Volksbühne Berlin am Rosa-Luxemburg-Platz
 

Erniedrigte und Beleidigte

Frank Castorf nach dem Roman von Fjodor M. Dostojewskij


Nach seiner Bühnenadaption von Dostojewskijs Roman „Dämonen“ (1999), den Frank Castorf im Jahr 2000 in der Landschaft Mecklenburg-Vorpommerns auch verfilmte, hat er sich dieses Jahr den Roman „Erniedrigte und Beleidigte“ vorgenommen und in einer ersten Version im Juni 2001 bei den Wiener Festwochen gezeigt. Dostojewskij schrieb ihn nach achtjähriger sibirischer Verbannung (wegen „Subversion“) unter enormen Zeitdruck als Zeitungsroman - in erster Linie, um Geld zu verdienen. Während „Dämonen“ zu den „philosophischen Romanen“ des bedeutendsten russischen Schriftstellers (1821-1881) gehört, und einen existentiellen Reflexionsraum jenseits des alltäglichen Zweckdenkens öffnet, handelt es sich bei „Erniedrigte und Beleidigte“ um einen knallhart kalkulierten Großstadtroman, in dem auch inhaltlich das wirtschaftliche und erotische Kalkül den größten Raum einnimmt, obwohl es fast immer versteckt und überspielt wird, nach der Devise: derjenige ist nicht nur am beliebtesten, sondern auch am erfolgreichsten, dem man sein Geschäftsinteresse am wenigsten anmerkt. Wer nicht sichtbar konkurriert, hat einen Geschäftsvorteil. Die gesellschaftliche Hierarchie und die Aufteilung der Menschen in winner und loser ist in diesem Roman selbstverständlich. Es geht um zwei sich überschneidende Dreiecksverhältnisse zwischen Menschen in unterschiedlichen sozialen Positionen, die von einem fürstlichen Machtmenschen, der es sich leisten kann, (fast) immer die Wahrheit zu sagen, oder das, was er dafür hält, für seine Interessen ein- und ausgespannt werden. Das halbwüchsige bettelarme Waisenkind, das eigentlich eine Prinzessin ist, der aufstrebende und verachtete Schriftsteller, die Tochter aus gutem, aber verarmten Hause, der sympathische, aber willensschwache Sohn des Fürsten und die bezaubernde reiche Erbin begegnen sich „inmitten des blinden Egoismus, der gegenläufigen Interessen, der finsteren Ausschweifungen, der sorgsam gehüteten Verbrechen, inmitten dieser unerträglichen Hölle sinnlosen und unnormalen Lebens“, wie eine der meist zitierten Stellen aus diesem Roman lautet, und verfolgen dabei auch selber jeder auf seine Weise, aber immer strategisch, ihre eigenen Lebensinteressen, wobei, ohne dass dies ausgesprochen werden müsste, die Chancen sich nach Attraktivität und Reichtum staffeln. Ein sozialer Kolportageroman, der von Schillers „Kabale und Liebe“ und von Goethes „Wilhelm Meister“ gleichermaßen beeinflusst ist, und der seinerseits das Vorbild lieferte für hunderte von weiteren Romanen bis hin zum Groschenheft und den daraus entstandenen medialen Verarbeitungen in Film und TV. Heute liest sich das wie eine Fortsetzung der „Dämonen“, obwohl es zehn Jahre früher geschrieben wurde. Waren die Personen in den „Dämonen“ noch jenseits, so sind sie hier affiziert von ganz trivialen gesellschaftlichen Zwängen. Castorf inszeniert seine Version dieses Romans (fast) ausschließlich mit Schauspielern, die auch schon in den „Dämonen“ gespielt haben, in einem Raum, der die Stein gewordene Variante von Bert Neumanns Dämonen-Container ist. Und der Pool ist zugefroren. Es sieht so aus, als wären die „Dämonen“ hier zu der instrumentellen Vernunft gekommen, die man zum Leben braucht und die in der alternativlos scheinenden Kapitalismusaffirmation der Gegenwart ihre Entsprechung findet: „widerlich, feige, grausam, selbstverliebt“. Nicht Schillers idealisches Prinzip, sondern „Goethes Zynismus“ (H. Müller) siegt in den Häusern aus Stein. Und wer sonst nichts hat, kann immer noch die Erniedrigung genießen. Wer selbst nicht für die Teilnahme am Aufstieg oder Aufschwung disponiert ist, wie der vielfach erniedrigte Dichter Wanja in diesem Roman, muß das sogar. Keine großen Ideen und Ideale mehr, kein „Schillertum“, sondern Verhaltenstechniken. „Sehe jeder, wie er’s treibe, sehe jeder, wo er bleibe und wer steht, dass er nicht falle!“ So muß das atomisierte Individuum wohl funktionieren – aber immer freundlich, offen und gefühlvoll, zwischen Ergebenheit und Stolz. Wie ein Hund. Carl Hegemann, 2001 Premiere bei den Wiener Festwochen am 28. Mai 2001 Berliner Premiere am 12. Oktober 2001
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