Filmbühne: Die Ameise der Kunst/Animals of Art
Ein Film von Peter Sempel (94', D 2010)
Bazon Brock: AMEISEN DER KUNST
Zu einem Film von Peter Sempel (Die Ameise der Kunst/Animals Of Art, 94min)
Bisher gab es drei Großklassiker des Films als Reflexion künstlerischen Arbeitens: Buñuels Andalusischer Hund (1929); Le mystère Picasso von Clouzot (1956) und Werner Nekes' Uliisses (1982). Nun bietet uns Peter Sempel mit Die Ameise der Kunst eine weitere Bemächtigung der Botschaft, dass das Medium Film die säkulare Version des Heiligen Geistes der christlichen Trinität von göttlicher Schöpfung, Wirkung und Vermittlung ist. In staunenswertester Weise parallelisiert Altmeister Sempel die Evolution der Natur mit der Evolution des Malwerks von Künstlern wie Jonathan Meese, Daniel Richter, Peter Doig u.a.
So wie die harte Wahrheit der Naturentwicklung "Fressen und Gefressen werden" heißt, so heißt die permanente Werkgenese durch Wandlung unter dem Druck von Zeit, Rhythmus, Elan vital und Selbstverzehr des Akteurs "Malen um vermahlt zu werden".
In nie gesehener Eindringlichkeit zeigt Sempel die brutale Eigendynamik der inneren Logik von Gestalten, die den Künstler selbst zum unbändigbaren Werkzeug des Prozesses werden lassen, den man Kunstproduktion nennt. Analog lässt die Naturevolution die Tierindividuen zum allerdings unverzichtbaren Werkzeug der nicht steuerbaren Entfaltung genetischer Potenziale unter beliebigen Umweltbedingungen werden.
Die glanzvolle Spiegelung/Reflexion des Leopardenfells, des Krokodilpanzers, des Echsenkehlsacks in der Farb- und Formgewalt kontinuierlicher Produktion von Bildern als Malereien, als Schuhdesign oder Ganzkörperimitaten gelingt Sempel derart, dass der Kunstliebhaber bereit wäre, sich in den Strom der Bilder zu stürzen - um die "Erde, das heißt die Kunst, zu verlassen, damit sie schöner werde". Man erkennt die harte Arbeit unter dem Diktat unaufhaltsamer Wandlung aller Gestalten. Die herausfordernde Frage an den Betrachter heißt: Bist du bereit, dich der Diktatur der Wahrheit aller evolutionären Prozesse zu unterwerfen, wie das Meese für sich deklariert?
Da zucken wir alten Humanisten und Utopiker und erheben uns als Riesenschatten vor der Leinwand, um die Wahrheit zuzudecken. Wir bestehen auf radikaler Kritik an der Wahrheit der Naturevolution wie der Kunstevolution aus dem Geiste der Utopie. Irrtümer zu kritisieren ist Kinderkram. Die Wahrheit radikal zu kritisieren, ist das edelste Zeichen menschlicher Rebellion gegen alle zwingenden Einsichten in gesetzmäßige Verläufe - und selbst der schiere Zufall gehorcht noch solchen Gesetzen.
Utopien sind die Quelle der Kritik an allen harten Wahrheiten der Natur, der Kultur sowie der Kunst und Wissenschaften. Wir meinen die Utopien der Vollendung, der Bannung der Zeit, des Stillstellens auf Dauer, der Sinnhaftigkeit und der ewigen Wiederkehr alles Lebendigen durch das Leben in eigenwürdiger Gestalt. Wer Sempels Film zwei Stunden durchhält, beweist genügend psychische Stabilität, um dem grausamen Gesetz entindividualisierter Wandlungsgewalt entgegentreten zu können, denn in seinem "wilden Herzen nächtigt weltlos die Unvergänglichkeit".