Hören: Messer über Boris Vian
DJ ab 21 Uhr im Parkettcafé: Jochen Arbeit
Die Gruppe Messer, am Ende des Tages eine Rockband jenseits ausgetretener Pfade, hat seit ihrer Gründung 2010 zwei Alben veröffentlicht – »Im Schwindel« und »Die Unsichtbaren« –, die sich, wenn man denn will, unter dem Genrebegriff eines deutschsprachigen Postpunk subsumieren lassen. Weitere Releases, die sich noch weiter abseits ins Dickicht schlugen, verbunden mit den oft unkonventionellen Aufführungen ihres Repertoires, haben gezeigt, dass es sich bei der fünfköpfigen Gruppe aus Münster, Hamburg und Berlin um eine Band handelt, die sich nicht darauf beschränkt, das Erschaffene stetig zu reproduzieren. Keiner Bewegung zuzuordnen suchen sie: die Bewegung. Dabei gab es von Anfang an Leitmotive und Inspiratoren, die nicht nur durch ihr Werk ins Blickfeld der Gruppe gerieten, sondern häufig vielmehr durch ihre Persönlichkeit, ihre Haltung, ihre Bedeutung Aufmerksamkeit erzeugten: Drei Teile »Sissi« interessieren die fünf jungen Männer nicht, Romy Schneider hingegen um so mehr – auch wenn sich der Referenzkatalog und das Spiel mit den Zeichen des popkulturellen Archivs im Fall von Messer eher verschachtelt und nicht offenliegend darstellen. Bevor Messer 2016 ihr drittes Album veröffentlichen, widmen sie sich erneut einer solchen Figur – eine, die Messer schon länger verfolgt, in diesem Fall gar das limitierte Cover der ersten Single »Alle Tage« (2011) zierte: Boris Vian. Neben der skandalösen Produktion staatskritischer Chansons, seiner der Tuberkulose trotzenden Tätigkeit als Jazztrompeter, als Verfasser von surrealistischen Liebesgeschichten, Theaterstücken, Gedichten und nicht zuletzt als Romanautor zuweilen drastischer Fantastereien inspirierte er die Gruppe Messer vor allem als mutiger Dilettant, als einer, der alles ausprobiert.
So muss man sich auch das lose Programm vorstellen, das Messer um den attraktiven Franzosen gesponnen haben und nun in zwei Aufführungen auf den Bühnen des Hamburger Kampnagel (10. März 2016, gleichzeitig Boris Vians 96 Geburtstag) und der Berliner Volksbühne (11. März 2016) darbieten: alles wird ausprobiert! Messer haben eine Melange aus verschiedenen Texten Vians zusammengestellt, nach Leidenschaft ausgewählt: Das Zugeständnis an den Alkohol, das politische, antinationale Liedgut oder die Geschichte eines Taxifahrers, der, verwirrt durch eine liaison dangereuse, einer verrückten, burschikosen Jazzsängerin sein Auto zur Waffe bietet, werden zum Gegenstand einer ganz eigenen Interpretation. Messer schaffen dabei Transparenz im Selbstfindungsprozess: Wenn sie lachend Genres zitieren, besetzen, durchbrechen, mit der Sprache eines Vergessenen experimentieren oder düstere, brachiale Klangflächen schichten, ist das mehr eine künstlerische Selbstsuche vor Publikum als eine Hommage, eher ein Ausloten der Möglichkeiten des Konzepts »Rockband« als die bedingungslose Verneigung vor einem Helden. Anders als bei der Uraufführung 2015 bei den Recklinghäuser Ruhrfestspielen treten Messer nun mit ihrem neuen Gitarristen Milek auf.
Im dramaturgisch nebulös abgestimmten Dialog zwischen Textfragmenten und musikalischen Motiven, die in einem variablen Rahmen viel Raum für Improvisationen lassen, pflügen sich Messer subtil und höchstgradig subjektiv durch das Werk und Leben Boris Vians – manchmal maßen sie sich gar an, dem französischen Bohème Worte unterzujubeln, oder sie drücken ihm ihre jugendlich-romantisierte Lesart seiner Lebensgeschichte in eigenen Worten auf. In diesem Sinne sollen auch die begleitenden Projektionen von Manuel Gehrke (Damage Goods), einem langjährigen Weggefährten der Band, funktionieren: auf assoziative und absurde Weise das Werk Vians aufgreifend und weiterspinnend.
Messer greifen sich den Freund Sartres und de Beauvoirs, der deren Existentialismus immer mit einem Schmunzeln beobachtete, schütteln ihn ein bisschen durch, klopfen ihm auf die Schulter (und dabei den Staub ab). Eine Herzensangelegenheit: Die Auseinandersetzung mit Vian begann früh. Schon als Kind fand Hendrik Otremba die mit blutrünstigen Illustrationen Art Spiegelmans versehenen Bücher Vians im Regal seines Vaters, war von ihnen angezogen und abgestoßen zugleich. Zwei Jahrzehnte später rettete er sie aus dessen Nachlass, der im feuchten Keller einer Zechenwohnung im Ruhrgebiet vor sich hin schimmelte, restaurierte die Bücher, fing an, nicht mehr nur die Stellen zu lesen, in denen es zur Sache ging, sondern vielmehr zu erforschen: Was hat Boris Vian mit mir und meinen Freunden zu tun? Auf die Bühne gebracht gehen die Texte und der Geist Vians 2016 in Fleisch und Blut der fünf Musiker über. Was Vian dazu gesagt hätte, der – angewidert von der Filmadaption eines seiner Bücher – 1959 in einem Kinosessel dahinschied, lässt sich nur vermuten. Vielleicht: »Ich werde auf eure Gräber spucken«!