Meine Schneekönigin
Frank Castorf inszeniert ein Märchen nach Hans Christian Andersen
Wie das Theater stehen Märchen unter Romantikverdacht. Auf der Bühne müssen sie scheitern. Wir glauben weder einem Teekessel, dass er spricht, noch einem Schauspieler, der vorgibt, ein Teekessel zu sein. Theater, und das Theater von Frank Castorf im Besonderen, interessiert sich für die Übergänge. Die Momente, in denen Dostojewskijs Menschen zu Andersens Figuren werden oder umgekehrt, wenn Herbert Fritsch zum Kragen und Volker Spengler zum Bügeleisen, das Märchen zum Theater wird. Das Konstruktionsprinzip des Märchens ist dem Theater so fremd wie das Bügeleisen dem Schauspieler. Der Übergang ist aber dann interessant, wenn in seinem unvermeidlichen Scheitern etwas Neues geschieht. Dieses Dritte ist nicht weniger märchenhaft, wenn – folgen wir Novalis’ romantischem Diktum – „das Poetische... das echt absolut Reelle“ wird.
Der Theatertrick, der den Schneesturm suggeriert, kann allenfalls auf dieses Scheitern hinweisen, auf das Transzendente des Märchens, auf den Moment, in dem sich die Geschichte nicht mehr an den Verstand des Zuschauers wendet, sondern an dessen Unbewusstes.
"Bei Andersen finde ich eine naive Erkenntnistheorie formuliert, eine Kultur des Fragenstellens wie im "Idiot" von Dostojewskij. Als Agnostiker interessiere ich mich nicht für weltanschauliche Systeme, sondern für den Einzelnen in seiner Verantwortung. Wir leben in einem nachwissenschaftlichen Zeitalter, in dem Spekulation und Intuition wieder wichtig werden. In einer Welt, die durch Bill Gates geprägt ist, interessiert mich der Erfolg von Harry Potter. Diese Welt sehnt sich nach Märchen", sagt Frank Castorf und inszeniert zum 200. Geburtstag von Hans Christian Andersen sein erstes Märchen.
Märchen setzen eine beschädigte Welt voraus, das Theater sowieso. Existenzielle Größen wie Angst, Verführung oder Tod übersetzen sie in so einfache Vorgänge, dass sie auch von Kindern begriffen werden. Andersen erzählte Märchen aus seiner Biografie mit ihren Nöten und einer fundamentalen Einsamkeit heraus. Er überführte sein Unbehagen an der Welt in heute überall vertraute Bilder unserer Wunsch- und Alpträume. Seine zahlreichen Autobiografien, Reiseberichte, Tagebücher und Scherenschnitte waren immer auch Versuche, mit einer Welt zu kommunizieren, die ihn als Erzähler hofierte, aber als Person übersehen und ihm keinen Ort zu leben geboten hat.
Wie sehr das Verhältnis zum eigenen Körper ihn in jedem Lebensalter beschäftigt hat, ist seinen Tagebüchern zu entnehmen, hypochondrischen, vergleichsweise expliziten Selbstbeobachtungen. Kopfschmerzen, Schwindel und ewiger Zahnschmerz sind darin ebenso Dauerthemen wie „Schmerzen im Penis“ und die immer wiederkehrende „Sinnlichkeit“, „hässliche Lust, die rast in meiner Brust“, „Fieber im Blut“. „Mein Blut schrecklich sinnlich, ich kann es nicht aushalten!“ Er verehrt Frauen und begehrt sie – vor allem in südlichen Ländern – heftig, spricht jedoch wiederholt von seiner „bewahrten Unschuld“. Während seiner Paris-Aufenthalte versucht er mehrmals, sich im Bordell „Frauenzimmern“ zumindest visuell zu nähern, verlässt es aber, „ohne in Werken gesündigt zu haben, wohl aber in Gedanken“, über die er sich ausschweigt.
Andersens homosexuelle Neigung ist vieldiskutiert, entscheidend für alle menschlichen Beziehungen, sei es seine Liebe zu der Sängerin Jenny Lind oder dem Balletttänzer Harald Scharff, ist, dass sie nicht in dem Maße erwidert wurden, wie er es sich gewünscht hätte. Die Spannung zwischen Sehnsucht und mangelnder Erfüllung gehört zu Andersens Leben, und deren Verdichtung und Verschiebung in seinen Märchen koinzidiert mit unseren eigenen nicht tot zu kriegenden restromantischen Defiziterfahrungen: „Wir alle, ausnahmslos, fühlen uns zuwenig geliebt“ (Adorno).
„Meine Schneekönigin“ bedeutet für Castorf nicht weniger als eine temporäre Symbiose mit dem dänischen Kollegen, dessen Biografie und gesamtkunstwerkliches Schaffen er mit seinem eigenen persönlichen und künstlerischem Mikrokosmos zu verschmelzen sucht. Bei Castorf führt Gerdas Suche nach dem „kleinen Kay“ von dem einem Kältepol in Andersens Werk zum anderen: von der früheren, nordischen „Schneekönigin“ (1844), zu ihrer Antithese, der späteren „Eisjungfrau“ (1858/59), die von seinen Reisen in die Schweiz inspiriert ist. In der „Eisjungfrau“ artikuliert sich eine Skepsis des Erzählers dem Märchen gegenüber, die mit Castorfs Zweifel an der Kulturtechnik Theater korrespondiert. In ihr siegt nicht die Welt der Rosengärten, sondern innere Spannung und unerträgliche Hitze finden die ersehnte Abkühlung im Tod.
Wegen der märchenüblichen pornografischen Elemente nur für Erwachsene und Kinder in Begleitung von Erziehungsberechtigten.
Jutta Wangemann, 2004
Premiere am 16. Dezember 2004