Schuld und Sühne
Frank Castorfs Bearbeitung von Dostojewskijs „Verbrechen und Strafe“
1999 brachte Frank Castorf mit „Dämonen“ zum ersten Mal einen Roman von Dostojewskij auf die Bühne. Die Beschäftigung mit dem russischen Romanautor und Nationaldichter hat ihn seitdem nicht mehr losgelassen. Mit „Schuld und Sühne“ – der programmatische Titel des russischen Originals lautet wörtlich übersetzt „Überschreitung und Zurechtweisung“ (1866) – kommt nun seine vierte Dostojewskij-Adaption zur Aufführung. Dieses Werk ist nicht nur der „größte Kriminalroman aller Zeiten“ (Thomas Mann), sondern auch die Initialzündung für Nietzsches Ideal des Übermenschen, dem es gleichzeitig Grenzen setzt: Der Petersburger Langzeitstudent Raskolnikow ermordet eine alte Pfandleiherin, weil sie Geld hat, aber nichts damit anfängt. Er selbst hält sich für ein Genie, mindestens für einen neuen Napoleon oder Mohammed. Er glaubt, dass mit ihm etwas Neues in die Welt kommt, das ihn berechtigt, „sich selber sein Gesetz zu geben“. Um seine Pläne zu verwirklichen, braucht er Geld. Die Pfandleiherin braucht es nicht, sie ist in seinen Augen Ungeziefer. Raskolnikow macht sie zu seinem Material und erschlägt sie mit dem Beil. Dieser Roman ist nicht Zeuge einer vorrevolutionären Situation wie „Dämonen“, sondern scheint dort anzusetzen, wo Ideenkonkurrenzen aufgehoben sind. Hier ist eine Gesellschaft versammelt, die sich von der Vorstellung eines Rechts auf Glück verabschiedet hat und für die Ausnahmezustand und Krise die Normalität darstellen. Ihr revolutionärer Impuls ist nach innen gewendet, an die Stelle des Aufstands gegen die Herrschenden ist die bürgerkriegsähnliche Selbstverstümmelung einer Gesellschaft überflüssiger Individualisten getreten.
Durch Thesen lässt sich diese Welt nicht mehr verändern. Philosophieren heißt hier zuallererst, den eigenen Lebensraum zu behaupten. Ausdruck der Persönlichkeit ist nicht der Wahrheitsgehalt ihrer Rede, sondern die Breite ihres Denkens, das Raum schafft, wo Enge herrscht. Insofern muss Raskolnikows Mord vor dem Hintergrund des Heraufdämmerns einer post-moralischen Gesellschaft gesehen werden.
Der Dostojewskij-Leser Heiner Müller formulierte das Problem des Raskolnikow so: „Was bleibt eigentlich noch, wenn die Religion wegfällt? Was gibt es dann noch für Argumente etwa gegen Auschwitz?“ Wenn es keinen Gott gibt, mag zwar alles erlaubt sein, aber der Dämon Raskolnikow, dem zufällig der perfekte Mord gelingt, ist nicht in der Lage, seine Tat zu ertragen. Die Isolation des Täters, der seine Tat verschweigen muss, und ein innerer Zwang zum Mitleid mit den Erniedrigten und Beleidigten machen ihn zum Idioten. Auf das Prinzip der Selektion, auf Auschwitz, als letztes Stadium der Aufklärung, fand Müller bei Dostojewskij „keine andere Antwort als die Gnade: die Liebe einer Prostituierten.“
Im Theater von Frank Castorf oszilliert die Geschichte eines Mörders, der sich selbst und nicht der Gesellschaft zum Problem wird, zwischen der Sehnsucht nach der Konventionalität, Kausalität und Logik des Kriminalfalls und der ordnungslosen Welt der Swidrigajlows, für die eine Welt als Mathematik mit ihren Kategorien wie Verbrechen und Strafe eine Farce ist. Die psychologische Kriminalistik versucht, den Ausgleich zwischen dem Tod Gottes und der gesellschaftlichen Notwendigkeit einer Gottesexistenz herzustellen, indem sie Gott in der Psyche wieder auferstehen lässt. Die Überschreitung Raskolnikows liegt für Dostojewskij darin, dass er die Instanz des Gewissens einem Experiment unterzieht. Gnade – als Zurückholung in eine lebbare Ordnung – widerfährt ihm während seines krisenhaften Krankheitsverlaufs durch den Ermittelnden Staatsanwalt Porfirij und die Prostituierte Sonja sehr profan zwischen Krimi, Kitsch und Christentum. Im Theater, das der Krise ihre institutionalisierte Form gibt, bleibt das ewige Spiel von Überschreitung und Zurechtweisung zwangsläufig gnadenlos.
Jutta Wangemann, 2005
Wiener Premiere am 25. Mai 2005
Berliner Premiere am 6. Oktober 2005