Volksbühne Berlin am Rosa-Luxemburg-Platz
 

Die zehn Gebote

Ein Abend von Christoph Marthaler nach Raffaele Viviani


„Wir haben also zehn Jahre nach der Vereinigung statt des staatssozialistischen ökonomischen Dornenfeldes in Deutschland ein Mezzogiorno, jene Region Süditaliens, an der die Industrialisierung fast spurlos vorbeigegangen ist, die seit Jahrzehnten von der römischen Cassa per il Mezzogiorno, von staatlichen Subventionen lebt; aus der seit den fünfziger Jahren die Menschen abwandern, z.B. in den Norden Italiens, in die Schweiz oder als Gastarbeiter nach Westdeutschland?“ (Claus Noé „Die Grosse Deutsche Illusion“ in lettre international, 5/2000). Fast zehn Jahre nach der Premiere seines „patriotischen Abends" „Murx den Europäer! Murx ihn! Murx ihn! Murx ihn! Murx ihn ab!“ kehrte Christoph Marthaler gemeinsam mit seiner Bühnenbildnerin Anna Viebrock nach Berlin zurück, um mit dem Ensemble der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz eine weitere Entdeckungsreise in die Daseins- und Bewußtseinszustände des geeinten Deutschland anzutreten. Nach seinen Volksbühneninszenierungen „Drei Schwestern“ und „Pariser Leben“ widmete sich Marthaler in „Die zehn Gebote“ der Begegnung mit einer Kultur, die uns sehr nah ist und gleichzeitig ferner nicht sein könnte: dem süditalienischen Mezzogiorno zwischen katholischem Glauben, heidnischer Magie und neapolitanischem Gesang. Der „Dekalog in Versen, Prosa und Musik“, das letzte Theaterstück von Raffaele Viviani (1888-1950), bietet Christoph Marthaler und dem Ensemble der Volksbühne die Möglichkeit einer Begegnung mit dem Sehnsuchtsort der Deutschen: Neapel. Raffaele Viviani, ein neapolitanischer Karl Valentin, war der Meister der macchiette, der kleinen komischen Portraits menschlicher Typen, der varietà und anderen modernen Formen der Commedia dell‘Arte, er war Beobachter und Dichter der einfachen Leute in den vicoli, den kleinen Gassen im Zentrum Neapels, und ihres pragmatischen Katholizismus. Im Neapel der Nachkriegszeit fand Viviani seine Figuren und deren Geschichten, die uns angesichts der Veränderungen des letzten Jahrzehnts überraschend nahe sind. Der Deutsche Osten: das Süditalien Mitteleuropas? Wie diese historisch und geographisch benachteiligte Region, benötigt man im Osten neue Überlebensstrategien. Marthalers theatralische Erforschung der süditalienischen Kultur, "der wütenden Geduld und der Bastelei am Kaputten, dem Heil der begütigenden Gesten und der magischen Rituale von einfachen Dingen und Worten" (Thomas Hauschild), bewegt sich im Spannungsfeld zwischen der Macht von Markt und Geld und der Sehnsucht nach einer gemeinschaftlichen Lebenspraxis. Andrea Koschwitz, 2001 Premiere am 19. Oktober 2001
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