Volksbühne Berlin am Rosa-Luxemburg-Platz
 

P14 - Die Verwandlung

nach Franz Kafka


“Die Verwandlung” in Zeiten des Turbokapitalismus Die Welt dreht sich immer schneller und nichts hat Bestand. Wir handeln schneller, lassen Pausen weg und multitasken. Alles muss schneller gehen, damit es bleibt, wie es ist. Ein ständiger Wettlauf gegen die Zeit. Wir rennen und rennen vor einem Abgrund weg, der sich hinter uns auftut. Sobald es uns mal nicht gelingt, mit dem Tempo der Welt Schritt zu halten, verpassen wir den Anschluss und fallen zurück. Wacht man eines morgens als Käfer auf, ist man schon zu spät. Zeit und Nerven, einem zu helfen hat keiner. Schwester, Mutter und Vater sind schon durch die Tür – auf dem Weg zur Arbeit, Geld verdienen. Wir müssen immer mehr schaffen und produktiver werden. Der Arbeitsmarkt ändert sich schließlich in schwindelerregender Schnelligkeit, Unternehmen werden effizienter und der Mensch wird durch Maschinen ersetzt. Da müssen wir eben besser werden, um mithalten zu können! Unser zwanghaftes und permanentes Streben nach Verbesserung und Leistungssteigerung, das uns zumindest zeitweise vor dem Abgrund bewahrt, durchdringt uns auch jenseits der Arbeit. Überhaupt, was ist das eigentlich, “jenseits der Arbeit”? Wer kann schon zwischen Privatleben und Beruf unterscheiden? So wie Gregor in seiner Freizeit Fahrpläne studiert oder wie sein Vater selbst nach Dienstschluss zuhause seine Uniform nicht ablegt, so haben auch wir Disziplin und Pflichtgefühl vollkommen verinnerlicht, arbeiten wie selbstverständlich zuhause, in der Bahn, im Bett, Samstag morgens und Sonntag nachmittags. Unser Drang nach Effizienz macht vor uns selbst keinen Halt: wir wollen nicht nur Arbeitsabläufe effizienter gestalten und optimieren, sondern auch uns selbst. Wir beginnen, unsere Körper zu überwachen, zu kontrollieren und zu messen, um unser Handeln und uns selbst zu verbessern. Wir überwachen unsere Produktivität, kontrollieren unsere Tiefschlafphasen und messen unseren Körperfettanteil. Wir selbst sind in diesen entfesselten Zeiten schließlich alles, was wir haben. Wir sind alles, was wir anbieten können, auf dem freien Markt. Unser einziges Kapital! Humankapital. Wir sind getrieben von der Angst vor dem Abgrund und von der Selbstdisziplin, die wir zu Überlebenszwecken an den Tag legen. Wir fühlen uns nur gut, wenn wir richtig was geschafft – und tief schuldig, wenn wir mal ein paar Stunden gar nichts getan haben. Wachen wir als Käfer auf, geraten wir in Panik, weil wir zu spät zur Arbeit kommen könnten und nicht etwa, weil wir statt zwei Beinen plötzlich sechs haben. So und nicht anders werden wir gebraucht, als menschliche Ressource eines Wirtschaftssystems, diszipliniert, pflichtbewusst und fleißig. Als eine Truppe passgenau glatt geformter, hochmotivierter und hochengagierter selbstloser Idioten, bereit im Dienst des Turbokapitalismus alles zu geben und in der Schlacht um Arbeitsplätze bis zum letzten Tropfen Schweiß zu kämpfen. Eine Armee aus fitten, gesunden, kompetenten, kreativen, sich auch persönlich einbringenden Arbeitstieren, die im Gleichschritt durch die Gänge der Unternehmen marschiert. “Man kehrt zum Tier zurück“, sagt Kafka in einem Brief, „Das ist viel einfacher als das menschliche Dasein. Wohlgeborgen in der Herde marschiert man durch die Straßen der Städte zur Arbeit, zum Futtertrog und zum Vergnügen. Es ist ein genau abgezirkeltes Leben wie in der Kanzlei. Es gibt keine Wunder, sondern nur Gebrauchsanweisungen, Formulare und Vorschriften. Man fürchtet sich vor der Freiheit und Verantwortung. Darum erstickt man lieber hinter den selbst zusammengebastelten Gittern.“ Das einwandfreie Funktionieren der wirtschaftlichen Abläufe, angefangen bei unserer alltäglichen Effizienz, ist wichtiger, als das Individuum, das diese Abläufe wohlmöglich irritiert. Menschen, die nicht schnell genug laufen oder sich weigern im Gleichschritt zu marschieren, Käfer eben, bleiben wie selbstverständlich auf der Strecke. Es empört niemanden. Vielmehr scheint es nachvollziehbar zu sein. Wirtschaftliche Gründe klingen meist plausibel und objektiv. Wenn man es sich nicht leisten kann, den Käfer auszuhalten und er außerdem eben nur ein Käfer ist, und kein Mensch, dann muss er eben weg. Es ist genau diese Logik der wirtschaftlichen Effizienz, die dazu führt, dass es der Familie Samsa als legitim erscheint, Gregor zu vernichten. Die Belastung ist einfach zu groß. Er kostet nur und bringt nichts ein. Minus plus Minus ergibt kein Plus, zack, die Rechnung geht nicht auf, so einfach ist das und Ende der Diskussion. Das System kann mit Besonderheiten nicht umgehen, die irritierenden Anderen fallen automatisch aus dem System wirtschaftlicher Abläufe heraus. Um ein einwandfreies Funktionieren der Wirtschaft gewährleisten zu können, haben nur perfekt Angepasste einen Platz in ihm. Dass diese Logik, die so einfach und pragmatisch daherkommt, nichts anderes ist, als eine menschenfeindliche und faschistische Argumentation, scheint niemanden zu stören. Gregors Geschichte ist die Geschichte eines Versuchs, sich durch die Flucht in den Leib eines Käfers von den herrschenden ökonomischen Strukturen zu befreien. Ein Versuch, der missglückt, da auch ein unnützer Käfer mit der gesellschaftlichen und ökonomischen Wirklichkeit schlichtweg unvereinbar zu sein scheint. Friederike Hirz
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