Volksbühne Berlin am Rosa-Luxemburg-Platz
 

Endstation Amerika

Eine Bearbeitung von Frank Castorf von „Endstation Sehnsucht / A Streetcar named Desire“ von Tennessee Williams


Tennessee Williams, 1911 geboren, wuchs in St. Louis auf. Eine Inszenierung von Ibsens Gespenstern, die er als Jugendlicher sah, löste in ihm den Wunsch aus, für das Theater zu schreiben. Später war er in New York u. a. Kellner in der Bar von Valeska Gert und besuchte Kurse für junge Dramatiker, die von dem aus Deutschland emigrierten Erwin Piscator abgehalten wurden. Williams war homosexuell und alkoholsüchtig. Das Schreiben betrachtete er als Therapie. In den späten vierziger Jahren gelang ihm mit seinen Stücken „Die Glasmenagerie“ und „Endstation Sehnsucht“ der Durchbruch als Theaterdichter. 1948 und 1955 wurde er mit dem Pulitzerpreis ausgezeichnet. In den sechziger Jahren stand er der Beatnikbewegung nahe. Seine späteren Stücke fanden kaum noch Beachtung. Wie sein Vorgänger und Vorbild O´Neill starb er in einem Hotelzimmer: Am 25. Februar 1983 wurde er in einem New Yorker Hotel tot aufgefunden. Er war am Plastikverschluß eines Tablettenröhrchens erstickt. „Das individuelle Leben ist eine serialisierte kapitalistische Miniaturkrise, ein Desaster, das Deinen Namen trägt“. A Streetcar Named Desire, uraufgeführt 1947, ist ein früherer uramerikanischer Beleg für diese Diagnose Brian Massumis. Es stellt die Frage, wieviel Lüge und Selbsttäuschung nötig sind, um dieses Desaster zu ertragen. Verwahrlosung und Lebensgier, Paranoia und Depression liefern die Koordinaten. In so einem System gibt es keine Sicherheit und keine Erfüllung. Haltbar ist nur die Sehnsucht – und die Liebe, sofern sie unglücklich bleibt. Niemand kommt da lebend raus. Das gilt für die traumatisierte Lehrerin Blanche Dubois, die in eine Traumwelt flüchtet, weil sie die Realität pur nicht ertragen kann, genauso wie für das „Tier“ Stanley Kowalski, der sich buchstäblich durchschlägt, ihre Schwester Stella, die sich in ihrer sklavischen Abhängigkeit zu Stanley eingerichtet hat, und auch für Mitch, Stanleys schüchtern unbeholfenes alter ego. „Frauen am Rande des Nervenzusammenbruchs“, Männer kurz vor der Bewußtlosigkeit. Williams Figuren sind individuell gezeichnete Prototypen zwischen Enteignungsangst und Größenwahn. Über ein halbes Jahrhundert nach seiner Entstehung und vierzig Jahre nach seiner Verfilmung in Hollywood hat das Stück fast nichts von seiner zeitdiagnostischen Kraft verloren. Der Filmregisseur Pedro Aldomovar benutzt es in seinem neusten Film „Alles über meine Mutter“ (1999) als Folie und Paradigma. Alle wichtigen Personen im Film kennen das Stück und finden sich in ihm wieder. So wie diese Filmhelden das Stück im Theater erleben, könnten die Kowalskis auf der Bühne Aldomovars Film im Wohnzimmer im Fernsehen sehen. „Endstation Sehnsucht“ ist eine Demonstration von Kranken für Kranke, deren Krankheit auch darin besteht, nicht zwischen gesund und krank unterscheiden zu können. Semantisch und formal aber strotzt dieses Werk, das zu den besten Theaterstücken des Jahrhunderts gezählt wird, vor Gesundheit. Das läßt hoffen. Carl Hegemann, 2000 Premiere bei den Salzburger Festspielen am 25. Juli 2000 Berliner Premiere am 13. Oktober 2000
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