziehen. Ein erster Schritt in diese Richtung – und hier beziehe ich mich auf Alexander Kluge in seinem Gespräch »Verdeckte Ermittlung« – ist die absolute Kritik der Sentimentalisierung, die Befreiung der Gefühle aus ihrer sentimental-narzisstischen Verklärung, die analytische Zurückweisung des romantischen Kitschs.
Thomas Martin / Marcus Steinweg
Theater ist die letzte Instanz, in der Sprache und Handlung Körpern abverlangt werden vor anderen Körpern, in denen Bewußtsein wohnt und Sprache. Körper ist Text und Text ist Körper, eins beschreibt das andere. Theater bezieht seine Wirkung aus Formen, Form ist Fläche und Verpackung, ein Gegenstand der Warenwelt. Das von Guy Debord zitierte Modell einer Gesellschaft des Spektakels ist auch Modell eines Spektakels der Gesellschaft. Mit Baudrillard in unsre Gegenwart gezogen: Das Spektakel des Terrorismus ist auch der Terror des Spektakels, totale Überforderung. Sich dem zu entziehen, kann den Sinn des Überlebens ausmachen. Das Theater und das Fest machen — nach Debord — die Geste des Barock aus, »in der jeder künstlerische Ausdruck seinen Sinn erst durch seinen Verweis auf das Bühnenbild eines konstruierten Ortes erhält, auf eine Konstruktion, die ihr eigenes Vereinigungszentrum sein muß: dieses Zentrum ist das Vergehen, das als bedrohtes Gleichgewicht in die dynamische Unordnung von allem eingeschrieben ist.« Daß Theater als komödiantische Insel der Unordnung ein Gegenentwurf zur staatlichen Insel der Ordnung sein kann, hat Jean-Baptiste Poquelin, der Knabe Molière, etabliert. Die Molièrsche Maschine funktioniert als Model subversiven Lust-Spiels bis heute. Bulgakow in seiner KABALE DER SCHEINHEILIGEN, im THEATERROMAN, hat Molières Truppe vor Ludwig XIV. als Modell seiner Arbeit unter Stalin gesehen. Das Spektakel als Maske und Metapher, die dem Terror ein Gesicht vorhält. Der Euphemismus von der Sozialen Marktwirtschaft verschleiert ein totalitaristisches Modell, für das Heiner Müllers Erkenntnis vom Beginn der Neuzeit (1990) gilt: »Die Arbeit des Künstlers ist ein Privileg, weil sie ein Fest ist. Die Verstaatlichung des Festes oder seine Besetzung mit Ordnungsstrukturen widerspricht seinem Charakter, dem der Grenzüberschreitung.« Die Arbeit des Künstlers und das Fest sind im Theater aufgehoben, hier heben sie sich auf. Wenn die Arbeit zum Fest wird, setzt der Rausch des Erhabenen ein, Erhebung, auf die nur Absturz folgen kann. Im Haschischrausch hat Walter Benjamin den Begriff des Epischen Theaters entdeckt, vor den projizierten Bildern einer Aufführung von MANN IST MANN, 1931; auszuleben war das Label dann lediglich als Theorie. Theater ist Täuschung, Enttäuschung, wenn es gut ist, mithin. Enttäuschung, Offenlegung der Produktionsweise, ist das Prinzip des Epischen Theaters nach und immer noch nach Brecht. Eins seiner Muster war der Apparat Molières. Benno Besson, Bevollmächtigter Brechts in Sachen ästhetischen Genusses im sozialistischen Modellversuch, hat Molières Dramaturgie (DON JUAN, TARTUFFE) am Berliner Ensemble und am Deutschen Theater seziert, mit kontaminiertem Vergnügen, mit Überreiz, fliegendem Pomp, Barock — lange her. Fritz Marquardt, Regisseur eines nicht Grausamen, aber Armen Theaters in der Tradition nach Brecht und Artaud, hat Bessons kulinarische Konstrukte zerpflückt mit Molière (DER MENSCHENHASSER) an der Volksbühne unter spätsozialistischen Bedingungen, lange her. Die Qualität dieser Arbeiten bestand auch in der Qualität der Infragestellung von Theater. Wer das Theater infrage stellt, stellt ein Gesellschaftsmodell infrage. Kunst, wenn sie Grenzen überschreitet in eine neue Ästhetik, ist ein Terrorangriff auf gesetzte Strukturen. Sie zerstört Hierarchien. Sie tut das nicht nur in Zeiten des Totalitarismus, auch in Zeiten des Liberalismus, dem neben Marktfreiheit zunächst die Sinnfreiheit, Voraussetzung jeden Freiheitsbegriffs, zu eigen ist. Die Frage nach der Relevanz von Theater muß aufs immer neue gestellt werden. Auf die Form der Fragestellung kommt es an. Die Kunst der Frage ist die Kunst der Fuge, Antwort geben kann ein Idiot.
Thomas Martin
... wir, wenn wir durch die Straßen liefen, am Abend unter den Lichtern, kaum noch Verkehr, hatten die Radios an, leise, weil die Musik, Jazz vielleicht und Pop-Importe, wie verheißende Stimmen von einem Woher herkam, das verschlossen war, jedenfalls uns ... man traf sich auf Kinderspielplätzen, schob die Radios zusammen, sah, wie Kino und Theater sich leerten, wie Publikum erleuchtet verschwand in der Nacht ... einmal im Jahr und immer am 6. Oktober (Tag vor dem nächsten: TAG DER REPUBLIK, alljährlich begangen mit Paraden und frisch gewaschenen Panzern), am 6. gingen wir ins BABYLON, sahen ICH BIN EIN ELEFANT, MADAME (von Zadek), danach auf den Platz, im Kofferradio (Marke STERN, Kassettendeck) lief WAITING FOR THE MAN, lief WILD THING ... in der Nacht, wo Mond am Himmel klebte wie Zeitungspapier, Nebel aufzog vom Park an der Volksbühne (rechts) ... drinnen war DER BAU gelaufen oder FIKTIVER REPORT ÜBER EIN AMERIKANISCHES POP-FESTIVAL ... wir waren eigentlich Kinder, versteckten uns, am 1. Mai (INTERNATIONALER KAMPF- UND FEIERTAG DER ARBEITERKLASSSE) hinterm Pavillon neben der Volksbühne (rechts), wir tranken unser erstes Bier aus Flaschen, starrten die Nacht an, den Volkspolizisten, der Streife lief vor dem KARL-LIEBKNECHT-HAUS (INSTITUT FÜR MARXISMUS-LENINISMUS) und rauchten (ALTE JUWEL, CABINET) ... setzten uns unter die Bäume auf dem Platz zwischen Theater und Kino, der Bulle scheuchte uns fort in seiner nächsten Runde, wir zogen um auf die Stufen, die zur Kassenhalle führen, lehnten uns in die Türen, sahen dem Platz zu, in der Nacht ... eine Frau im Regenmantel hetzt vorbei, reißt die Tür der Telefonzelle (FASSE DICH KURZ!) auf, wählt eine Nummer, ein Hund jault, hetzt hinterher, heult vor der Zelle, ein Mann flucht, ein Fenster geht auf, ein Säugling quengelt, zwei Katzen fahren kreischend eine der andern ins Fell ... wir hörten, wir sahen dem zu ... im Mai, im Oktober, Zeitungsbögen (BZ AM ABEND) auf nassem Asphalt, ein Krankenwagen rast Richtung Alexanderplatz, die letzte S-Bahn rollt Richtung Friedrichstraße (Endstation) ... aus der PINGUIN-BAR quillt eine Kellnerin, Qualm quillt hinterher, sie streckt die Arme aus in den Himmel ... der Bulle zieht die nächste Runde, sieht in die Fenster der Kneipe, wir drücken uns in die Nischen, zwischen die Säulen vorm Eingang, vom Spielplatz kommt Stöhnen, die Wippe quietscht ... in der Nacht ... weiter, die Prenzlauer hoch, eine junge Frau mit Kinderwagen steht unter den Fenstern der Backfabrik (BAKO), jemand pfeift, sie sieht hoch, ein Brot fällt vom Himmel in die Arme der Frau, sie packt es in den Kinderwagen, schiebt ab ... weiter oben dann links, Metzer Straße, jemand küßt jemanden im Laternenlicht, Neon flackert, eine Frau am Fenster kämmt ihr Haar, ein Mann hinter Gardinen im Haus gegenüber sieht zu ... Briefträger liefern die ersten Zeitungen aus, das METZER ECK läßt die letzten Gäste laufen, Vertreibung aus dem Paradies in die Hölle des anbrechenden Tags, am Himmel kein Stern ... der erste Bus (257) peilt die Haltestelle an, auf der Bank auf dem Mittelstreifen zwischen den Büschen liegt jemand, jemand zerrt einen Koffer wohin hinter sich her, in der Notapotheke Ecke Schönhauser geht eine Tür ... wir sahen dem zu, tappten nach Mitte zurück, grau in grau der Volksbühnenturm, wir liefen ... durch Kino, Theater, Jahrzehnte ins Heute (nicht jeder kam an) ... irgendwer macht das Radio an, er ist verliebt, irgendwer stellt sein Leben infrage, wiedermal, von ferne das Klirren der Ketten, der Tag ...
für René
Thomas Martin
Erfahrung trifft blind und ermöglicht die Sicht. Bilder verhindern Erfahrung. Auch das Sterben wird als Erfahrung ausgegrenzt im künstlichen Koma, das ein Überangebot an Information erzeugt. Wer heute stirbt, stirbt langsamer, vorausgesetzt das gute Leben gemäß DIN. Die Energie der Toten ist die Erinnerung an sie, die gelebt haben müssen, in uns. Sie sind der lebende Störfaktor im Kulturkreis, den sie als Bannmeile nicht akzeptieren. Der status quo der kapitalistischen Ordnung ist der der totalen Verwertbarkeit, die der totalen Reproduzierbarkeit nahekommt bis ans genetische Material. Die Replikanten in Ridley Scotts BLADE RUNNER existieren in der Erinnerung implantierter Biografien, solange ihre Halbwertzeit reicht. Erinnerung ist der Rückspiegel der Biographie, wie das Vergessen der blinde Spiegel ist, der glücklich machen kann. Vergangenheit ist Herkunft, Heimat der Versuch, Vergangenheit bewohnbar zu machen; die ideologische Ausprägung Patriotismus, wenn die Vergangenheit sich sträubt. Hegel spricht vom Unglücklichen Bewußtsein, dessen Denken Andacht ist, weil ihm der Gegenstand fehlt. Ein Vaterland zum Beispiel, eine Muttersprache. Patrioten ohne Vaterland sind Partisanen, die Idee des Partisanen ist konkret, konkret ist der Feind. Der Feind kann eine andere Idee sein, eine andere Kultur. Wo der Zwang der Vater des Gedanken ist, kann die Freiheit seine Mörderin sein, in der Epoche des Surplus wahrscheinlicher als in Zeiten der Not. Wenn Hegel von der absoluten Freiheit spricht und mit ihr vom Schrecken, spricht er vom aufgelösten Gegensatz zwischen allgemeinem Willen und dem einzelnen, der zur Selbstfindung führt. »Wie das Reich der wirklichen Welt in das Reich des Glaubens und der Einsicht übergeht, so geht die absolute Freiheit aus ihrer sich selbst zerstörenden Wirklichkeit in ein anderes Land des selbstbewußten Geistes über …« Für manchen ist das nur im Tod zu haben. Das Jenseits, das die Selbstmörder hoffen, bietet ein Leben, in dem Schuld geteilt werden kann und die Rechnung geht auf ohne Rest. Voraussetzung dafür ist der Glaube an die Seelenwanderung, ein Energieerhaltungssatz auf mythischer Basis. Ohne Mythos vegetiert der Patriot im kollektiven Vakuum. Dem zu entrinnen, sprengt der Einzelne das Vakuum, schafft und wird: Ereignis. Er verläßt seinen Kulturkreis. Er schafft seinen Mythos durch die Auslöschung als letztem Akt der Erkenntnis, des bestimmten Übersichverfügens. Baudrillard nennt es den Endpunkt der Aufklärung: Wenn der Einzelne mit seinem Tod seine Kultur aufgibt, um die der andern zu zerstören. Ein Modell dafür ist der Terrorismus, dessen letztgültiges Modell die Attacken des 11. September 2011: Totaler Terror gegen den Totalen Markt. »Sterbt jeden Morgen in Gedanken, und ihr werdet den Tod nicht mehr fürchten«, heißt eine Lehre aus dem Kodex der Samurai. Sie ist für uns ohne Nutzen, weil wir das Sterben nicht lernen können in unserer materialistischen Welt. An einen Toten läßt sich nichts verkaufen. Am besten sind lebende Tote, bis sich die Platzfrage stellt. Der Gesellschaftsvertrag zwischen Lebenden und Toten ist die Grundlage unserer Kultur, der abendländischen weniger als der der älteren Kulturen, die sich im Aufstand befinden gegen das Modell von Marktwirtschaft ± Demokratie, das von Interessenverwaltern der Industrie veordnet wird wie Medizin von Ärzten gegen AIDS. Wir müssen nicht Houellebecq gelesen haben, um zu wissen, daß die Ausweitung der Kampfzone einem Zuviel statt einem Mangel an Ideen folgt und der Suche nach einem Feindbild als Wozu des Überlebens. Am Ende hält der Selbstmord für den Sinn des Überlebens her.
Thomas Martin
Versuche, die Wirkung der Bilder mit den Titeln zu ändern oder aufzuheben
Versuche, die Bilder der Wirkung mit den Titeln zu ändern oder aufzuheben oder
Versuche, die Titel der Wirkung mit den Bildern zu ändern oder aufzuheben oder
Versuche, die Titel der Bilder mit der Wirkung zu ändern oder aufzuheben oder
Versuche, die Wirkung der Titel mit den Bildern zu ändern oder aufzuheben oder
Versuche, die Änderung der Titel mit den Bildern zu erwirken oder aufzuheben oder
Versuche, die Wirkung der Änderung der Titel zu bebildern oder aufzuheben oder
Versuche, die Bilder der Titel mit der Wirkung zu ändern oder aufzuheben oder
Versuche, die Aufhebung der Titel mit der Wirkung der Bilder zu ändern oder
Versuche, die Wirkung der Änderung der Bilder mit den Titeln aufzuheben oder
Versuche, alles anders zu machen oder aufzuheben ab jetzt
»Variation der Versuche... unter Berücksichtigung der Wirkung der Titel der Bilder«
nach Dieter Roth
Thomas Martin
SMS 1
„Unterzeichnete macht bekannt, daß sie, ohne ihr Wissen, in andere Umstände gekommen ist. Der Vater zu dem Kinde, das sie gebären wird, ist hiermit aufgefordert, sich zu melden. Wir sind, aus Familienrücksichten, entschlossen, ihn zu heiraten.“
SMS 2
Das Mitteilungsbedürfnis unter den Menschen ist so umfangreich wie die Belanglosigkeit der Mitteilungen. Zu sagen/schreiben, was ich gerade tue, denke bzw. nicht denke und tue, nicht vorhabe zu denken und tun, ist so elementar wie es belanglos ist. Twittern heißt Zwitschern und bedeutet, was es ist: ein Lockruf der Unterhaltungsindustrie.
ZITAT
Der erste, der ein Pissoir auf einen Sockel gestellt hat, war ein Künstler. Der zweite war ein Klempner, und noch von den Klempnern gibt es zu viele. Auf alles kann man im Theater verzichten, nur auf eins nicht: auf Klempner.
UNTER DEUTSCHEN
Kunst mag sein ist Arbeit, aber Arbeit ist nicht Kunst. Das Totenreich der Kunstdefinitionen ist unendlich, wir würden die vier Buchstaben der Kunst entwerten, wenn wir sie nicht als Angelegenheit von Auserwählten (Verlorenen) erkennen. Sie sind Idioten und sie können nichts dafür, das ist das eine. Das andere: Genie heißt Fleiß.
DRAUSSEN NUR KÄNNCHEN
Kausalbegriffe sind Kaufhausbegriffe. Wer kauft, der tauscht nicht. Wer kauft, verkauft.
BEDÜRFNISANSTALT 1
Kunst ist Form, sie ist der Urausdruck des Menschen. Sie ist es, die der Arbeit den lebensnotwendigen Zeitüberschuß abringt, seitdem ein Vormensch ein Stück Kohle aus dem Feuer zog und die Höhlenwand bemalt hat vor Jahrtausenden. Kultur in Kunst überführt, ist materialisierte Transzendenz. Kunst hat keinen Nutzen. Sie erobert das Nutzlose.
BEDÜRFNISANSTALT 2
Träume wirklicher als Realitäten zu machen, ist der Sinn der Phantasiemaschine Theater. Nur so funktioniert der Betrieb als moralische Anstalt: er schaltet die Moral aus für den revolutionären Moment, in dem alle Sozialitäten zugunsten der Irrationalitäten der Phantasie außerkraft gesetzt werden. Der revolutionäre Moment ist der Moment der Kunst. Nichts weniger als ein Triumph über die Realität. Nicht mehr als die Wirklichkeit draußen, aber: bereichert.
FÜR UNTERWEGS
Tschüß kommt von Tschö, Tschö von Adjö, Adjö, berlinerisch, kommt von Adieu. Adieu heißt à dieu, heißt mit Gott. Mit Gott heißt, ob du dran glaubst oder nicht, ob du ihn brauchst oder nicht, heißt: Aufwiedersehn (muß ja nicht hier sein).
für Georg
Thomas Martin
Keine Fortbewegungsart der aufrechtgehenden Spezies, von der nicht einer derselben Spezies profitiert. Das Weltweitenetz, Bewegungsform der virtuellen Art, ist ein Medium, das die Masse in Richtung nicht nur einer Dividende lenkt, und die ideologische Umformung der Netzverkehrsteilnehmer zu Kunden ist die Grundlage dafür. Jede Information ist Werbung, nicht jede Werbung informiert. Daß Werbung Propaganda ist und Bedingung für den ausgegebenen Informationsgehalt, ist nicht neu, hat aber eine neue Qualität erreicht, die sich im Begriff des Social Network zynisch artikuliert; er denunziert den Begriff des Sozialen. Die Umlegung des Begriffs Propaganda in den der Public Relation durch den Psychologen und Freud-Neffen Edward Bernays hat deutlicher ins Wort gesetzt, daß die Kreativität des Menschen an seiner Manipulation arbeitet. „Wer nicht wirbt, der stirbt“ lautet der sozialdarwinistische Endreim der Kreativen. Meeses „Diktatur der Kunst“ ist ein friedliches Schlaflied gegen die Diktatur der Werbung, die regiert. Die entleerten Inhaltsideologien des kurzen 20. Jahrhunderts sind der erfolgreicheren Formen-Ideologie gewichen: Werbung und Propaganda. Der Mensch ist nichts, wenn er nicht auf sich selbst zurückgeworfen wird im Augenblick des Todes, wie die Kunst ihn, wenn sie wirkt, erzeugt. Die erste Auseinandersetzung mit dem Tod ist die Kunst. Sie hat den Tod in den Begriff der Götter übersetzt, dann kam die Religion. Wenn Humanismus Menschlichkeit bedeutet, dann nur im Kollektiv, das dem Einzelnen den Zustand des Zweifels an sich selbst ermöglicht, er ist die Keimzelle des Kreativen. Die Einzigartigkeit des Kunsterlebnisses, das mir den Rausch, eine Erscheinung, eine Idee oder ein Zugehörigkeitsgefühl offenbart, wird vom Staat subventioniert (beworben), damit aus der Erfahrung ein registrierter Staatsbürger erwächst; die Kunst entzieht den Menschen seiner Verfügbarkeit. Deswegen ist der Moment der Kunst ein ewiger, er hebt mich aus der Zeit und er versetzt mich in das Reich, in das der Staat nicht greifen kann. Hier stört die Kunst. Das Gegengift zur Störung ist die Werbung, sie speichelt ein, was ohne schwer zu schlucken ist. Das, formuliert als Berufsbild, klingt idiotisch, zumindest in den Ohren der Mehrheit, die nicht (oder noch nicht) lebt von der Kunst. Sie ist das große Surrogat der Arbeit, Berlin ist eine ihrer Metropolen und man wirbt dafür. Kunst, mag sein, ist Arbeit, aber Arbeit ist nicht Kunst. Kunst ist faschistisch, weil in ihr alles unter einen Führer bündelt, der Führer kann ein Kollektiv sein. Kunst ist asozial, weil sie auf Sozialitäten, Solidaritäten keine Rücksicht nimmt, noch wenn sie sozial und solidarisch wirken will. Unser Leben, unsre Arbeit ist Kultur. Kunst dagegen ist ein Angriff auf Kultur und auf das Leben. Kultur in Kunst überführt, ist materialisierte Transzendenz. Kunst ist sinnlos, sie hat keinen Nutzen. Kunst ist Verbrauch, wo sie Mehrwert schafft, ist sie schon Parasit. Wer Kunst als Lebensform mit der Konsequenz des Sterbens nicht nehmen kann, hat schon verloren. Positiv: Kunst kennt keine Sieger. Negativ: utopisch.
Thomas Martin
Erstaunlich jährlich Jahresende.
Daß es derart frieren wieder kann
Plötzlich frühe Dunkelheit
Das Unbehauste, Abgestoßene
Die Wende
Die bevorsteht, die du
Kaum noch glaubst, daß jemals
Wieder und schon bald, daß Schnee
Nach dem Kalender fällt, die hellen
Weihnachtssterne Kindern leuchten
Und Zäsur anschließend, jährlich
Ende.
Daß es frieren derart kann
Unterhalt und Unterhaltung, Lebensraten
Höher jährlich nach Prozenten, Krisen
Die nicht ausgefochtnen Kriege
Eigentum ist Eigentum geblieben
Tod gentechnisch länger kein Tabu
...
Daß es derart frieren wieder kann
Und wie oft noch dann die Wende
Thomas Martin
Daß Theater passiert ist eine Selbstverständlichkeit, wie der Berufsverkehr eine ist; bedauerlich, weil seine Nebenwirkungen und Kollateralschäden so alltäglich hingenommen werden wie seine Errungenschaften. Daß etwas stört, sollte – wenn die Störung einen Grund mit Absicht hat auf Wirkung – nicht als selbstverständlich hingenommen werden können. Wenn Theater den tatsächlichen Tod nicht länger überzeugend simulieren kann, ist es überflüssig wie ein Luftröhrenschnitt am toten Mann. Brechts Antwort auf eine Umfrage im Neuen Deutschland 1956, was Theater unter den Bedingungen des sozialistischen Aufbaus (dessen Prämisse das geeinte Deutschland war) bewirken müsse: Theater muß töten und zerstören können. Die Antwort wurde nicht gedruckt. Brecht starb von allein im selben Jahr. Er ist immer noch tot, tot wie Kleist, wie Melville, um zwei Findlinge der Literatur ins Feld zu werfen, auf dem wir uns bekämpfen. Wir können die Findlinge ausgraben und als Marksteine an den Wegrand setzen. Wir können ein Hünengrab bauen und Theater darauf spielen. Daß es töten und zerstören könnte, bleibt in unseren Zusammenhängen Utopie. Es geht um Legitimation: Wenn wir uns nicht legitimieren, können wir sterben. Anders gefragt: Wozu töten ohne Notwendigkeit? Wieder anders: Was soll Theater ohne Tod? Er ist die Voraussetzung von Theater, im Schatten seines Schweigens wurde das Sprechen, Jubeln, Klagen vor Publikum gefunden. Theater ist die erste kulturelle Selbstentäußerung des einen vor (wenigstens einem) anderen. Melville, Kleist, Artaud (um willkürlich zu bleiben) …: das Hünengrab der toten Dichter, mit dem die lebenden sich munitionieren. Die lebenden haben das Pech, ihre Störanfälligkeit, die ihr Störvermögen voraussetzt, beweisen zu müssen. Der Tod gehört als Möglichkeit dazu. Die Literatur, die Kunst, Theater sind Ausdrucksformen des Lebens, die ihre Notwendigkeit in vor allem einem haben: Unterhaltung. Wer nicht unterhalten werden kann, ist tot. Wer (sich) seinen Unterhalt nicht leisten kann, hungert aus. Zum Zweck von Unterhalt und Unterhaltung gehört die Erkenntnis, daß wir ohne Sinn und Denken Zombies sind auf Abruf. Der Tod ist ein Beispiel wie das Leben eins ist. Ein Feindbild kann mehr bewirken als ein Leitbild. Die Kunst ist die Schule der Selbstverletzer, der Abseitigen, Unergründlichen, Empfindlichen, der Asozialen, Heimatlosen. Ihr Feindbild ist der Zeitgenosse (das Feindbild des Zeitgenossen sind zu allererst sie) wie er in der Zeitung steht, die schweigende Mehrheit, sie ist der Referent der Politik. Der Mensch, der in der Kunst lebt, selten: durch die Kunst, definiert sich durch Konflikt. Der Künstler trägt ihn aus mit sich. Der Impuls der Kunst ist Zustandsänderung, das erste Medium der Künstler selbst. Er reagiert mit der Empfindsamkeit von Blutern, mit der Reizbarkeit Gestörter auf Kontakt im Versuchsfeld. Das Feld ist die Gegenwart, so hat es Dr. Benn, Spezialist für Krankheiten an der Form, diagnostiziert: „Kunst ist Irrsinn und gefährdet die Rasse.” Müller (Heiner) spricht, im Einheitsstrudel 1990, von der traditionsverbundenen Intellektuellenfeindlichkeit der Deutschen. Kleist, der nationale Sprachextremist, der in Penthesilea die Furie der Emanzipation mit der Taktik der kommenden Partisanen- und Bürgerkriege kreuzt, war ein frühes Opfer, ein Feindbild. Ein Feindbild auch Novalis, der Diamant an Schmetterlingsflügeln; auch Hölderlin, der Irre im Turm, er hat aus der Dichtung keinen Tisch zimmern können. Artaud, der Kopfschmerz an der Literatur, der an den Schmerz gefesselte Entfessler. Aussätzige, Ausgesetzte, abseits der Medien, vom Zeitgeist verpönt oder verfolgt, das eine schließt das andere nicht aus, sie sind ihre eigenen Kontinente, Metaphern wie Kontinentalplatten ineinander geschichtet. Der Wal, mag er weiß sein, ist das beinah perfekte, weil lebende Bild davon; Moby Dick das Wappentier der großen Unverstandenen. Zurück zum Straßenverkehr und zur StVO: „Im Verkehr entfallen die Umwege; der Unfall entmythisiert.“ Der Genius, der vom Fahrrad kippt, büßt ein. Die schweigende Mehrheit denkt ihren Teil. Wir brauchen die Mehrheit nicht. Wir brauchen Berufsverkehr, Stoßzeit, Unfälle, Störungen, keine Gewißheit. Wir haben die eine: Nur was Kunst ist, setzt sich durch; die Frage ist, wann.
Thomas Martin
Die Blutpumpe ist ein Apparat aus drei Teilen: organisch Herz-, Hirn- oder Nierenform mit Blutgefäßen, Nabelschnüren, Wirbelsäule mit den Nervenenden eines Menschen; zweitens ein Schrittmacher, elektrisch; scheinintelligente Steuerung drittens auf biomotorischer Basis. Die einzelnen Teile sind durch ein System flexibler Röhren, das die Gegebenheiten der Spielstätte durchläuft, miteinander verbunden. Der organische Komplex ist mit einem Knorpel aus synthetischem Gewebe bestückt, an den ein Mensch (Schauspieler) seinen Blutkreislauf über die jeweils freiliegende Nabelschnur koppelt. Die durchsichtige Nabelschnur ist von durchsichtigen Gefäßen zur Stabilisierung und zur Betrachtung des Blutflusses durchsetzt. Zur Kopplung dient ein ins Rückgrat implantierter Flansch, der das Gegenstück zum Knorpel bildet. Jeder Teilnehmer (Schauspieler) bestätigt sein Einverständnis mit dem Spiel durch die kurze und weitgehend schmerzfreie Operation in seinem Rücken. Medizinisches Personal (Schauspieler) sollte die fachgerechte Verbindung von Mensch und Menschenmaterial garantieren. Die Kopplung ermöglicht Bewegung im Radius der jeweiligen Körpergröße, zwei Meter maximal, die Bewegung möglichst gleitend. Eventuelle Überdehnung oder abrupte Bewegung wird durch akustische Signale (Schmerzen) angezeigt. Der Schrittmacher im Zentrum, ein Aggregat vom Aussehen einer überlebensgroßen Flachbatterie, eines Kühlschranks aus der Vorzeit, ist über ein Riemengetriebe an einen weiteren Motor gekoppelt, von dem eine permanent rotierende Welle abgeht, die Welle mündet in einen Quirl. Der Quirl rührt in einem metallenen, vom Publikum einsehbaren Bottich eine teigige Substanz, aus der Blasen aufsteigen und platzen. Der damit einhergehende Gestank könnte Einbildung sein; die Konsistenz der Masse sollte Gestank nahlegen können. Der Blutaustausch zwischen Mensch und Maschine findet über die Nabelschnur statt. Sie schließt an ein System verzweigter Röhren an, um Feststoffe aus der Flüssigkeit zu filtern. Die Feststoffe gelangen in Siebe, die – auf Achsen beweglich gelagert – kippen, wenn der Schwerpunkt überschritten ist, sie sammeln sich in einem Tank. Der Tank wird geleert von Bühnenarbeitern (Schauspielern), die Arbeit wird mit Widerwillen verrichtet. Was mit dem abtransportierten Inhalt geschieht, bleibt im Dunkeln. Vom Röhrensystem ab geht ein Schlauch. Aus dem Schlauch tropft Blut in den Bottich. Die Blutpumpe pumpt stoßfrei und lautlos. Sobald ein Mensch seinen Kreislauf mit dem der Pumpe koppelt, skandiert ihre Peristaltik die Bewegung des angeschlossenen Körpers, bis der Motor in Unruhe gerät bzw. der Austausch der Körperflüssigkeit des Teilnehmers mit dem der Pumpe abgeschlossen ist. Die Blutpumpe ist für mobilen Einsatz konzipiert, sie wird eingesetzt, wo keine Dramaturgie greift. Voraussetzung für das Spiel ist ein Erschöpfungs- oder Angstzustand, ein Zuviel an Erfahrung vielleicht. Die Pumpe funktioniert, wenn mindestens zwei Spieler ihren Organismus angeschlossen haben. Wer mit ihr arbeitet, läßt was er zu tun hat im Rhythmus ihrer Peristaltik aus sich fließen. Gedanken sind hier überflüssig. Die Pumpe kann Gebrauchsspuren aufweisen, wie der geborstene Reaktor eines Kernkraftwerks, ihre Funktion sollte davon unbeeinträchtigt bleiben, sie ist die Mutter der Spieler. Ein Hund umkreist den Bluttopf, springt hoch an ihm, rutscht ab an der Wandung, versucht weitere Sprünge. Falls ein Sprung gelingt: Ende der Vorstellung.
Urheberrecht: Es gelten die Spielregeln der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz. Jeder Mißbrauch wird spielregelrechtlich verfolgt.
Thomas Martin
Chicago, 5. Juli 2011
Lieber Thomas,
viele Grüße aus Chicago. Ich schreibe nur, weil ich etwas kleines mitteilen wollte. Ich habe morgen Premiere und während der Generalprobe heute Abend war ich auf einmal sehr enttäuscht – aber in mir. Die Schauspieler sind gut, die Techniker lieb, aber als ich das Ding angeschaut habe, war es mir klar, dass ich das Stück nur aus Lust, ein Theaterstück zu inszenieren gemacht habe und dadurch versucht habe, meinen politischen Glauben reinzustecken … draufzulegen … aber das geht nie, oder? Es ist wie ein Pflaster auf Krebs zu legen. Geht nicht … Auf jeden Fall bin ich nach Hause gekommen und habe viel an Theater vis-à-vis der Politik in Amerika gedacht. Ich habe an Euch gedacht, an die Volksbühne und die politische Wirkung, die Ihr (manchmal jetzt noch) habt. Und es gibt nur einen Fall, woran ich mich erinnern konnte, wo das Publikum in den USA provoziert wurde, bis das Publikum auf das Theater zurückgeschlagen hat. Eine Performance von Mike Daisey and The A.R.T., die ich eine Woche vorher gesehen hatte:http://www.youtube.com/watch?v=-IeMtQ-SZtA. Ist es nicht unglaublich, dass in einem Land, das ständig in Kriegsstand lebt und wo das Volk 50:50 in zwei geteilt ist, die Provokation mit nur einem WORT (bedeutungloses Wort übrigens) möglich ist?
A banal thought late at night, aber der Gedanke hat mich zu Dir gebracht und ich wollte diese Konfusion mit Dir teilen.
Amy
--
Berlin, 12. Juli 2011
Liebe Amy,
danke für deine Konfusion, die ich teile mit dir. Was ich dir sagen kann jetzt: Es kommt nicht darauf an, politische Kunst zu machen, sondern Kunst politisch zu machen. So (über Filme) sagt es Godard. Es ist sicher so, daß du Kunst machst, weil du Kunst und nicht weil du Politik machen willst. Kunst machst du, weil du anders nicht kannst. Jemand, der Kunst produziert, kann irgendwann auch Politik produzieren, auf deinem Kontinent eher als auf meinem. Aber eher wird ein Kamel durch ein Nadelöhr pinkeln, als daß ein Politiker Künstler wird. Künstler funktionieren nicht, sie stören Apparate. Politiker können ohne Apparate nicht existieren, sie sind Androide. Auch im Theater, auch in unserem, herrscht mehr Politik als Kunst, und im Zweifel sitzen unterm Publikum mehr Politiker, als Künstler. Daß du deine Kunst, dein Theater auch machst, um ein politisches Bewußtsein auszudrücken, ist ein Versuch am Realismus des Unmöglichen, und es ist normal, daß du Angst vor der Wirkungslosigkeit hast und enttäuscht bist. Sei es nicht. Von Brecht gibt es einen praktischen Satz für deine Lage: Talente soll man entmutigen. Man muß sie vor Illusionen schützen. Wie es klingt, hast du dich selbst geschützt. Mach weiter. Und natürlich ist die Kunst immer nur ein Pflaster aus Papier auf dem Krebs der Politik in uns. Oder der Hund auf der Autobahn, von dem Carl Schmitt spricht – es kommt darauf an, wieviele Hunde auf der Autobahn stehen, irgendwann stockt der Verkehr. So (oder ähnlich) hat es Heiner Müller gesagt, mit dem wir immer noch reden. Wo du Krieg sagst: Der permanente Kriegszustand der USA ist der Spiegel der Weltbürgerkriegssituation, die das letzte Jahrhundert bestimmt hat und uns heute noch verfolgt. Dagegen ist jedes Pflaster was es ist: ein Pflaster. Vielleicht wäre ein Schnitt manchmal besser, wie eine Wunde eine Krankheit offenlegen kann und nicht verdeckt. Das sind alles Metaphern, Worte alles. Aber die Worte sind unsre Waffen, und zum Beispiel ist ein Wort imstande, ein Massaker zu verhindern, nie aber ein Massaker in der Lage, ein Wort zu verhindern. Ein Wort kann die „unbesiegbare Inschrift” sein, die ein Mensch in die Mauer gräbt, an der er erschossen wird für seine Überzeugung. Von solchen Inschriften brauchen wir mehr, und manchmal reicht das eine, ein einziges Wort. Mehr kann ich dir nicht sagen, nicht jetzt.
Ich grüße dich: Thomas
--
Chicago, 2. August 2011
Lieber Thomas,
sorry that took so long. Ich habe gerade meine MA-Prüfungen bestanden. Danke auch für Deine Worte. Nun, ist es nicht auf eine Weise komisch, wieder in der Lage zu sein, „Worte sind unsere Waffen” sagen zu können? Ich habe lange die Worte gemieden, da ich sie so limitiert fand: zu national bezogen, zu kulturell-kontingent. Aber langsam komme ich wieder dazu, die Worte aufwenden zu wollen. Danke für die Ermutigung. Meinst Du aber wirklich, daß amerikanische Künstler es leichter haben, in die Politik einzusteigen? Außer Jello Biafra kann ich mich nur an Rechte (bzw. Rechtsradikale) erinnern, die von Hollywood aus in die Politik gestiegen sind: Reagan, Schwarzenegger, Sonny Bono. Das waren nie Leute, die versucht haben, Kunst politisch zu machen. Wir haben nie einen Jorge Semprùn gehabt, zum Beispiel. Deutschland auch nicht. Oder täusche ich mich? Ich frage mich auch, ob manche Künstler (vielleicht mehr in Deutschland als in den USA) Apparate brauchen. Was geschähe, wenn es kein Staatstheater-System mehr gäbe? Keine Opernhäuser? Vielleicht wäre das Resultat ein nützliches Einebnen der Kunst-Szene bei euch, der eine erneute Politisierung folgt? Dann hätten wir endlich mal genügend Hunde auf der Autobahn, um den Verkehr absperren zu können. Ich muss jetzt los, aber freue mich sehr auf die Fortführung dieses Gesprächs. Bis dahin alles Gute zu Dir und zu Euch.
Amy
Die Deindustrialisierung der Arbeitsgesellschaft führt zur Industrialisierung der Diskursgesellschaft. Man redet über das, was man tut, man redet über das, was man nicht tut. Man redet, um nicht zu tun. Manche tun, um nicht zu reden. Manche machen Kunst. Das vorherrschende Kunstverständnis ist ein Kunstmißverständnis. Ein Kunstverständnis ist ein künstliches Verständnis. Ein Kunstverständnis ist ein Mißverständnis, das zu zerstören ist, wieder und wieder. Zur Diskursgesellschaftsordnung, die eine künstliche Gesellschaftsordnung ist, gehört die Theatralisierung (Televisualisierung) des Alltags. Der Diskurs zum Diskurs hat spätestens mit Pollesch sein eigenes Genre gefunden. Polleschtheater ist eine Fotografie von Theater. Ein Foto der Kruppwerke sagt nichts über die Kruppwerke, sagt Brecht. Ein Foto vom toten Bin Laden sagt nichts über den toten Bin Laden. Ein Foto von Obama und seiner Zentrale im SITUATION ROOM sagt nichts über Obama und seine Zentrale im SITUATION ROOM. Ein Foto von einem Mord sagt nichts über den Mord. Ein Foto des Mörders sagt nichts über den Mörder. Ein Foto des Ermordeten sagt nichts … undsoweiter. Die Fotografie – eine Erfindung, die die Malerei befreit hat vom Zweck – ist die Technik der Manipulation. Sie ist die manifestierte Propaganda, das technische, das gefälschte Bild. Eine Fotografie der Volksbühne sagt nichts über die Volksbühne. „Um das Wesen der Kunst zu finden, die wirklich im Werk waltet, suchen wir das wirkliche Werk auf und fragen das Werk, was und wie es will.” Sagt Heidegger. Die Fotografie einer Inszenierung sagt über die Inszenierung, was der Zuschauer über die Inszenierung sagen (sehen) soll. Ein Foto von mir sagt nichts über mich; mehr über dich, der du mich fotografierst. „Tatsächlich gehört die Suche eines Standorts zur Suche nach sich selbst und die Manipulation der Situation zur Manipulation seiner selbst. Und umgekehrt. Was aber für die Fotografie gilt, gilt auch für die Philosophie und ganz einfach für das Leben.” Sagt Flusser, Philosoph der Fotografie. Ein Foto transportiert Geschichte. Literatur ist eine Funktion der Geschichte; sie muß geschrieben werden, bis sie geschieht. Verschiedene Erfahrungen sind nicht diskutierbar. Zwischen verschiedenen Erfahrungen kann die Kunst ein Mittler sein. Wie der Traum eine Grenze zieht zwischen Leben und Tod, zieht die Kunst eine Grenze. Zwischen Leben und Tod, zwischen Traum und Realität. DIE WAHRHEIT STIMMT NIE ist der Schlüsselsatz der Künste. Der Rausch ist ihr Glaube. Ohne Drogen kein Rausch. Zum Beispiel kann die Freiheit eine Droge sein, sie macht abhängig. Die Kunst und die Macht sind Drogen für Privilegierte, der Glaube bleibt für die, die an das andere nicht kommen, sie hoffen. Hoffnung ist der letzte Besitz. Nur wer frei von Hoffnung ist, ist wirklich frei.
Thomas Martin
Die globalisierte Welt ist die Metropole, deren Vorstadt überall ist. Fukushima, Lampedusa, Algier, Tunis, Tripolis, Bengasi, Kairo, Damaskus, Ramallah, Jordanien, Jemen, die Elfenbeinküste, Iran, Irak, Tokio, Peking undsoweiter und überhaupt. „Die Spirale der Geschichte ruiniert die Zentren, indem sie sich durch die Randzonen mahlt. In dieser Gangart, die sich aus dem Blickpunkt einer Generation der Sinngebung entzieht, liegt der Zweifel am Fortschritt begründet.“ (Müller im Theaterbrief an Gotscheff, 1983) Im Schatten des Fortschritts, der als Atomwolke über den Globus zieht, schlachtet Gaddafi seine Völker. Auch das freie Libyen, auch das freie Ägypten, Iran, Irak undsoweiter werden frei sein erst, wenn sie Ressourcen und Geschichte nicht veräußern müssen für den Wohlstand weniger und die soziale Befriedung der Massen. Auch ein freies Japan wird frei sein erst, wenn es vom Versuchsfeld der Atomindustrie, das es seit dem 6. August 1945 ist, zum Versuchsfeld gesellschaftlicher Utopien wird. Jetzt steckt das Land der strahlenden Sonne in der Schraubzwinge aus Atomindustrie und grüner Politik, die eine Erfindung der deutschen Industrie ist; ihre profitabelste, ihre nachhaltigste wie sich zeigt. Das Projekt des Globalismus – Schleifung aller Widersprüche zu Tauschwerten – ist die weltweite Deeskalationspolitik, die an den Ursachen der Konflikte nichts ändern wird, weil sie davon zehrt. Was kann die Kunst tun, wenn sie keine Berge, nicht einen Müllberg versetzen kann? Wie Überleben im Entäußerungsbetrieb Theater, wozu die Nischenkunst in dunklen Ecken überhaupt? Theater, auch wenn es nichts weiter als Kniefickerei und Selbstreferenz, Unterhaltung ohne einen Gedanken an Unterhalt ist, es ist ihr wenigstens entsprungen: einer Nahtoderfahrung des Menschen, der sich aus Zweifel (aus nichts sonst) Künstler nennt. Ibsen zum Beispiel. IBSEN ODER DAS PROBLEM DER SELBSTREALISATION IN DER KUNST: Wenn der Künstler ganz ins Werk eingeht, die Biographie Bibliographie wird, wenn er als Subjekt außer der Zeit steht, weil er historisch schon Objekt ist (vom Preisschild am Zeh keine Rede, rechtefrei). Das Problem der Selbstrealisation ist das Politikum in der Kunst: Wer sich selbst realisiert, greift die Wirklichkeit an. Solneß, Borkman, Werle alt und jung, die Republiken der Beleidigten oder Drei Formen mißglückten Daseins: VERSTIEGENHEIT, VERSCHROBENHEIT, MANIERIERTHEIT. Spielernaturen. In ihren Reichen Herrschende, die mit sich selbst nicht auskommen und den Selbstversuch am Nächsten austragen; der Künstler der Idiot trägts an sich selber aus für viele. Theater ist kein demokratischer Verein, keine Sekte und kein Bundestag. Theater, wenn es gut ist, ist Schlacht. Was ausgetragen wird, ist Krise, gelegentlich mit Lust. Theater ist die Gegenwelt, die wie Kohle komprimiert alles enthält, was draußen vorm Eingang passiert. Unter Umständen ist die Schlacht in der Kantine relevanter oder die Zukunft der Werkstätten, der Streit im Büro. Noch sind die Bühne und das Spiel auf ihr nicht zu denken ohne das Konfliktpotential der Außenwelt, sonst sollte VOLK nicht drüberstehn. Wie frei ist eine Gesellschaft ohne historisches Bewußtsein, eingespeichelt von der Medienindustrie, der jede Nachricht gut oder schlecht nur den Preis wert ist, für den sie verkauft werden kann? Was ist der freie Handel wert, wenn er zu immer größeren Differenzen im Besitzgefüge führt? Was ist Freiheit? Was ist Macht? Die alten Fragen. Macht ist dort, wo Informationen im globalen Gefüge hergestellt und ausgeteilt werden. Kunst informiert nicht, aber sie kann eine Information benutzen. Die Wahrheit stimmt nie; der freie Faust stirbt blind. Kunst stört, weil sie sich durchsetzt, wenn sie gut ist, rücksichtslos. Kunst kommt nicht von Können, Kunst kommt von Nichtanderskönnen. Kunst kommt von Künden:
Für Juliano Mer-Khamis, erschossen 4. April 2011 in Dschenin
Thomas Martin
Was Kunst und Politik vereint, ist bestenfalls der Größenwahn, was beide voneinanderhält ist die Diplomatie. Kunst ist nicht die Kunst des Möglichen, als die Politik gern verkauft wird, Kunst ist nicht das Pissoir der Kompromissler, sie ist im Gegenteil der Ort der Radikalen, eine Zone des Terrors (gegen den Künstler selbst oft genug), nimmt auf Verluste keine Rücksicht, macht keine Gefangenen, setzt sich (früher oder posthum) durch. Ohne einen Ansatz krimineller Energie ist Kunst nicht durchsetzbar. Wer Theater an den Mann bringen will, kann Gebrauchtwagenhändler sein, eine Veranlagung als Triebtäter nützte ihm mehr. Dass Dramaturgie Intrige ist, hat Lessing in Hamburg als These von Nationaltheater festgeschrieben: Wer sich nicht fürchtet, das Schicksal seines Nächsten zu leiden, ist den Preis für ein Ticket nicht wert. Eine Nation ist ein Bund gegen die Angst vor dem Fremden. Integration ist Selektion, wer nicht mitmacht, gehört nicht dazu. Die Kunst kann ein Medium von Integration sein, sie schließt niemanden aus. Sie schließt nicht jeden ein. Verständnis ist nur bedingt eine Kategorie von Kunst. Die fröhliche Muse geht mit der kalten der Geschichte Hand in Hand über Leichen. Die einzige Erfahrung, die etwas bewirkt, ist die Angst. Angst macht die Ahnung, dass dein Nächster Richter sein wird über dich. Gegen die Angst wirkt der blinde Wille und die Wut der Kunst. Die Blindheit des Willens gehört zur großen Politik. Große Politik braucht großen Willen, Charaktere, die ihren Abgrund blind überschreiten. Der Abgrund kann der Abstand sein zwischen Pinsel und Leinwand, der Abstand zwischen ich und mir, zwischen der Rampe der Bühne und den Köpfen da vorn, in denen der Straßenverkehr und der Ehekrieg tobt, oder die Angst um etwas. Die Angst mit Form zu besiegen, zu transportieren an ein Publikum, ist eine Fähigkeit von Theater. Kunst und Politik und Krankheit, drei Formen blinden Willens, gegen die nur die Zielrichtung des Mittelmäßigen etwas ausrichten kann. Zum Beispiel Erfolg. Erfolg ist die Komponente des Profits, Stillstand in der Kunst. Erfolg ist, wenn etwas überschaubar, berechenbar wird, ein Marktgegenstand im Regelwerk der Zirkulation. Kunst kann nur wirken, wenn sie Kontrollmechanismen außer Kraft setzt. Kunst ist ein Arschtritt, kein kontextuales Gestreichel. Kunst ist Terror. Kunst ist Liebe. Kunst ist extrem. Sie hat keinen Zweck, als sich vom Zweck zu befrein. Das zu ermöglichen, ist Aufgabe von Kontrollinstanzen, die sich unterm Klingelschild Kulturpolitik bündeln. Solange eine Kraft blind ist, ist sie eine Kraft. Kunst ist mächtig, weil sie ohnmächtig ist. Sie durchzusetzen, öffentlich und erfahrbar zu machen, braucht es eine Macht, die zu formulieren selbst eine Kunst ist: Arbeit, die sich selbst abschafft. Genie ist Fleiß, Fleiß noch lange nicht Genie. Was Kunst so einzig macht, zur unverweslichen Utopie, ist die Verbindung von Arbeit und Feier, weil die Feier, das dionysische Gen noch im Menschen von heute, sich der Regulierung widersetzt. Kunst ist überstürzte, kopflose, blinde Praxis, die das Subjekt der Kunst an die Grenze des Vermögens, der Erschöpfung trägt. Sein Ego wegzuschmeißen, kann sinnvoll sein für ein Subjekt, sinnvoll sein für einen Grund. Der Grund der Kunst ist ein Abgrund. Erst wer tief genug sinkt, wird zum Stehen kommen, mit Blick auf die Geschichte, wie sie sich von unten zeigt. Geschichte ist ein Abriss von Konflikt, ein Scheiterhaufen, in der Schichtung nisten die Viren, die die Krankheit Kunst erregen. Nicht was gut ist, nur was Kunst ist, setzt sich durch. Die Künste, und erst recht die schönen, entstehen aus Konflikt, Konflikt zwischen dem, was ist und was sein könnte.Es gibt keinen Ausgleich.
Thomas Martin
Was ist denn mit Ihnen los? / Mit mir? Ach, ich hatte ein merkwürdiges Erlebnis. Nicht merkwürdig, aufregend eher … / Da nehmen Sie, das beruhigt. / Danke sehr. / Und jetzt erzählen Sie! / Gut also … Was ist? Warum starren Sie mich denn so an? Was machen Sie denn da? / Ich starre nicht, ich bin taubstumm und will nur Ihre Geschichte hören. Ich lese von Ihren Lippen. / Das ist aber eine merkwürdige Situation. Was macht man denn da? Ich war noch nie in der Lage … / Erzählen Sie einfach. / Na gut … ja, also ich bin auf dem Weg hierher durch die Rosa-Luxemburg-Straße gekommen … / Teufel! Da sind Sie ja knapp an unserem Rotlichtviertel vorbeigeschrammt. Da ist doch auch der Babystrich. / Nein, der fängt Ecke Linienstraße erst an! / Am Pizza-Express? / An der Erdbeerbar! / Na, lassen Sie nur, wir sind doch alle erwachsen und die Kinder sind auf dem Spielplatz. / Normalerweise kommt man durch die Rosa-Luxemburg-Straße ja unbehelligt, jedenfalls um diese Zeit. Aber heute … / Sie sind behelligt worden? / Ja. Nein. Ich meine: Ja und nein. / Wie? / Eine sehr junge Frau, oder besser doch ein sehr junges Mädchen, stand an der Mauer, lehnte an der Mauer, ich sah ihr gleich an, dass etwas nicht … dass sie … nun, sie trug einen extrem knappen Kunstlederrock, einen Schurz wohl eher, mit Noppen, überall Noppen, und sie, sie weinte, hat furchtbar geweint, ihre Arme hingen herunter, die Schminke war verwischt, und die Schuhe … / Schuhe!? Keine Stiefel? Ich dachte immer, die tragen Stiefel. / Dachte ich auch, ja. Vielleicht … vielleicht musste sie sparen … / Und Sie, Sie wussten nicht, was tun? / Nein. Ich hatte natürlich Mitleid. Und außerdem, wie spricht man eine solche … wie soll ich sie bloß nennen … an? Was für Erwartungen hat dieses Mädchen, wenn es von einem Mann an dieser Ecke angesprochen wird? Was erwartet es, was ich von ihm erwarte? Und ist es in der Lage zu sehen, dass ich das Problem habe, nicht wissen zu können, was es von mir erwartet? / Gut gut gut, aber was haben Sie gemacht? / Gar nichts. Lange Zeit gar nichts. Ich war so unschlüssig wie selten in meinem Leben. Das Mädchen offenbar aber auch. Sie sah mich an, von oben nach unten, von unten nach oben, während die Tränen noch liefen, wir standen … / Sie machen mich nervös! / Wir standen und warteten auf ein erstes, alles entscheidendes, wie soll ich sagen: Ereignis. Wie zwei Kinder aus verschiedenen Welten, und dann sagte sie: Haste mal n Taschentuch? / Was? / Haste mal n Taschentuch? / Und Sie? / Ich gab ihr eins und sagte: Kannste behalten! Und sie fing an zu lachen und ich versuchte zu lachen, dann bin ich fort, so schnell wie möglich, und als ich mich umdrehte, war sie verschwunden. / Das war alles? / Ja. / Wirklich alles? / Ja. / Tatsächlich alles!? / Wenn ich es Ihnen doch sage! / Ich muss sagen, diese Geschichte befriedigt mich nicht. / Man hat mich gefragt, was mir passiert sei, und das war, was mir passiert ist. / Was soll man sagen: Der Mensch ist unberechenbar. / Wem sagen Sie das.
Thomas Martin
Die Geschichte der Aufstände Berlins ist, was die letzten Jahre angeht, kurz. Der am 4.11.1989 von Heiner Müller zwischen Volksbühne und Fernsehturm öffentlich geräusperten Aufforderung zum Tanz auf den Straßen Berlins, „wenn nächsten Mittwoch die Regierung zurücktritt”, ist niemand nachgekommen. Getanzt wurde zu Füßen Kohls in Leipzig und Dresden. Getanzt wurde in Post- und Bankfilialen für 100 Deutschmark Beitrittsgeld. Der Aufstand fand, schlecht choreographiert, am 1. Mai 1990 statt, als Steine West (Schotter vom Gleisbett Schlesisches Tor) ein erstes Mal auf ostberliner Köpfe prasselten. Er fand statt in der Nacht vom 2. zum 3. Oktober auf dem Alexanderplatz, auf dem ein Mercedes SL symbolisch verrauchte, während statt der Fressetage des KaDeWe die ärmlichen DELIKAT-Läden geplündert wurden, und Polizei aus Bayern und Baden-Württemberg die eben-noch-DDR-Hauptstadt freudlos mit Knüppeln durchpflügte. Der Aufstand fand statt gegen die Räumung der besetzten Mainzer Straße/Friedrichshain im November 1990, in deren Folge ein Senat vom Hocker fiel. Er fand nicht statt in Streiks und in Wahlen. Er hatte seine irrationale Stunde (wenn wir von deutschen Zuständen seit 1945 reden) am 17.6.1953, am 9.11.1989; danach Einheit und Befriedung, eine Epoche der Restauration, die den 7jährigen grün-sozialdemokratischen Irrtum einschließt. Das alles ist lange her, und Kuba ist immer noch kubanisch. Vielleicht hat Kuba keinen Aufstand nötig seit 1959, was wissen wir. Vielleicht findet der Aufstand nur noch im Feuilleton statt, vielleicht braucht ihn keiner. Berlin ist nicht Stuttgart, noch nicht, Bahnhöfe sind Staatsräson hier und Flughäfen für weite Schichten der Bevölkerung ein Loch im Speckgürtel mehr. Wenn die bürgerliche Demokratie keinen Aufstand produzieren kann, nur ökonomische Bewegungen, Verwerfungen und Korrekturen mit angeschlossenem Skandalfaktor, kann es vielleicht noch die Kunst. Seit Schlingensiefs Dogma „Kein Tabu außer Kindesmißbrauch”, ist das letzte Tabu benannt (auch das wird von der Kunst erledigt werden). Der Ort, wo Kunst und Wirtschaft sich treffen und durchdringen und effizient einander zu bedingen scheinen wie Herr und Knecht nach Hegel, ist der virtuelle. Das Netz gibt jedem Aufstand und jedem Tabubruch Raum, so selbstverständlich wie die Supermärkte Waren bergen. Im Netz kann jeder seinen Aufstand buchen, sein Manifest, seine Quellen anlegen, abschöpfen und auslaufen lassen. Es hat nichts zu bedeuten, ist bestenfalls Vision. Jede Vision hat ihr Ende in der Tat, jede Theorie ist brauchbar, bis sie von ihrer Praxis widerlegt werden kann. Die unsichtbaren Autoren des KOMMENDEN AUFSTANDS sehen es so: „Die Bedeutung der Diskussionen und praktischen Versuche, die in den letzten Jahren um die Idee des Aufstands kreisen, sehen wir in der Erneuerung einer lebendigen revolutionären Perspektive, im handgreiflichen Ringen um die Wiedervereinigung von Denken und Handeln.” Wo Denken und Handeln getrennt sind, hat Theater eine Chance. Man muss es nicht didaktisch sehen, aber die Bühne ist die Retorte des Aufstands, der hier und nirgendwo sonst geprobt werden kann. Die Volksbühne ist der Ort des Aufstands auf den Brettern, sie ist die Gegenrepublik der Theaterrepublik, nur sie kann es sein; sie kann es nur sein, indem sie den Aufstand permanent unternimmt gegen sich selbst.
Für Michi
Thomas Martin
Die Geschichte der Zivilisation ist die Geschichte von Verdrängung. Verdrängte Widersprüche, Widerstände, Minderheiten, verdrängte Sterblichkeit und Tod. Die Geschichte der Kunst zeigt das Gegenteil: Offenlegung und Behauptung von Widersprüchen, Sterblichkeit und Tod. Kunst ist Korrespondenz mit Toten, seit in Steinzeithöhlen das Bild von etwas an die Wand gemalt wurde. Beuys’ Behauptung, in jedem steckt ein Künstler, stimmt, weil in jedem ein Sterbender steckt. Der Mensch wird kreativ, weil er nicht sterben will. Die Ausnahme, dass er kreativ wird, weil er sterben will, bestätigt die gemeine Regel. Heiner Müllers Kulturdefinition, „Es geht darum, daß die Toten einen Platz bekommen”, ist als Regieanweisung für ein Theater, das sich als Widerstandsdestille gegen den Panzer aus Fundamentalkommerz und Kulturliberalismus versteht, gut zu brauchen. (Der Satz liest sich so schwierig wie er umzusetzen ist, prost!) Jedes Theater hat seine Toten auf dem Friedhof und seine Leichen unterm Teppich. Jedes Theater hat seine Geschichte und sein Verdrängungspotential. Die Volksbühne ist der Platz für Totenfeste, die gefeiert werden. Von außen eher Sarkophag als Musentempel, arbeiten die Lebenden drinnen sich ab an Toten und Geschichte, bis der Sargdeckel fliegt. Geschichte wird mit Kunst gemacht. Kunst schafft eine andere Welt, sie macht die Welt wie sie ist unmöglich. Die Sehnsucht nach dem anderen ist, je nach Gebrauch, Wünschelrute oder Krücke, an der die Menschheit sich durch die Zeitalter und über die Schlachtfelder bewegt, im Sprung, im Stolpern, im Fall, auf allen Vieren, wenn sie noch kann im aufrechten Gang. Geschichte mit Kunst formulieren, heißt kämpfen um Erinnerung. Walter Benjamin, seit 70 Jahren tot, die Rechte sind seit gestern frei, hat es nur für den Nachlass schreiben können: „Dem historischen Materialismus geht es darum, ein Bild der Vergangenheit festzuhalten, wie es sich im Augenblick der Gefahr dem historischen Subjekt unversehens einstellt. Die Gefahr droht sowohl dem Bestand der Tradition wie ihren Empfängern.” Wir sind historische Subjekte, und uns droht Gefahr. Benjamin benennt auch die: zum Werkzeug der herrschenden Klasse zu werden. Das finstere Vokabular aus der Vorzeit passt in ein Wort: Konformismus. Herrschaft ist politisch und ästhetisch real. Mode ist Mode, modern ist nur Kunst, sie stellt das Gegebene infrage. Das größte Pfund, das wir gegen die Gleichschaltung jeder Art haben, ist die Geschichte. Angesichts von Verhältnissen, die so freud- wie trostlos an der Schleifung von Widersprüchen arbeiten — weil die Schleifung das von Markt und Konsum versprochene Lebensgefühl einlöst — kann der Gang in die Tiefe eine Befreiung sein. Unter der Unterbühne liegt Berlin im märkischen Beton. Berlin glänzt, Berlin ist am Arsch. Nie war die Stadt so am Boden, so erfolgreich plangemacht, nie so wie heute. Konfliktpotential, das über krisenhafte Situationen zu revolutionären führen könnte, wird in die Randzonen verschoben. Die Volksbühne ist ein Randgebiet von Politik, Geschichte, Kultur. Sie ist der Ort, wo sich alles überlagert und entlädt. Müller zum Schluss: „Wer mit sich identisch ist, der kann sich einsargen lassen, der existiert nicht mehr, ist nicht mehr in Bewegung. Identisch ist ein Denkmal. Was man braucht, ist Zukunft und nicht die Ewigkeit des Augenblicks. Man muß die Toten ausgraben, wieder und wieder, denn nur aus ihnen kann man Zukunft beziehen.”
P.S. Bestattungen auf dem Rasendreieck des Rosa-Luxemburg-Platzes sind erlaubt. Diese Erlaubnis gilt vorbehaltlich der Erteilung einer Ausnahmezulassung nach dem Immissionsschutzgesetz durch das bezirkliche Umweltamt oder der Senatsverwaltung für Gesundheit, Umwelt und Verbraucherschutz.
Thomas Martin
1.) Ihr dürft nicht rechnen!
2.) Gehn wir von Ideen aus: wir haben zu viele. Jede, aus der eine Praxis erwächst, zeugt mehr Ideen und verschmutzt die gedankliche Umwelt. Ideen, die Wirklichkeit werden, verschmutzen die wirkliche Umwelt. Wo die Idee umgesetzt wird, ist, für den Urheber wenigstens, Grund zum Feiern. Wo gefeiert wird, fällt Dreck an. Dreck ist, was in keine Struktur paßt, was beseitigt oder passend gemacht werden muß. Dreck bedeutet Hoffnung.
3.) Die Arbeit des Künstlers ist ein Privileg, weil sie ein Fest ist. Die Verstaatlichung des Festes oder seine Besetzung mit Ordnungsstrukturen widerspricht seinem Charakter, dem der Grenzüberschreitung. (Müller)
4.) Wir rechnen nicht, wir feiern: ein Fest für die Stadt, für Schlingensief eins, eins für Godard, ein Fest für die Arbeit, die Kunst bedeutet, wenn Kunst durchgesetzt werden muß, eins für die Liebe.
5.) Libe ist bloß ein Vierbuchstabenwort. (Zimmermann)
6.) Wir wollen kein Denkmal sein! Wir fordern Rauchfreiheit! Weil Rauchen Kunst ist, sie ermöglicht uns den frühen Tod.
7.) Wo Schlingensief der Zeitraffer der Deutschen Frage war, das lebende Verwertungsterroraggregat ihrer Abwicklung, fiel Dreck an und war Volksbühne. Wo Schlingensief war, war VOLKSBÜHNE: die Metapher ins Leben zu reißen, wieder und wieder, in welcher Weltecke immer, hat ihn als Kunstarbeiter ausgemacht.
8.) Kommt uns nicht mit Ausgewogenem! Es gibt keinen Erfolg, es gibt nur Wirkung.
9.) Kunst kennt keine Sieger. (Schlingensief)
10.) Wer angegriffen wird, soll sich wehren. Nicht, um zu gewinnen, nur aus Prinzip.
11.) Wer Kunst macht, bäumt sich auf. Kunst kommt aus Chaos, Störung, Unbehagen. DIE KUNST und DAS LEBEN stehen im Widerspruch zueinander. Beide sind Behauptungen. Wie die Krankheit zum Leben gehört, gehört die Kunst dazu, weil sie stört. Sie macht anderes möglich, hebt den Blick über die Dinge, verfremdet. Die Einheit von Kunst und Leben bedeutet das Ende der Kunst, das Leben macht weiter.
12.) Godard, der den Film sich selbst sehen gemacht hat, lebt.
13.) Wer lebt, macht Müll.
99.) Die Nutzung des Rasendreiecks auf dem Rosa-Luxemburg-Platz ist erlaubt.
100.) Diese Erlaubnis ist mitzuführen und auf Verlangen zuständigen Personen auszuhändigen.
101.) Zuständig sind Inhaber einer Eintrittskarte der Volksbühne.
Thomas Martin
Die einzige Erfahrung, die etwas bewirkt, ist die Angst. Sie offenbart das Nichts, das gefüllt werden muss mit Entwurf, ohne den sich die Frage nach dem Nichts erst stellt. Die Angst vor etwas bringt das Ganze ins Rutschen, sie trägt ein Leben lang, vom ersten Schrei bis zum letzten, meist ein Seufzer oder Stöhnen. Das Glücksmoment produziert die Nebenwirkung Angst, es nicht reproduzierbar machen zu können. Angst ist Angst vor dem, was (wieder) kommt. Auch die TECHNIK DES GLÜCKS ist eine Arbeit, bei der es auf die Produktionsverhältnisse ankommt. Das erste Menschenbedürfnis, Glück oder die Schwerelosigkeit der Neuronen im Hirn, speist sich aus der Sehnsucht nach einem ungebundenen Davor. Vergangenheit ist Herkunft, Heimat der Versuch, Vergangenheit bewohnbar zu machen; die ideologische Ausprägung Patriotismus, wenn die Vergangenheit sich sträubt. Vor sieben Jahren: DEUTSCHLAND SUCHT DEN SUPERSTAR oder DIE STRASSE DER BESTEN. Weihnachten 2003 wählt das Fernsehen die ersten unter den Deutschen, gewonnen haben die Toten, Adenauer vor LutherMarxGoethe. Der beste Indianer ist der tote Indianer, er kann im Gegensatz zum lebenden verwertet werden. Am besten gegen den noch lebenden. Hegel spricht vom UNGLÜCKLICHEN BEWUSSTSEIN, dessen Denken Andacht ist, weil ihm der Gegenstand fehlt. Ein Vaterland zum Beispiel, eine Muttersprache. Die Deutschen von außen besehen: das über Generationen gebrochene Bewusstsein in Reparatur, ihm fehlt immer noch ein Selbst. Dagegen hilft nur das Fremde. Wo der Zwang der Vater des Gedanken ist, kann die Freiheit seine Mörderin sein, in der Epoche des Surplus wahrscheinlicher als in Zeiten der Not. Man besetzt sich selbst, wird seine eigne Provinz, macht die Hauptstadt im Kopf zum Appendix am Darm. Was der politische Zwang im Totalitären erzeugt hat, erzeugt der soziale Zwang heute: Eunuchen, prekäre Figuren. In der U-Bahn spricht ein Mensch von der obdachlosen Transzendenz unsrer Zeit, ein anderer liegt in einem Sack vor der Volksbühne rum, im windverstopften Eingang des Pavillons rechts. Gegenüber glüht das LINKE-Haus voller Parolen und gewienertem Geschichtsbezug, in einem Bezirk, der beste Aussichten hat, die Vitrine der Hauptstadt zu werden. Das Quartier als Museum, der östliche Halbhauptstadtbezirk nach Gehirn- und Blutwäsche restauriert, resozialisiert, umsortiert. Wer Geschichte will, muss das Museum stürmen. Anlässlich Mehrings: KAUFMANN, ein Stück höllische Komödie, Großstadthammerkrachen, unerhört. Wir müssen die alten Aggregate ins Laufen bringen, um die neuen zu verstehen. Mit Mehring zum Beispiel, der sein Traktat gegen die Verhältnisse Berlin/1923 ins Assoziative kleidet; verhöhnt von Brecht, der Marx reklamiert, mit dem er seine JOHANNA in die SCHLACHTHÖFE Chicagos verschickt, im Jahr der Krise 29. DIE ANGST IM NACKEN IST SOZIAL. Dass die DDR als Museum überleben würde, darauf hätte niemand gewettet. Nach der Abwicklung des Staatsgebildes, der Betriebe und der Arbeit, bleiben die Landschaften schweigend zurück. Sie behalten ihre Geschichte für sich, da und dort werfen sie ein Bruchstück aus, das aufzuheben die letzten Eingeborenen angestellt sind. Keine Angst vor der Angst, ganz unten ist immer ein Stehplatz zu haben. U-Bahn: Transzendente Obdachlosigkeit.
Thomas Martin
Massiv durch Blödsinn beworben – be BERLIN und schlimmer – ist das Bewußtsein verdrängt worden für das, was Berlin unter Preußenkönigen und Kaisern, unter Weimar, Hitler, Ost- und Westpotentaten war: ein Widerstandsnest. Der Titel HAUPTSTADT, doppelt belichtet und vom Kopf her gesehen, sagt: Behauptung. Der Mensch behauptet sich mit Denken, der Berliner, wo es ihn noch gibt, mit Schnauze. EXTREM JERNE POLITISCH, zum Beispiel. Merke: „Berlin kannste nich erobern, in Berlin kannste dir höchstens behaupten.“
BÖSE BLEIBEN! BANDEN BILDEN – NAMEN KLAUEN: BÜLOW-, WESSEL-, LIEBKNECHT-, LUXEMBURG-, SCHLINGENSIEF-:PLATZ!
Thomas Martin
“Begin at the beginning and go on till you come to the end; then stop.” Der erste Lehrsatz des Surrealen: Von vorn anfangen, zum Ende gehn, Schluss. Der Auftrag des Realen ist, den Anfang zu finden, das Ende zu definieren, den Halt möglich zu machen. Der Weg ins Ungewisse wird der Weg ins Uferlose sein. Das Neue ist das Unbekannte, ohne Schrecken nicht zu haben. Vor Untiefen kann nicht gewarnt werden. Halt auf dem Weg geben Sandbänke und Inseln, wo wir keine finden, schütten wir sie selber auf. Inseln der Unordnung, gestaltet aus Unfertigem, Spektakel vielleicht. Möglich, dass aus den Inseln am Ende im Kalender ein Kontinent wächst, möglich eine Landzunge bloß, am Ziel, das nur ein Zwischenhalt ist. Oder anders: eine Position im Spiel, die wir behaupten, ein KIRSCHGARTEN unter Umständen. „Sie schauen kühn nach vorn, liegt das nicht daran, daß Sie nichts Furchterregendes sehen und erwarten, weil das Leben Ihren jungen Augen noch verborgen ist? Sie sind kühner, ehrlicher, tiefer als wir, aber denken Sie sich in uns hinein, seien Sie großzügig, mit einer Fingerspitze nur, schonen Sie mich.“ Tschechow, Vollstrecker der Konversation und Vater des Absurden. Tschechow liest Stalin auf der Krim, spuckt Blut aufs Papier von BRDSOLA, DER KAMPF, „Organ des revolutionären Flügels georgischer Marxisten“. Stalin, Dschughaschwili noch, plädiert für „eine großzügige demokratische Verfassung, die sowohl dem Arbeiter und dem niedergedrückten Bauern als auch dem Kapitalisten gleiche Rechte gewährt“: 1901, Uraufführungsjahr der DREI SCHWESTERN. Stalin, Vollstrecker des Absurden. Im Gegensatz zu Tschechows Schwestern ist er in Moskau angekommen. Terror ist die politische Katharsis der Masse. Der Einzelne kann sie auslösen, vom Flugzeug aus, mit Bomben in der Tasche, um den Bauch gebunden, in der Schule, im Theater. Der Geist des Terrorismus ist, nach Baudrillard, die Vernichtung des Tauschs. „Irreduzible Singularität innerhalb eines generalisierten Tauschsystems“. Das System des Kapitalismus, restlose Verwertbarkeit des Einzelnen über den Tod hinaus und zurück durch die totale Reproduzierbarkeit, hat seinen Prellbock im Terrorismus gefunden. Wo der Horizont der Geschichte sich zu schließen beginnt, bleibt als Blickpunkt die Vergangenheit. Wo ein Ende der Geschichte abzusehen ist, dreht man sich um. Der Rückweg verspricht mehr: ein Verständnis der planierten Gegenwart vielleicht, die keinen Entwurf für den Menschen außer der ewigen Verwandlung hat. Das Denken von der Umkehrbarkeit schließt das Wiedersehen mit den Toten ein. Theater ist Totenbeschwörung seit der erste Chor sein Lied einem Einzelnen gesungen hat vor Publikum. Godards Erkenntnis, Kino bedeute, dem Tod bei der Arbeit zuzusehen, entspricht im Theater die Unmittelbarkeit des Augenblicks, er kann nicht konserviert und nicht geschnitten werden. Augenblick ist Exzess und Extrem, Stille und Körper und Atem. Der Gestus zwingt ihn ins Licht. Terror ist der asoziale Gestus, der den sozialen erzwingt. Wer die Bombe diskutiert, sprengt den Diskurs. Brecht schreibt Lehrstücke, gegen Erfolg und für Wirkung: „Der Staat kann die asozialen Triebe der Menschen am besten dadurch verbessern, daß er sie, die von der Furcht und der Unkenntnis kommen, in einer möglichst vollendeten und dem einzelnen beinah unerreichbaren Form von jedem erzwingt.“ Der Zwang ist die Kunst. Sie ist der Prellbock des Terrors und der Staat der Zukunft. Kunst ist die letzte, Heimat erste aller Utopien. Das Theater an der Linienstraße trägt den Titel, der beides in sich schließt, VOLK ist nur wo Heimat ist, BÜHNE nur wo Kunst. Ursprung ist das Ziel, und zwar: politisch. Macht eure Unterschriften selbst:
- - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - -
Thomas Martin