Volksbühne Berlin am Rosa-Luxemburg-Platz
 
Zur Zeit keine Vorstellung. Demnächst wieder auf dem Spielplan.

Die Brüder Karamasow

nach Fjodor M. Dostojewskij


UNSTERBLICHKEIT IST NICHT JEDERMANNS SACHE „Wir sind zwei Europa“, schreibt 1989 Heiner Müller. „Das eine von Rom, das andre von Byzanz geprägt.“ Berlin markierte einst den geografischen Grenzriss zwischen diesen beiden kulturellen Sphären; der hat sich inzwischen über den Dnjepr verschoben, dort herrscht jetzt Krieg. „Die Brüder Karamasow“, Fjodor Dostojewskijs als Kriminalgeschichte angelegter letzter großer Roman, blättert polyphon (Michael Bachtin) die bis heute gültigen weltanschaulichen und philosophischen Stimmen der Systeme in West (Liberalismus) und Ost (Orthodoxie) auf. Es sind die letzten Fragen des Seins, vom Gottmenschen und von der idealen Gesellschaft, denen Dostojewskij anhand des Mordes an der Vaterfigur Fjodor Karamasow und der anschließenden Verdächtigungen der Söhne Dmitrij, Iwan und Aljoscha folgt. Motor, um sich immer mehr in einem Labyrinth aus Gefühl und Gesetz zu verstricken, ist nichts Geringeres als die Liebe – z.B. zur Femme fatale Gruschenka. Dostojewskij ist ein Vertreter der Moderne und weiß, die Liebe braucht das Geld – konkret 3000 Rubel – wie das Feuer die Luft. Vor allem aber: Karamasow ist ein Argumentationsbuch, seine Protagonisten streiten in aller Ausführlichkeit. Auf der einen Seite das Prinzip ALLES IST ERLAUBT. Im Denken, aber auch, was den Körper betrifft, der im 20. Jahrhundert von allen Klammern der Moral befreit wird. Emanzipation. Aber Dostojewskij setzt an ihre Seite, wie einen Doppelgänger, das Kellerloch der Obsession. In Gestalt etwa der gehandicapten Lisa, die sich in ihrer unentschiedenen Liebe zu Aljoscha masochistisch und autoaggressiv die Finger in der Tür quetscht. Und dann diese Lust auf Süßes, auf Ananasmarmelade. Hans Henny Jahnn schreibt später dieses Motiv der Destruktionskraft des Wunsches und des Sexuellen weiter. ALLES IST ERLAUBT. Auf die Zerstörung folgt die Dimension der Auslöschung. In der Interpretation durch den Bastard Smerdjakow (auch Pawel Fjodorowitsch, Sohn von Fjodor Pawlowitsch, ist eben ein Fjodorowitsch, ergo ein Karamasow!) bedeutet das: Vatermord aus Berechnung. Im Kontext politischer Großdimension wirkt die Legitimation dieses Verbrechens heute wie eine Paraphrase und Vorausschau, wie die Bedingung der Möglichkeit von dem, was dann kommt. Wo alles, was gedacht werden kann, auch umgesetzt wird: der Tod von Millionen von Menschen im faschistischen Vernichtungskrieg und Holocaust; aber auch die mörderische Lagerpolitik Stalins. Nach der Stunde Null der Geschichte, nach Auschwitz und dem 8. Mai 1945 musste alles anders werden. Ein kontroverser kultureller Nachkriegsfluchtpunkt ist Amerika, der American Way of Life. Und der wird auch auf der Schulter Dostojewskijs ideologisch im Kampf der politischen Systeme verhandelt. In der Metro-Goldwyn-Mayer Karamasow-Verfilmung von 1958 mit Yul Brynner etwa, ist Dmitrij wie ein Cowboy nicht nur smart und glorreich. Als Aufrechter wird er Opfer eines Justizskandals in einem Land, so die Suggestion des Films, aus dem man nur fliehen kann. Emigrieren und weg auf die andere Seite des Ozeans, in den Garten Eden von Freiheit und Gerechtigkeit. Die Antwort durch die Mosfilm-Studios lässt über 10 Jahre auf sich warten. In der sowjetischen Literaturverfilmung von 1969 kontert Dmitrij die Hollywood-Interpretation mit dem entscheidenden Satz: „Russland liebe ich!“ Und: „In einem fremden Land könnte ich gar nicht leben!“ Und: „Einmal wird Gerechtigkeit auf Erden sein!“ In dem Film aus der atheistischen Breschnew-Ära fehlt dafür gänzlich die in den Karamasow-Roman eingeschobene Erzählung des Großinquisitors, das Gespräch mit Jesus darüber, wie die Institution katholische Kirche Menschen mit den Kräften Wunder, Geheimnis und Autorität bindet. Auf einer zweiten Ebene ist diese Kritik Roms ein Plädoyer für Byzanz – ein stummer Kuss selbstloser Liebe auf die Lippen des Inquisitors. Spätestens seit der Erzählung „Die Wirtin“ entwickelte Dostojewskij als Gegenkonzept zum Liberalen immer mehr das Orthodoxe. Kurz vor seinem Tod fasst der Schriftsteller 1881 dieses Denken in einer Formel zusammen: „Das russische Volk lebt ganz in der Orthodoxie und in ihrer Idee. Außer dieser ist ihm nichts und hat es nichts – und braucht es auch nichts, denn die Orthodoxie ist alles; sie ist Kirche, und Kirche ist die Krönung des Gebäudes, und zwar auf ewig.“ Es ist genau diese Seite des Autors Dostojewskij – „Konstantinopel muss uns gehören!“ – die heute Europa und auch die russische Gesellschaft spaltet. Für Dostojewskij selbst ist es eine Art biographischen Selbstmords. Er vollzieht eine Bewegung vom Anarchismus - als Mitglied des Petraschewski-Kreises - hin zu politischer Reaktion. Übersetzt in die westliche Nachkriegsgesellschaft entspräche das in etwa einem Leben, das sich von der Sympathie mit RAF-Positionen - bspw. gegen die NATO (West)erweiterung und der damit verbundenen Arrondierung europäischer Handelszonen - hin zur Affirmation einer universalistischen neoliberalen Doktrin wendet. Hin zum Stressstandort Deutschland! Und wieder eine geographische Teilung. Hier expansiver und auf Effizienz getrimmter Produktionskapitalismus und die ihn begleitende Ideologie der Freiheit. Dort der auf dem Verkauf der Erdressourcen Öl und Gas basierende Kapitalismus Russlands, der in seiner orthodox-nationalistischen Selbstlegitimation mit den Dostojewskij-Vokabeln vom auserwählten und zur „tätigen Liebe“ befähigten „Gottesträgervolk“ operiert. Ein genauer Dostojewskij-Leser und Ideologiesezierer ist DJ Stalingrad. Er baut den Tunnel vom 19. Jahrhundert ins gegenwärtige Moskau, in die kapitalistische Megapole. Wie ein Lagebericht. Die Jugendlichen des Buches Exodus: Auch sie befinden sich in einem Zustand des Nadryw (надрыв), der emotionalen Überanspannung; zwischen Punkkonzerten, Schlägereien in der Metro und vor Fußballstadien. DJ Stalingrad ist Teilhaber und Chronist eines Straßenkampfes (roter Skins und linker Hools), ein Outlaw gleichermaßen gegen neofaschistischen Geschichtsrevisionismus wie gegen fundamentalistischen Nationalismus. Eine Jugend ohne Gott, eine Jugend mit Wut am Rande der Gesellschaft? Nichts scheint mittlerweile so klar, wie die ideologische Konstruiertheit der nicht westlichen politischen Systeme. Aber gibt es nicht ebenso unbewusste Regeln - Alain Badiou nutzt das griechische Wort „doxa“; der „Glaube, der sich als solcher nicht kennt“ -, die den Raum des Liberalismus strukturieren und „freie“ Menschen in einem arbeitsamem Konformismus binden? Mindestens 1,5 Prozent Wachstum um jeden Preis und bis zur Erschöpfung. In Dostojewskijs Karamasow sind Kinder – der sterbenskranke Iljuschka und der präpotente 12-jährige Sozialist Kolja – die heimlichen Hauptfiguren des Romans. Die Geschichte drückt sie in die Zukunft und auch für sie, die nächste Generation, wiederholt sich eine uralte Erkenntnis. Denn einen Kampf, das ist sicher, verlieren wir alle. Den Kampf um die Unsterblichkeit. Sebastian Kaiser Eine Koproduktion der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz mit den Wiener Festwochen
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