Dämonen
von Fjodor Dostojewskij
Leben, Tod, Gott, Erlösung, Revolution? Wer im Abgrund lebt, hat das Gröbste hinter sich. Und hat es nicht nötig, darüber zu reden. Das Absurde ist selbstverständlich. Am Ende der Welt, wie wir sie kennen, ringen die ältesten Bewohner am verzweifeltsten um ihre Zugehörigkeit zu einem Projekt, das ein Jüngerer längst prophetisch als despotisch denunziert und ein noch Jüngerer gerade auf Grund dieser Prophezeiung schon in die reale Despotie geführt hat. Dostojewskijs „Dämonen“ spielt am Übergang vom religiösen Glauben zur materialistischen Ideologie, doch ahnt das Werk nicht nur den nahenden Tod Gottes voraus, sondern auch schon das Scheitern des Sozialismus. Entstanden in den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts, als die großen Reformen in Rußland revolutionär-anarchistische Grüppchen gebaren und ganze eben noch als fortschrittlich geltende Generationen über Nacht ins Hintertreffen brachten, eröffnet der Roman nicht nur ein philosophisches Panorama des unterschiedlichen menschlichen Strebens nach Transzendenz, sondern knüpft auch derart schicksalhafte Bande zwischen den einzelnen Strebenden, daß am Ende nur der ganze Schrecken staatlicher Konstitution der allgemeinen Vernichtung Einhalt gebieten kann. Schönheit und Terror paaren sich vor Einbruch der Dunkelheit.
Charismatische Schlüsselfigur des Geschehens ist der bekennend nihilistische Generalswitwensohn Nikolai Stawrogin (Martin Wuttke), der wie ein schwarzes Loch eine unbeschreibliche Anziehungskraft ausübt auf Sinnsucher, Selbstmörder und anderweitig um Erlösung oder Erhebung oder auch Vernichtung ringende Mitmenschen. Da sind der fundamentalistisch gottgläubige Student Schatow (Bernhard Schütz) und der Ingenieur Kirillow (Kurt Naumann), der mit seinem bevorstehenden Selbstmord den allgemeinen Gottglauben überwinden und somit selbst zu Gott werden will; der ständig betrunkene, feige und nur auf den eigenen Vorteil bedachte Ex-Hauptmann Lebjadkin (Hendrik Arnst) und der skrupellos intrigante Pjotr Stepanowitsch (Milan Peschel), der durch die Gründung einer terroristischen Vereinigung nicht nur die Verhältnisse ändern, sondern deren künftigen Verlauf auch steuern will. Pjotr glaubt in Stawrogin eine Führerfigur zu erkennen, deren Weg zu bereiten er für seine Aufgabe hält. Doch der scheint mit den heiligsten Überzeugungen anderer nur zu spielen, ja sie sogar zu verraten. Wie ein Anthropologe jenseits von korrektem Benehmen und hergebrachter Moralvorstellung bestärkt Stawrogin jeden seiner Freunde in dessen Variante der Welterklärung; wie um anschließend die Konsequenzen in vollem Ausmaß in Augenschein nehmen zu können.
Klar, daß auf so einen auch Frauen abfahren, von denen er mehrere hat und mit deren Belastbarkeitsgrenzen er ähnlich experimentell verfährt wie mit denen seiner männlichen Anhänger. Marja Timofejewna Lebjadkina (Jeanette Spassowa), die irre Schwester des dauertrunkenen Hauptmanns, hat er heimlich geehelicht, aus Mitleid oder wie aus einer Laune heraus – oder auch aus Buße für den Selbstmord, in den er kurz zuvor und ebenfalls ein wenig launisch ein von ihm mißbrauchtes kleines Mädchen getrieben hat. Die aufopferungsvolle Liebe und Pflege Darjas (Kathrin Angerer), der Schwester Schatows und Pflegetochter seiner Mutter, läßt er sich ebenso teilnahmslos gefallen wie die selbstzerstörerische Leidenschaft der extravaganten Lisa Tuschina (Sophie Rois). Und Schatows Frau Marja (Astrid Meyerfeldt) hat Stawrogin schließlich gar geschwängert. Nikolais um Teilhabe an den revolutionären Entwicklungen ringende Mutter Warwara Stawrogina (Silvia Rieger), die ihn vergeblich zu verstehen trachtet, nennt ihren Sohn auf Anraten des ebenso hilflos fortschrittsfreudigen Hauslehrers Stepan Werchowenski (Henry Hübchen) ob der prekären Geschehnisse verzeifelt einen „Prinz Heinz“ – in Anlehnung an Shakespeares durch die sozialen Schichten vagabundierenden Helden aus „Heinrich IV.“. Andere halten ihn hingegen schlicht für einen Irren, einen Zyniker, einen Dämon oder gar den Teufel, für das materialisierte „Böse“.
Doch das Böse ist kein Wesen, höchstens ein Zustand und wahrscheinlich nur Einbildung – und der reine Nihilismus geht beim Beichten der „Dämonen“ schließlich als die vorletzte Stufe der Transzendenz vor dem reinen Glauben durch. Stepans „verlorener Sohn“ Pjotr aber verkehrt die Sinnsuche in bösartige Machtspiele, indem er zwischen den Beteiligten ein verhängnisvolles Netz aus Abhängigkeiten, Verdächtigungen und Verleumdungen knüpft, das die allgemeine Ordnung in der beschaulichen Kleinstadt, in der der Roman spielt, erst wirklich aus den Fugen geraten läßt. Er versucht sich mit ortsansässigen Provinziellen (Joachim Tomaschewsky als Gaganow, Ulrich Voß als Schigaljow, Sir Henry als Mawriki) in der Gründung einer konspirativen Gruppe und bedient sich des entlaufenen Mörders Fedka, um die halbe Stadt in Brand stekken und Stawrogins verrückte Frau samt „Falstaff“ Lebjadkin ermorden zu lassen. Und schließlich plant er auch die Ermordung des ihm „abtrünnig“ gewordenen Schatows, zum besseren Zusammenhalt der wankelmütigen Provinzverschwörung (Dostojewski griff hier tatsächliche Vorgänge um den russischen Terroristen Netschajew auf und traf auch mit dem „Vater des russischen Anarchismus“, Michail Bakunin, zusammen). Am Ende jedoch ist der Terrorismus lange schon aufgebraucht, alle Sinnsuche sinnlos geworden und jedes Ziel explodiert. Bleibt nur der Weg selbst, der Abbruch von Idealen und Lebenszielen, oder der Aufbruch zur Tat, in den Kampf, in den Krieg.
„Hei, das ist ein schaurig Klingen. Doch wer mag den Sinn verstehn, ob sie Hochzeitsreigen singen, ob ein Totenfest begehn?“ Puschkins in Zitatform von Dostojewskij an den Anfang der „Dämonen“ gesetzte Frage ist natürlich auch am Ende des 20. Jahrhunderts noch immer nicht beantwortet. Ohnehin geht es da wohl mehr um eine Art Gleichsetzung. Das Nichts kommt nach Sartre erst durch das Sein des Menschen in die Welt, und die Erfahrung des Abgrunds nennt Camus das Absurde. Schuld an allem ist schließlich die Freiheit, das alte Übel. Am vermeintlichen Ende der Geschichte, wo man eben noch Nationalismus, Sozialismus und Terrorismus überwunden glaubte, herrscht nun, allem Kulturpessimismus zum Trotz, doch nicht allgemeine Auflösung in grenzenlos nivellierendem Konsum, sondern Krieg und Konstitution; die Notwendigkeit von Identität, das „letzte Refugium des Humanen“ (Müller). In einem letzten Haus kurz hinter der Westgrenze Rußlands, irgendwo zwischen Paris Texas, Cindy Sherman, Dogma 95 und Duma 2000, inszeniert Frank Castorf im Bühnen- und Kostümbild von Bert Neumann die „Dämonen“ als eine Art postsowjetisch-panslawistisches Panoptikum, in seiner eigenen Spielfassung auf der Grundlage von Swetlana Geiers Neuübersetzung des Romans unter dem Titel „Böse Geister“ und der Dramatisierung von Albert Camus unter dem Titel „Die Besessenen", neu übersetzt von Hinrich Schmidt Henkel.
Matthias Pees, 1999
Fassung von Frank Castorf auf der Grundlage der Neuübersetzung von Swetlana Geier unter dem Titel "Böse Geister" und der Dramatisierung von Albert Camus unter dem Titel "Die Besessenen", neu übersetzt von Hinrich Schmidt-Henkel.
Berliner Premiere dieser Koproduktion mit den Wiener Festwochen war am 19. Mai 1999 in der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz