Volksbühne Berlin am Rosa-Luxemburg-Platz
 

Das Denkzeichen. Vollelektronische Kolumne für Zeitgeist und Realitätszuwachs. Redaktion Thomas Martin

Denkzeichen XLI
Hannah Schopf, 1. Juli 2013

VIER FRAGEN

Und an einem sonnigen Januartag habe ich dann meine Koffer gepackt, bin durch das Fön-strahlende München (Cappuccino-Wetter!) zum Hauptbahnhof gelaufen, habe mich in einen Zug gesetzt und einige Stunden später – es war bereits Nacht geworden – war ich in Berlin.

Jetzt bin ich also hier und habe diese beiden riesenhaften Beeindruckerinnen um mich rum, die mich täglich mit Neuem beballern, mit Andersartigkeit penetrieren und dabei natürlich wahnsinnig sexy sind. Diese Stadt und dieses Theater. Dieses Berlin und diese Volksbühne. In einem eindeutigen Konkurrenzverhältnis.

Die Stadt arbeitet gegen das Theater. Es ist Nacht, ich sitze auf dem gefliesten Boden eines Kellers, fünf Minuten entfernt von meiner WG, und schaue interessiert auf die improvisierte „Bühne“, auf der ein paar Leute Gypsy-Musik machen. Von außen sieht man nichts davon, per Zufall stolpert man durch die Tür dieses Plattenladens und kann eine Treppe im Hintergrund entdecken.
Herzlich willkommen in der Parallelwelt! Im Nebenraum verkaufen ein paar Hipster bayerisches Bier, der blaue und auch der grüne Dunst hängen in der Luft und ich unterhalte mich mit meinem Mitbewohner und seinem besten Freund.

Dieser Typ ist Mitte Zwanzig, ein begnadeter Jazz-Musiker (Bariton-Sax) und Hobbyphilosoph. Er weiß und kann eine Menge. Und er hat keinen Job und hegt nicht die geringste Absicht, in dieser Gesellschaft einmal das zu werden, was man wohl gemeinhin erfolgreich nennt. Trotzdem wirkt er auf mich so lebendig und, keine Ahnung, „nah dran“ wie schon lange niemand mehr aus meinem ehrgeizigen Hochkulturumfeld.

Praktisch, dass die Volksbühne mir ein Exemplar von Guillaume Paolis „Mehr Zuckerbrot, weniger Peitsche“ zugespielt hat, das nun zuhause auf dem Schreibtisch liegt. Ich lese dieses Buch, ich treffe diese Menschen und sehe diese Welt, die irgendwo nachts in einem Keller stattfindet, abseits von Ausbeutung und Knechtschaft. Ich denke: Aha, da ist es ja, dieses Leben, über das wir auf schwarzen Brettern stehend immer so schöne Aussagen treffen wollen.

Als ich mit meiner Mithospitantin Mascha in der Theaterkantine sitze, unterhalten wir uns darüber, dass man alle Stadttheater sofort abreißen sollte. Die Menschen würden auch so Kunst machen, da sind wir uns sicher. Sie tun es bereits, in ihrer eigenen Welt, dort unten im Keller zum Beispiel.

Also, Frage1: Wozu brauche ich diese Institution eigentlich wirklich?

Wenn man die Treppe aus der U-Bahn-Station Rosa-Luxemburg-Platz hinaufsteigt, sieht man als erstes die obere Gebäude-Ecke der Volksbühne mit dieser roten Piratenfahne. Ich liebe diesen Anblick. Was ist mit diesem Haus passiert in den letzten hundert Jahren? Wie verändert sich die Nachbarschaft, wie verändert sich die Architektur? Das Gebäude gleicht zwar noch weitestgehend dem von vor 100 Jahren, aber das, was die Leute von damals und heute sehen, könnte nicht unterschiedlicher sein. Wie konnte eine so starke, scheinbar unveränderliche Form aus Stein so folgenreich umcodiert werden?

Die Aura wurde faktisch ausgetauscht: Was früher mal ein Monument der Arbeiterbewegung war, eine stolze Waghalsigkeit des Proletariats, wilhelminische Kaiserreich-Architektur für die eigenen Zwecke zu missbrauchen, ist jetzt erhabener Repräsentationsbau einer Hochkultur, für die die Leute in dem Neuköllner Keller sich so gar nicht interessieren. Die aber doch den Anspruch erhebt, auf einer riesenhaften Bühne Aussagen über ein Leben zu treffen, das doch so offensichtlich woanders stattfindet. Der Großteil des Publikums hier ist jünger als ich das aus München gewohnt bin. Man kann hier auch ein bisschen besser atmen, weil es nicht so nach Kölnischwasser und Friedhofsblumen riecht. Und trotzdem verkrampft sich alles in mir, wenn ich diese gut angezogenen jungen Leute sehe, die sich gepflegt und auf hohem Niveau unterhalten lassen wollen. Zwischen der Nussbaumvertäfelung macht sich der Geist bürgerlicher Selbstbestätigung breit.

Ich weiß, wie die Volksbühne nach außen wirkt. Ich weiß, warum sie mich magisch angezogen hat, über so viele Kilometer hinweg, von München nach Berlin. Weil sie Rock’n’Roll ist. Weil sie links ist. Weil sie politisch ist. Weil sie Avantgarde ist. Und dann wird mir klar, dass man einem Theater keinen Gefallen damit tut, ihm all diese geilen Labels aufzukleben. Mit jeder einzelnen Inszenierung müsste man sich diese Labels neu verdienen. Aber wieso sollte man sich darum bemühen, die Außenwelt weicht so schnell nicht von ihrer Meinung ab.

Der Gedanke bleibt einfach an den Mauern haften: Volksbühne, Ort des Widerstands, auch wenn keiner so genau weiß, wogegen eigentlich. Es gab mal eine Zeit, in der war das absolut klar. Davon gibt es nur noch diesen diffusen Schatten.

Ich denke an die Vorstellung von „Der Geizige“, als Martin Wuttke als sterbender Jean-Paul Marat ein linkes Manifest verliest und danach ein einziger Zuschauer, dieser aber voller Überzeugung, zu klatschen anfängt. Als hätte ihm endlich, endlich jemand aus der Seele gesprochen, lässt er sein Klatschen in den stillen Saal hineinknallen, ein paar plänkeln kurz mit, hören aber gleich wieder auf.

Frage2: Ist das Theater überhaupt ein Ort für Realpolitik oder perlt das am Publikum ab?

Dass diese Frage gerade an diesem Haus uralt ist, entdecke ich im Archiv. Ich denke an den unendlichen Schlagabtausch zwischen Piscator und Nestriepke, zwischen der Jugend-Volksbühne und den Blättern der offiziellen Volksbühne, ich habe die Rhetorik dieser Diskussion im Ohr, die Kriegsvokabeln, die man sich um die Ohren schmiss, während man eigentlich „nur“ darüber sprach, ob emotional-persönliche, also überzeitliche Konflikte oder realpolitisch-historische Konflikte auf der Bühne zu bevorzugen seien. Diese Frage betraf alle, Künstler und Publikum, denn sie rührte ans Herz der Volksbühne, dieses Hauses, mit dem sich die große Masse identifizierte.

Die Diskussion fand öffentlich statt, wurde publiziert und den Zuschauern angeboten. Es gab Diskussionsveranstaltungen, die Jugend-Volksbühne beendete fast jeden Text mit dem Aufruf „Marschiert für die Volksbühne!“

Auf einer der Demonstrationen gegen den Abriss der East Side Gallery höre ich so wütende Menschen, ist die Empörung so echt, dass mir klar wird, wie lange ich mich nicht in einem so ehrlichen Kontext bewegt habe: Ein Ort, wo die Dinge, die man behandelt, nicht unter dem wahnsinnig prätentiösen und pseudo-weltverbesserlichen „Also-das-ist-wirklich-ein-ganz-ganz-wichtiges-Thema“-und-alle-nicken-Deckmantel verhandelt werden, sondern wirklich so gemeint werden, weil sie ein inneres, genuines Bedürfnis sind.

Natürlich ist Wut nicht alles, aber ich bin 20 und noch ein bisschen aggressiv. Und ich wünsche mir ein Theater, wo man nicht über Abende redet und sagt, „ja war ganz nett, hmm… ja, interessant, blabla, wo wollen wir essen gehen?“ Sondern ich wünsche mir absolute Kritik, die ehrlich sagt, „so einen Abend braucht kein Mensch“, und gut ist. Bitte weg mit diesem blöden mikro-kosmopolitischen Nuancen-Geficke – also, wenn man sich böse ausdrücken würde, könnte man das so sagen.

Frage3: Wie kann man diesen Mikrokosmos auflösen?

Wann wart ihr das letzte Mal draußen? Ich kenne die Arbeitszeiten an Theatern und ich halte sie für ein Problem. Ich weiß, wie arrogant viele Theatermacher nach draußen schauen und halte es ebenfalls für ein Problem.

Ich sitze in „Fucking Liberty“, werde ganz nostalgisch und glaube zu verstehen, was Amerika für meinen Vater bedeutet haben könnte. Um mein Amerika geht es heute jedenfalls nicht.

Ich sitze in „Iwanow“, einer Inszenierung, in der für mich ALLES stimmt, die mich wirklich in ihren Bann zieht, und vor mir sitzt ein etwa 15-Jähriger und zockt auf seinem Iphone. Wenn sogar dieser Abend nicht funktioniert? Das schürt tiefe Zweifel an meinem irgendwann-vielleicht-mal Beruf. Aua.

Ich sitze in der „Wirtin“ und langweile mich vor einer LED-Leinwand, während gefühlte 100 Meter entfernt von mir ein paar sehr begnadete Schauspieler in einem Haus auf der Bühne sicher große Kunst machen, aber das erreicht mich einfach nicht. An diesem Abend finde ich keinen Punkt, an dem sich meine Realität und das Bühnengeschehen miteinander verbinden.

Ich sitze in der „Marquise“ und betrachte interessiert ein Theater, von dem ich mir sehr gut vorstellen kann, dass irgendjemand es irgendwann mal ziemlich revolutionär gefunden haben mag. Ich erfreue mich an diesem Abend als ein historisches Dokument, denn dass Schauspieler ihre Rollen kommentieren (Kartoffelsalat!), ist für mich weder neu noch überraschend.

Es dauert drei Inszenierungen, fast 12 Stunden Castorf, bis Sophie Rois eine Pistole auf mich richtet und sagt „Um eins mal vorweg zu sagen: Dieses pseudodarwinistische Geschwafel ist Bullshit. Wer der Stärkere ist, weiß man erst nach dem Kampf“, und in meinem Kopf rastet irgendwas ein. Die nächsten vier Stunden des „Duells“ bin ich dabei, lasse mir verschiedenste Realitäten und Zeiten um die Ohren schmeißen, während Woodkid und Bombengewitter durch den Saal dröhnen und kleine Menschengeschichten und große Regionalkonflikte auf- und wieder zugefaltet werden.

Vergiss alles, was du an deiner Theaterakademie gelernt hast. Plötzlich fühle ich mich wie eine Schreibtischtäterin, wie eine Theater-am-Reißbrett-Entwerferin, wie eine Alles-richtig-machen-Wollerin, wie eine, die sich vier Ausbildungsjahre lang (Diplom-Dramaturgie) hinter von zweifelhaften Autoritäten behaupteten Qualitätskriterien versteckt hat. Dramaturgie: Durchgestylte, hochkonzeptuelle, intelligente, aalglatte, fehlerlose Theaterabende. Weg damit, diese irrationale Materialschlacht ist viel näher an meiner Realität und meinem Fernziel eines funktionierenden politischen Theaters. Ist er das, der Volksbühnen-Effekt?

Frage4: Wie könnte ein Theater wie die Volksbühne ihrer historischen Bringschuld gerecht werden, oder gibt es diese gar nicht?

Jetzt ist es also 100 Jahre her, dass eine Gruppe von hart geknechteten Arbeitern zusammengelegt hat und sich ein Volkskunsthaus gebaut hat. Weil sie eine Sehnsucht danach hatten. 100 Jahre voller Auseinandersetzungen und Ziehen und Zerren zwischen Bühne und Zuschauerraum. Fieberhaft suche im Archiv nach dem Punkt, als der Wind sich gedreht hat. Als es auf einmal keine eigenen Zeitschriften mehr gab, die das Haus kritisch begleitet haben. Als die kontrollierende Jugendorganisation sich aufgelöst hat. Als es auf einmal verpönt war, das Volk bei der Kunst mitreden zu lassen (klar, auch ich musste den Kopf schütteln über das Thalia Theater und seine demokratische Spielplan-Wahl).

Ihr sagt, das Haus hat Geburtstag und ihr habt das Bild von der Öffnung des Hauses im Kopf. Das leuchtet mir ein. Vielleicht sollte man dieses Haus irgendwie wieder zurückgeben in die Hand derer, die es gebaut haben. Die anonyme Masse von Zehntausenden. Aber wollen sie es überhaupt noch? Würden sie hier drin einen Platz finden, der ihnen gefällt?

Man müsste sich auf den Marmor im Foyer stellen und sich dessen bewusst sein, dass hier der Widerstand in die Bausubstanz übergegangen ist. Dass Hitlers Reichskanzlei-Marmor nun zu meinen Füßen in diesem Theater liegt. Man müsste sich auf die Bühne stellen und ins Parkett blicken und die Stimmen im Kopf haben, die sich auf so vielen Archivseiten flammende Diskussionen geliefert haben, wie man die Sitzanordnung am demokratischsten und gerechtesten gestalten könnte. Man müsste auf dem Rosa-Luxemburg-Platz stehen und die Bilder sehen von all den Versammlungen, Demonstrationen und Zusammenkünften von Menschen hier vor diesem Theater und verstehen, wie sehr es diesem Stadtviertel Mittelpunkt und Zentrum war.

Man müsste sich die Fassade anschauen und sehen, wie sich da die Masse der Arbeiter eine Ästhetik angeeignet hat, die man ihr eigentlich verwehrt hatte; wie sie sich selbst ein Denkmal und einen Identifikationspunkt gesetzt hat. Vielleicht würde man sich dann wirklich erinnern, wozu ein solches Theater in der Lage war und vielleicht immer noch ist.

Vielleicht heißt, den Volksbühnengedanken weiterzutragen aber auch einfach nur, dass ein Chefdramaturg sich dafür interessiert, was eine Praktikantin denkt?

Denkzeichen XL
Hakan Günday, 17. Juni, "Tag der Deutschen Einheit I"

ÜBER DIE SUBLIMIERUNG DER AUTORITÄT

Jede Autorität hat die Neigung, im Laufe der Zeit zu verdampfen, indem sie sämtliche Mittel dazu benutzt, die ihr zur Verfügung stehen. Diese Neigung ist dazu da, dass die der Autorität eigenen Moleküle, die sich mit der Luft mischen, durch die Regierten eingeatmet werden, so dass sich der Gehorsam in das verinnerlichte Verhalten verwandelt. Während also die Autorität sich wie eine Dunstwolke ausbreitet, nehmen die Regierten ihren verwandelten Zustand nach und nach als selbstverständlich hin und werden zu unbewussten Autozensurpraktikern – unfähig zu unterscheiden, ob Entscheidungen von sich selbst oder durch die Autorität getroffen worden sind. Ungeachtet dessen, ob es der Autorität gelungen ist, ohne viel Aufhebens den direkten oder mittelbaren Kritiken auszuweichen, weisen die Körper wie auch die Denkorgane die Spuren jenes Einhauchens dennoch auf. Und bisweilen erscheint die Kunst als Mittel, diese wie Fingerabdrücke anmutenden Flecken zutage zu fördern. Im Bewusstsein dessen, dass sie sich, solange sie sichtbar bleibt, als Angriffsfläche handgreiflich macht, wodurch ihre Herrschaft unzweifelhaft schwierig wird, ist die Autorität bemüht, möglichst verdeckt zu sein. Vor diesem Hintergrund wirkt die Kunst als „Fingerabdruckpulver“ – über die Flecken der Unterdrückung streut, werden diese scharf umrissen. So versuchen die Regierten, die der Existenz der Spuren der Autorität in ihren Körpern wie auch den Denkorganen gewahr werden, sich derer zu entledigen. Denn sie nehmen schon wahr, dass jene Spuren, die sie ahnungslos trugen, „Fremdkörper“ sind. Anders als Fingerabdrücke von Dieben bedeuten diese Spuren im Übrigen keinen materiellen sondern einen geistigen Schaden. Während die eine verkündet, dass ein Laptop gestohlen wurde, verweist die andere dagegen auf den Raub der Freiheit. Es ist die Erklärung dafür, dass man als ein barmherziger Mensch zu Bett geht und als unbarmherziger aufwacht. Jene, die misstrauisch, die Infragesteller geißelnd oder gutmütig einschlafen, wachen unnachsichtig auf. Man wird von Geburt an von allen möglichen Autoritäten befleckt und das Leben besteht aus einem ständigen Kampf um das Loswerden dieser Spuren.

Verdampft allerdings die Autorität und hinterlässt so etwas wie Gasgemisch, das sich unter den Regierten verteilt, so weisen die menschlichen Körper wie auch die Denkorgane wegen ihrer Chemie den ausströmenden Stoff sofort von sich. Weil dieses Gas sich nicht mit der Luft mischen kann, verdichten sich seine Moleküle an einer Stelle und die Autorität, die von neuem dingfest wird, bleibt nackt in der Leere hängen. Es ist, als sei ein Dieb auf frischer Tat ertappt. Folglich benötigt man kein „Fingerabdruckpulver“ mehr, um sie sichtbar zu machen. Mit ihrer ganzen Härte und Malaise steht die Autorität wie eine bleigraue Wolke entblößt da. Der Regierte braucht sich nur einmal umzudrehen, um sie zu erblicken, wobei es fraglich ist, ob der Blick lange haften darf. Es handelt sich hier um ein medizinisches Problem. Denn das wahre Gesicht der Autorität ist dermaßen gefährlich, dass man es weder mit bloßem Auge ansehen noch mit bloßen Händen anfassen sollte. Das heißt, die Durchführung der Aktivitäten im guten gesundheitlichen Zustand wäre nur möglich mit einem Helm, einer Taucherbrille, einer Schutzmaske, einem Paar Arbeitshandschuhen sowie einer Flasche mit Antisäure-Lösung.

Somit war das Zubehör, das die Demonstranten von Gezi-Park in der Nacht vom 31. Mai auf den 1. Juni 2013 und danach bei sich hatten, – im Gegensatz zu allgemeiner Annahme – nicht zum Zwecke des Schutzes vor Pfeffergas da, sondern um sich gegen Viren der Autorität zu wehren.


Alle Rechte am Text liegen beim Autor.
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Denkzeichen XXXIX
Marcus Steinweg, 3. Juni 2013

NOTIZ ZUR KRITIK

Es gibt keine Kunst, die sich in der Kritik erschöpft. Noch die kritischste Kunst trägt affirmative Züge. Wie also die Kompossibilität von Kritik und Affirmation denken? Was überhaupt ist Kritik und was bedeutet Affirmation? Sind sie nichts als Widersprüche? Schließen sie einander aus? Ist es so einfach? Oder benötigen wir eine Kritik der Kritik? Es ist an der Zeit, die allzu unkritische Binarität von Kritik und Affirmation zu komplizieren: durch eine Redefinition des Begriffs Kritik.

Beginnen wir damit, die kritische Haltung als die Einstellung derer zu definieren, die nicht dumm sein wollen, wobei Dummheit Ignoranz gegenüber den sozialen, politischen, ökonomischen, kulturellen Fakten meint, die unser Denken wie die künstlerische Praxis konditionieren. Kritisch ist Kunst, die sensibel für ihre Kodifiziertheit ist, was Reflexion auf die Multiplizität von Kontexten verlangt, innerhalb derer sie sich bewegt. Es gibt keine von Tatsachen unberührte Produktion. Wie jede Aktivität, unterliegt auch die künstlerische einem Kodifiziert- und Konditioniertsein. Es sind situationsspezifische Implikationen, die die artistische Produktion bestimmen. Kunst passiert – sofern sie passiert – nicht im luftleeren Raum. Sie artikuliert sich im Verhältnis zum Bestehenden, wie Horkheimer und Adorno sagen, weshalb ihre Kritizität Doppeltes verlangt: 1. Die Konfrontation ihrer Situativität und Tatsachendependenz einerseits, 2. Die Analyse der Grenzen dieser Dependenz andererseits. Deshalb hat Albrecht Wellmer zu Recht bemerkt, dass „bedeutende moderne Kunst [...] immer zugleich auch eine im Medium der Kunst selbst sich vollziehende Reflexion auf den Begriff, die Idee der Kunst gewesen, und damit zugleich eine Kritik an dem, was aus der Kunst – institutionell und im Bewußtsein der Gesellschaft – geworden ist.“1

Nicht dumm sein zu wollen, bedeutet, die falsche Unmittelbarkeit und das Gefühl von Sicherheit, das sie suggeriert,2  zurückzuweisen, weshalb es Aufgabe der Kritik ist, „alle Illusionen, alle Koalitionen, alle Allianzen in Frage zu stellen“.3  Es ist klar, dass diese Infragestellung sich analytisch und destruktiv äußert. Es handelt sich um die Interrogation noch der verlässlichsten Gewissheiten, sofern sie einer Begründung in einem Prinzip letzter Gewissheit entbehren. Die Kritik bringt Unruhe ins Feld der Tatsachen. Sie wirbelt unsere Evidenzen, Meinungen, Überzeugungen durcheinander. Sie stiftet Chaos und legt den Blick auf die Ungesichertheit aller möglichen Konstanten frei, die die Situation des Subjekts zu festigen scheinen, während sie die Sicht auf die Inkonsistenz seiner Realitäten versperren. Es sei, so Müller, „die Aufgabe der Intelligenz, Chaos zu schaffen, Ordnungsvorstellungen zu stören, die ja immer illusionär sind, immer Verengungen von Sichten sind.“4  Adorno hat in der Ästhetischen Theorie von der Kunst – die nur als kritische für ihn den Namen Kunst verdient – gesagt, „dass [...] Kunst eher Chaos in die Ordnung zu bringen habe als das Gegenteil.“5  Vielleicht verbindet Kunst mit Philosophie, dass sie ein Denken ist, das chaosstiftende Praxis sein will.

Zum affirmativen Moment von Kunst gehört das Eingeständnis passiv und aktiv mitlaufender Affirmationen, wobei Affirmation nicht mit Gutheißung verwechselt werden darf. Ob ich die Zeit, in der ich lebe und künstlerisch aktiv bin, gutheiße oder nicht (was immer das hieße!), ändert nichts daran, dass ich in ihr lebe. Sie ist das alternativlose Element, aus dem ich – zumindest zeitlebens – nicht heraustreten kann.  Wittgenstein spricht vom Eingelassensein des Subjekts in ein Sprachspiel, dass also noch der äußersten Skepsis, der Kritik und dem Zweifel die Affirmation eines Bezugsrahmens vorausgeht: „Alle Prüfung, alles Bekräften und Entkräften einer Annahme geschieht schon innerhalb eines Systems. Und zwar ist dies System nicht ein mehr oder weniger willkürlicher und zweifelhafter Anfangspunkt aller unserer Argumente, sondern es gehört zum Wesen dessen, was wir ein Argument nennen. Das System ist nicht so sehr der Ausgangspunkt, als das Lebenselement der Argumente.“6  Als Lebenselement und Lebensstrom definiert das System das Konsistenzmilieu in dem das menschliche Subjekt schwimmt. Es ist das Element, dem wir uns fraglos anvertrauen, bevor wir seine Verlässlichkeit zu prüfen beginnen: „Nur im Strom kann man gegen ihn schwimmen.“7  Bevor ich mich kritisch zu einer Situation oder einem Zustand oder einem System verhalten kann, muss ich mich auf sie einlassen. Ich muss eine Minimalkonsistenz präsumptieren, ein Minimum an Beständigkeit meiner Situation, die es mir ermöglichen, ihre Beständigkeit in Frage zu stellen.

Kritik geschieht nicht von einem Standpunkt aus, der Überblick über eine Situation erlaubt, von der das Subjekt unberührt wäre. Das ist das Intaktheitsphantasma nicht der Kritik, aber der kritischen Attitüde, die sich unangetastet vom Kritisierten glaubt. Das ist ihr Mangel an auf sich selbst bezogener Kritik.8 Man könnte von einem pseudokritischen Narzissmus sprechen, der der Inszenierung der „kritischen“ Integrität dient, statt der Auseinandersetzung mit einer Situation, der das Subjekt der Kritik angehört. Kritik, die diesen Namen verdient, verlangt Abstandnahme von der kritischen Attitüde, indem sie ihre Vorraussetzungen prüft, im Wissen darum, dass „wenn wir überhaupt prüfen“, wir „damit schon etwas voraus[setzen], was nicht geprüft wird.“9

Die Kritik muss sich eingestehen, dass sie nur auf affirmativem Grund operieren kann, nicht von einem gesicherten Außen, nicht aus der Distanz, die die schöne Seele zu den konstituierten Realitäten einnimmt, sondern in faktischer Kontaminiertheit durch das, was Gegenstand ihrer Analysen und In-Frage-Stellungen ist. Das macht sie nicht weniger kritisch. Im Gegenteil, hier erst – mit dem Mut der Selbstimplikation des Subjekts in die kritische Dialektik – beginnt Kritik, die mehr als selbstgefällige Attitüde ist.


1 Albrecht Wellmer, Versuch über Musik und Sprache, München 2009, S. 104.

2 „Dummheit“, sagt Heiner Müller, „ist auch Sicherheit, und Kunst stört ja auch die Dummheit [...] und stört dadurch die Sicherheit.“ Siehe: Heiner Müller, Gespräche 3: 1991–1995, Werke 12, Frankfurt  a. M. 2008, S. 171.

3 Ebd., S. 294.

4 Ebd.

5 Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, Gesammelte Schriften 7, Frankfurt a. M. 1970, S. 144.

6 Ludwig Wittgenstein, Über Gewissheit, Frankfurt a. M. 1970, S. 36.

7 Martin Seel, Theorien, Frankfurt a. M. 2009, S. 117.

8 Die autoreflexive Struktur der Kritik verdeutlicht Kants Kritik der reinen Vernunft bereits im Titel, in dem (in Gestalt des doppelten Genitivs) die Vernunft als Subjekt und Objekt der Kritik in einem auftritt.

9 Ludwig Wittgenstein, Über Gewissheit, a.a.O., S. 50.
 

Alle Rechte am Text liegen beim Autor.
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Denkzeichen XXXVIII
Wolf Hogekamp, 21. Mai 2013

GEHIRNMÜLLSTAUBRAUSSAUGER

die muskeln, das blut
die haut und die poren,
wiegen schwer in der wunde der seele
ich zünde ein licht,
auf deck auf dem schiff,
zu dicht ist die fahrt durch den nebel,

wohin diese fahrt,
die fahrt ins nichts,
an nichts anders kann ich mehr denken
wohin diese fahrt
zu dicht dieser nebel,
ich hab vergessen zu lenken

ein hai lauert backbord
er schnalzt mit der zunge
dann winkt er mit den zähnen
ich denke zuviel
und nichts ist passiert
zum teufel mit all meinen plänen

kein lotze an board
ich gleite so hilflos
Ahoi, ich hab mich verirrt
es kracht im gebälk
das ruder reißt um
SOS. was ist passiert?


sind geister an board
sie klappern im kopf
melancholisch, sie flüstern ganze leise,
sie planen die fahrt
sie steuern so hirnlos
geheimis heißt diese reise

sie summen das lied,
so düster so schwer
das lied vom schiff dieser reise,
ein loop wie das meer
kein ziel und so blind
meine gedanken drehen sich [lautlos] im kreise
 

Heute kommen die Gedanken raus,
es wurd zuviel gedacht,
Schalt die Maschine ein und aus,
heut wird Klarschiff gemacht.
Heute kommen die Gedanken raus,
es wurd zuviel gedacht,
Schalt die Maschine ein und aus, heut wird Klarschiff gemacht.

Ich wünsche mir jetzt
Klarschiff wird gemacht
Gehirnmüllstaubraussauger,
er kehrt meinen Kopf
und leert mein Gehirn
Windung für Windung so sauber!

Eiskalt dieser Wind
er pfeift durch das Hirn
er nagt an meinen Zähnen,
doch die Gedanken verschwinden
der Nebel verfliegt
hinweg mit all meinen Tränen.

Jetzt spüre ich Magic
jetzt fühle ich Love
Gehirnakrobatik als Sport,
dann geht es mir besser
so mit leerem Kopf
Klarschiff heißt dieser Ort.

So fröhlich das juckt
so leicht meine Stirn
freie Bahn in meiner Hirnschaale,
belustigt und frei,
wer hat es erfunden?
ja, ne is ja echt klar, ne.
 

Ich bin dann wie ein Kind
und lache ganz laut,
es kitzelt in meiner Hirnrinde,
volle Fahrt voraus
das Schiff will hinaus
aus meinem Gehirnmüllgewinde.

Mein Netz aus Synapsen
das Herz aus Blut,
nie war ich meiner Seele so nah,
Über Kurz Oder Lang
Breit Hoch oder Tief
Bin ich sowas ja sowas von DA.

Heute kommen die Gedanken raus,
es wurd zuviel gedacht,
Schalt die Maschine ein und aus,
heut wird Klarschiff gemacht.
Heute kommen die Gedanken raus,
es wurd zuviel gedacht,
Schalt die Maschine ein und aus, heut wird Klarschiff gemacht.
 

mp3: Wolf Hogekamp GEHIRNMUELLSTAUBRAUSSAUGER


Alle Rechte am Text liegen beim Autor.
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Denkzeichen XXXVII
Piet Felber, 6. Mai 2013

BLOODY MARY UND KIPPE

Was hat Don Draper, was ich nicht habe? Diese Frage stellt sich seit fünf Staffeln „Mad Men“. Die sechste Staffel der Serie, deren Zentrum Draper ist, ist gerade im amerikanischen Fernsehen angelaufen. Don Draper, Art Director einer Werbeagentur, ist zunächst einmal ein Protagonist in bester Noir-Manier: stählerner Blick, dunkle Vergangenheit, Einzelgänger-Appeal. Nun hat die Film- und Fernsehgeschichte nicht wenige solcher Figuren hervorgebracht. Aber Draper ist mehr: Er ist auch Teil eines genau beobachteten Sittengemäldes aus dem letzten Jahrhundert.

„Mad Men“ spielt in den frühen Sechzigern; es wird getrunken, wo immer eine Flasche steht (überall), man raucht, wann immer sich die Gelegenheit bietet (immerfort) und Political Correctness ist kein Begriff: Alltags-ästhetisch lebt es sich völlig ungezwungen, jeder macht im Rahmen seiner Rolle das, was ihm gefällt. Nur in sehr kleinen Häppchen und anekdotenhaft bricht während der erzählten Jahre das ein, was wir heute als Gewissheiten kennen: Dass Rauchen schädlich sein könnte oder Sexismus mehr als schlechte Manieren verrät. Aber allein der Gedanke, dass jeder Mensch auf Erden Auto fährt, beunruhigt weder Draper noch die Kollegen in seiner Werbeagentur, die fleißig daran arbeiten, einen Kunden aus der Auto-Industrie zu gewinnen. Wenn jeder Chinese Auto fährt, gilt es, Aktien des Herstellers all der Autos zu halten. Ökologische Bedenken sind ihnen fremd.

Das Fliegen ist ein großes Versprechen, und überhaupt gibt es noch diesen Fortschritts-Glauben, den Glauben an unerschütterliches Wachstum. Es hat nichts Ruchloses, im Cadillac statt im Käfer spazieren zu fahren. Überhaupt: Spazieren zu fahren! „Mad Men“ ist dabei das reinste Bilderbuch: Mode, Möbel, jedes Detail stimmt – und wenn man sich an einem kühlen Wochenende zwei ganze Staffeln (à 13 Folgen) reingezogen hat, fühlt sich das am Montagmorgen so an, als komme man gerade aus einem Kurzurlaub. Mit Kleidungs- und Einrichtungsideen, inklusive grob karierter Zuversicht. Wenig verwunderlich, dass „Mad Men“ seine Spuren in aktuellen Mode-Kollektionen hinterlässt.

Das Problem ist, dass diese Vergangenheit etwas verspricht, das die Gegenwart nicht halten kann. Der Tomatensaft im Flugzeug lässt sich nicht mehr genießen, ohne dies auf Kosten eines zu großen CO2-Fußabdrucks zu tun. Die Zeiten, in denen man günstiger fliegen konnte als U-Bahn fahren, sind seit ein paar Jahren auch wieder vorbei. Und im Flugzeug rauchen? Genau.

Eine Figur, die schon hinter sich hat, was Draper noch blüht, ist James Bond. Es ist schon befremdlich, ihm beim Verfall zuzuschauen. In Skyfall, der letzten Bond-Episode ist Bond zunächst nah an der Grenze zum desillusionierten Schmalspur-Ermittler mit schlechten Manieren und noch schlechteren Leberwerten. Selbst für ihn ist die Welt nicht mehr ein Ort der Vervollkommnung, deren Voranschreiten er in seiner Unverwundbarkeit absichert.

Die Welt in Skyfall ist eine Welt, in der die Ressourcen knapp werden. In der er, James Bond, Tests absolvieren muss, um wieder im Namen seiner Majestät losziehen zu dürfen. In der man also um die Wirkung langjährigen Alkohol- und Nikotinkonsums weiß. In der Bond bei den Tests auch noch versagt und von „M“ gedeckt werden muss. In der vormalige Exotik und Glanz der Handlungsorte nach Staub und Diesel riechen. Eine erschreckend reale Welt, der jeder utopische Moment abgeht. Und Bond brütet eine handfeste Sinnkrise aus.

Als der neue „Q“ dem neuen Bond die neuen Technik-Spielereien zeigt, erinnert dann nichts mehr an den Technikglauben der alten Filme: Bond bekommt eine Waffe mit Kindersicherung, eine Waffe, die nur er abfeuern kann. Keine explosiven Spielzeuge, kein Amphibienfahrzeug, keine Uhr mit Luftradar. Bond darauf: „Weihnachten habe ich mir anders vorgestellt.“ Und Q: „Haben Sie explodierende Stifte erwartet? So etwas machen wir eigentlich nicht mehr.“ Als es zum letzten Gefecht in den schottischen Highlands kommt, nimmt Bond schließlich seinen Aston Martin von vor vierzig Jahren mit – ein veritables Artilleriegeschütz und ein Traum aus Chrom.

Sofort ändert der Film seinen Ton: Jetzt ist klar, wer hier gewinnt. In der Landidylle, die kurz zum Inferno wird, hat der von Javier Bardem verkörperte Schurke keine Chance. In den Sechzigern entwarf Ken Adam noch die Bond-Kulissen. Und verdiente sich damit ein „Sir“. Seine Szenerien waren kleine Städte aus einer kommenden Zeit, das war Science Fiction im Mittelmeer oder in den Rocky Mountains. Heute herrscht: pure Landlust.

Skyfall wurde zum Kassenschlager: Bonds Flucht aufs Land gerät zur Reminiszenz an vergangene Bond-Tage, das Zeitlose der Figur wird aufgegeben, da es zutiefst unzeitgemäß anmutet. Ein auf die Zukunft ausgerichteter Bond erscheint unglaubwürdig. Die Produktion geht auf Kuschelkurs mit der Ästhetik der Vergangenheit, ganz genau so, wie man es allerorten beobachten kann.

Mit „Mademoiselle Populaire“ beispielsweise feiert gerade ein Film Erfolge an den französischen Kino-Kassen, in dem die Protagonistin aus den 50ern Sekretärin werden will, um sich von ihrer Herkunft und dem für sie bestimmten Leben zu emanzipieren: „Es gab eine Zeit, in der alle Frauen nur von einem träumten“, heißt es im deutschen Trailer, nämlich „Sekretärin zu werden“. Ihr Chef meldet sie schließlich für einen Schreibmaschinen-Wettbewerb an, an dem sie hübsch frisiert um die Gunst ihres Chefs tippt. Da waren die Rollen noch klar verteilt, Feminismus und Emanzipation überschaubare Ambitionen. Jedenfalls kein Vergleich zu heute: Da erschüttert die Diskussion um „Homo-Ehe“ und Adoptionsrecht für Homosexuelle in Frankreich Moral und Gesellschaftsfrieden. Statt selbst eine Utopie zu denken, begnügt man sich über ein ästhetisches Vehikel mit den Utopien der Vergangenheit.

Die Sehnsucht nach vergangenen Zeiten wirkt da wie der Rückzug ins Private. Dieser Ästhetik liegt wenig an der Gegenwart mit ihren Ressourcenproblemen, Verteilungskämpfen und wirtschaftlichen Krisen. Anders gewendet: So richtig macht sie uns unsere Gegenwart nicht schmackhaft, sie lässt uns nicht – sagen wir – von den Errungenschaften solcher Konzepte wie Nachhaltigkeit träumen. Bloody Mary und Kippe im Flugzeug, das klingt attraktiv.

Nachhaltigkeit denkt ja immer auch das Ende mit: Es geht nicht mehr darum, große Distanzen möglichst schnell zu überwinden, sondern möglichst keine Distanzen mehr überbrücken zu müssen. Wir machen uns nicht mehr vor, den Tod bezwingen zu können, sondern versuchen ihn möglichst lange hinauszuzögern. Unter diesen Voraussetzungen zu gestalten, kann dann schon mal müde und depressiv machen. Jedenfalls geht es nur auf Kosten des Exzesses, auf Kosten von Verausgabung und Manie. Der Rückgriff auf die Ästhetiken vergangener Zeiten verspricht Linderung. Da wird klar, was Don Drapers eigentlicher Vorzug ist: Die Welt, in der er lebt – die Welt, in der überall geraucht werden darf.


Alle Rechte am Text liegen beim Autor.
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Denkzeichen XXXVI
Ricarda Bethke, 22. April 2013

NUR NICHT JAMMERN

Wenn man viele Stunden des Tages für allerlei Training und Übungen braucht, die den Körper und den Geist am Leben erhalten, um dann als „Künstler“, also mit einer sehr großen Qualität von menschlichem Vermögen, im Alter immer weiter zu arbeiten, hat das noch Feuer? Für die meisten ist das Aufhören-Müssen wie der Tod.

Alter? Wenn ich von oben in einen liegenden Spiegel sehe, den Kopf darüber geneigt, dann ist es deutlich. Die Wangen hängen, der Lippenbogen ist eingefallen, vortretende Sehnen am Hals. Oft kann ich in meinen alt gewordenen Freunden noch das Jugendbild erkennen. Wenn ihnen das bei mir gelingt, freue ich mich.

Künstler, jung oder alt, kannte ich als Kind nicht von Angesicht, nur von Bildern. Mein Vorname brachte mich 1947 dazu, mir das Foto der 83-jährigen Ricarda Huch genau anzusehen, mit Schrecken habe ich die Tränensäcke und die hängenden Wangen betrachtet. Eine Schriftstellerin, warum drucken sie ein so unsympathisches Foto, dachte ich. Und so werde ich im Alter auch aussehen, fürchtete ich.

Jetzt ist es soweit, ich bin alt, und ich will einverstanden damit sein. Schriftstellerin wollte ich gar nicht werden. Ich war Lehrerin. Dann schrieb ich aber doch. Umgeben von schreibenden, allmählich berühmt werdenden Freunden, von Schülern, die Maler, Musiker, Schauspieler, Bühnenbildner, Sängerinnen oder Schriftsteller wurden, machte ich Gedichte, Reportagen, Stücke, größere Prosa. Doch ich fand es immer richtig, was die marxistischen Historiker mir beibrachten: Alle arbeiten für ihren Unterhalt, vier Tage sechs Stunden. Und jene Steigerung und Erweiterung des Lebens in die hohen Abstraktionen, tiefen Emotionen, vollendeten Formen, schönen Metaphern, die wäre noch lange in den verbleibenden Stunden erreichbar. Ich fand gar nicht, dass das zu wenige Stunden seien.

Ich glaubte an so etwas wie eine Pädagogische Provinz, in der die Hirten die Musiker sind, oh, mein Gott! Was für Irrtümer, Richard Sennet! „Der flexible Mensch“, der mich dann eines Tages auch noch überraschte. Was das ist: ARTIST, ORIGINAL, ZAUBERER, MEISTER, GENIE, das verstand ich nicht. Von zehn Sachen, die ich machte, kam eine Sache zur Veröffentlichung, manches erst nach 10 Jahren, das ist wenig. Ab und zu gab es viel Lob, dem traute ich nicht.

Manchmal sitze ich da und frage mich: Wo ist die eigentlich jetzt, was ist mit dem geworden? Leben sie noch? Haben sie sich zufrieden zurückgezogen oder leiden sie sehr? Wo sind sie, die im Alter ganz und gar verdrängt wurden oder vergessen, auch weil sie von einer Zeit zeugen, die vergessen werden soll. Wovon leben sie? Wer ist um sie besorgt? Es gibt vielleicht immer noch Schüler, Anhänger, die erinnern sich an sie, oft mit noch größerer Liebe als man sie für Mütter und Väter hätte. Und was ist mit der Höhe? So ungenau sie zu messen ist, irgendwie möchte ich auf meiner Höhe bleiben, alt auch.

Also los, erst mal noch nicht kalt werden und weiter was formen.

Wann ist man als Künstler alt? Die neuen Generationen drängen nach. „Der Ruhm ist kurz“, klagte Einar Schleef schon Jahre vor seinem frühen Tod. Was bleibt, wenn man nicht mehr wirkt? Tut es sehr weh, mehr als bei anderen Berufen?

Wenn du mich lustig machst
Dann denk ich manchmal
Jetzt könnt ich sterben
Dann war ich glücklich
Bis an mein End.
Wenn du dann alt bist
Und du an mich denkst
Seh ich wie heut aus
Und hast ein Liebchen
Das ist noch jung.

Früher mochte ich das, jetzt, wo ich alt bin, kommt es mir ganz schön viel verlangt vor.

Ist es grad für Künstler denkbarer als für andre Leute: “Nimm dein Ende in die eignen Hände“ – wie der Ungar Márai, der mehrere Monate Pistolenschießen lernte extra dafür? Peter Hacks hat den Seneca geschrieben, Seneca lag in der Badewanne, und Rolf Ludwig raste mit der Maurerschubkarre durch die Szene, das hat mir damals im DT sehr gefallen.

Die zu früh Gestorbenen erscheinen uns oft schöner, sie haben in wenigen, heftigen Jahren viel verschenkt. Verlangen kann man es nicht, dass sich einer für uns verbrennt und nicht reifen kann. Nur nicht jammern, wir haben ja die Chance, dass sie für uns, ob sie nun zu früh sterben oder alt werden, nach ihrem Tod noch lange jung und lebendig sind. Inzwischen flicht die Mitwelt und die Nachwelt Kränze, Kränze über Kränze, all die Archive, Kopien, Konserven, Museen, ach!


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Denkzeichen XXXV
Thomas Macho, 8. April 2013

STERBEN FÜR EIN HÖHERES ZIEL

In ihrer zweiten Ausgabe vom 15. Januar 1925 veranstaltete die neu gegründe­te Zeitschrift La Révolution Surréaliste eine Umfrage, deren Thema lautete: »Enquête: Wir leben, wir sterben. Welchen Anteil hat daran der Wille? Es scheint, als würden wir uns töten wie wir träumen. Es ist keine moralische Frage, die wir stellen: Ist die Selbsttötung eine Lösung?« Publiziert wurden Antworten und Beiträge von rund fünfzig Autoren, darunter Antonin Artaud, Marcel Jouhandeau (»Der Suizid ist unnütz«), M. Teste (das Alter Ego von Paul Valéry) oder André Breton, der mit einem Zitat von Théodore Jouffroy antwor­tete: »Selbsttötung ist ein schlecht gewähltes Wort. Wer tötet, ist niemals iden­tisch mit dem, der getötet wird.«1

4.48 Psychosis, das letzte, posthum uraufgeführte Stück der britischen Dramati­kerin Sarah Kane – sie hatte sich am 20. Februar 1999 erhängt, im Alter von nur 28 Jahren – endet mit den Worten: »It is myself I have never met, whose face is pasted on the underside of my mind / please open the curtain«. Die Schluss­worte sind mehrdeutig. Sie können sich auf ein Fenster beziehen, auf eine Büh­ne oder gar die ganze Welt; und sie können nach innen oder nach außen, aus der Perspektive des Publikums oder der Schauspieler gesprochen werden. Ob erst die Öffnung des Vorhangs die Begegnung mit sich selbst ermöglicht? Oder öffnet der Vorhang sich nur für jene Personen, die auf Selbstbegegnungen ver­zichtet haben? Und von wem, von welchem Publikum, von welchen Zeugen, wollen sie dennoch, im letzten Augenblick, gesehen werden? »Validate me / Witness me / See me / Love me / […] I have no desire for death / no suicide ever had / watch me vanish / watch me / vanish / watch me / watch me / watch«.2 Erst der Zeuge, die Zeugin, vollendet den Suizid; es ist die Zeugin, in die sich die niederländische Künstlerin Mathilde ter Heijne zu verwandeln be­ginnt, sobald sie ihr Double – eine lebensgroße Puppe, die genauso aussieht und gekleidet ist wie sie selbst – von einer Brücke stürzen, den Kopf verlieren oder als Suicide Bomb (2000) in Flammen aufgehen lässt.3 Als Titel ihres um­fangreichen Werkkatalogs von 2008 figurierte eine Zeile aus Ronald D. Laings Knots (von 1970): »If it's me, it's not me.«

If it's me, it's not me. Laings Satz zitiert die Spaltung: das beobachtende Ich, das dem beobachteten Ich begegnet, oder das tötende Ich, das dem zu tötenden Ich gegenübertritt. Unklar bleibt freilich, ob der Beobachter oder der Beobach­tete die finale Tat begeht. Wenn es in einem Abschiedsbrief, etwa von Jean Améry, geschrieben in der Nacht vom 16. auf den 17. Oktober 1978, heißt: »Ich kann meinem Niedergang, intellektuellen, physischen, psychischen, nicht zuse­hen«, spricht wohl der Zeuge oder die Zeugin; wenn es dagegen heißt, »sieh mich verschwinden«, dann spricht mutmaßlich das bezeugte Subjekt, das dem Blick auf sich selbst entflieht. Im Tagebuch seiner Krebserkrankung notierte Christoph Schlingensief: »Wenn ich mir meinen Tod als Bild vorstelle, sehe ich mich eigentlich immer auf der Bühne, während ich den eigenen Tod als Stück inszeniere: Einer sitzt in seinem Stuhl, die Sterne sind zum Greifen nah, es zirpt, es ist heiß, und er stirbt. […] Zur Zeit habe ich am meisten Angst davor, nicht im eigenen Bild sterben zu dürfen«4.

Zeugen sind aber auch Umgebungen, Kulturen. Nicht in allen Kulturen ist es möglich, vom Selbstmord zu sprechen; mitunter wird er schamhaft verschwie­gen oder nur metaphorisch umkreist, wie manche Sterbeanzeigen und Grabin­schriften bezeugen. Öffentliche Diskussionen über den Selbstmord können rasch Vokabular und Register wechseln, vom theologischen Verbot, das Leben als ›Auftrag‹ oder ›Geschenk‹ Gottes abzulehnen und ›zurückzugeben‹, bis zur psychologischen Einfühlung in Lebensüberdruss und Melancholie. In derselben Kultur können Suizide unter bestimmten Umständen idealisiert oder verworfen werden. So argumentierte Augustinus im ersten Buch vom Gottesstaat, das Martyrium – etwa der heiligen Frauen, die sich »in Verfolgungszeiten, um ihre Unschuld vor Angriffen zu retten, in die reißende Strömung der Flüsse« stürz­ten – müsse unterschieden werden von der Sünde des Selbstmords: »Das aber sagen, das versichern wir, daran halten wir mit aller Entschiedenheit fest, daß niemand freiwillig den Tod suchen darf, um zeitlicher Pein zu entgehen, er wür­de sonst der ewigen anheimfallen.«5 Freilich bemerkte schon Athanasius in sei­ner Schutzschrift an Kaiser Constantius, es sei »Selbstmord, wenn man sich sei­nen Feinden zur Ermordung preisgibt«6; seine Überlegung provoziert geradezu die Nachfrage, ob dann nicht auch Christi Verweigerung der Flucht im Garten von Gethsemane als Suizid gedeutet werden müsste.

Welche Einwilligung in den eigenen Tod ist legitim? Die christlichen Kirchenvä­ter beriefen sich zumeist auf Gottes Wille und Befehl; und so ähnlich würden wohl auch moderne Heerführer argumentieren: Ein militärischer Suizid – etwa während eines Sturmangriffs – kann als Heldentat gefeiert werden; Selbstmor­de hinter der Front werden häufig verschwiegen oder als ›Fahnenflucht‹ miss­achtet. Die Grenze zwischen Opfer und Todsünde, zwischen Tapferkeit und Feigheit, ist schmal; sie kann leicht verschoben werden, vielleicht im selben Tempo, in dem die Leitbilder der Suiziddebatten einander ablösen: von der Religion zur aufgeklärten Philosophie, von der Medizin zur Soziologie, von der Psychiatrie zur Statistik, von der Justiz zur Beratung. Einerseits ändern sich im Laufe der Jahre die Methoden, Werkzeuge und Elemente des Suizids: Luft, Wasser, Feuer, Gift, Messer, Strick oder Pistole, andererseits die Kontexte und Begriffe öffentlicher Wahrnehmung und Diskussion. Besonders relevant für die­se Fragen ist die Unterscheidung zwischen Regionen und Zeiten, in denen der freiwillige Tod verschwiegen, nur selten und zurückhaltend kommentiert wird, und in denen er vor dem Horizont polymorpher kultureller Diskurse, ritueller, ästhetischer, literarischer, musikalischer oder philosophischer Gestaltung, häu­fig thematisiert und ausgemalt wird. Vorgeschlagen wird daher eine Differen­zierung zwischen selbstmordfaszinierten Zeiten und Räumen, die dem Suizid ein hohes Maß an Aufmerksamkeit schenken, und selbstmorddistanzierten Epochen und Gesellschaften, die den Suizid tabuisieren und abwerten. Die selbstmordfaszinierten Kulturen will ich suizidalistisch nennen, die selbstmord­distanzierten Kulturen nonsuizidalistisch. Suizidalistische Kulturen neigen zur Heroisierung des Selbstmords, der aus vielen Gründen anerkannt wird; nonsui­zidalistische Kulturen halten den Selbstmord für eine moralische Schande und existentielle Niederlage. Suizidalistische Kulturen idealisieren ein kurzes, inten­sives, amplitudenreiches und innovationsorientiertes Leben; nonsuizidalistische Kulturen favorisieren dagegen ein langes, ruhiges, amplitudenarmes, traditions­orientiertes Leben. Suizidalismus und Nonsuizidalismus sind freilich nicht zwin­gend korreliert mit hohen oder niedrigen Selbstmordraten: China ist beispiels­weise geprägt von einer eminent nonsuizidalistischen Tradition, zugleich aber von steigenden Selbstmordraten, die sich teilweise gerade aus fehlendem Re­spekt vor dem Suizid ableiten lassen. Während nonsuizidalistische Kulturen die Selbstmörder in ihrer Mitte häufig verachten und folglich gewähren lassen, waren es umgekehrt dominant suizidalistische Kulturen, in denen die Techni­ken und Strategien der Selbstmordprävention entwickelt und institutionalisiert wurden: als wüssten deren Protagonisten nur allzu gut, welcher gewaltigen Verführung, welchem unwiderstehlichen Sog Widerstand geleistet werden muss. Vielleicht vertrat die christliche Religion gerade darum eine besonders rigorose Haltung gegenüber dem Selbstmord, weil sie ihren eigenen suizida­listischen Kern – die Sehnsucht nach dem Martyrium als via regia der imitatio Christi – allzu genau kannte.

1 Enquête: Le Suicide est-il une solution? In: La Révolution Surréaliste. No 2. Première année (15 Janvier 1925). Paris: Librai­rie Gallimard 1925. S. 8–15; hier: S. 8, 10 und 12.

2 Sarah Kane: 4.48 Psychosis. In: Complete Plays. London: Methuen 2001. S. 203–245; hier: S. 245 und 243 f.

3 Vgl. Mathilde ter Heijne: If it's me, it's not me. Ostfildern: Hatje Cantz 2008. S. 7–10 und 123.

4 Christoph Schlingensief: So schön wie hier kann im Himmel gar nicht sein! Tagebuch einer Krebserkrankung. Köln: Kiepen­heuer & Witsch 2009. S. 73.

5 Aurelius Augustinus: Vom Gottesstaat I, 26. Erster Band: Buch 1 – 10. Übersetzt von Wilhelm Thimme. München: dtv ³1991. S. 45 f.

6 Athanasius: Schutzschrift an Kaiser Constantius [Apologia ad Constantium]. In: Ausgewählte Schriften des Heiligen Athana­sius. Band 2. Herausgegeben und übersetzt von Josef Fisch. Bibliothek der Kirchenväter. 1. Serie. Band 29. Kempten: Kösel 1875. S. 176–213; hier: S. 210.


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Denkzeichen XXXIV
Erdmut Wizisla, 25. März 2013

VOM NETZ UND ZUM BUCH

Offener Widersinn, dieser Hinweis auf eine Anti-Netz-Streitschrift in einer vollelektronischen Kolumne. Egal, das Buch muss unter die Leute. Unter dem Titel „Ende der Hypnose“ hat Roland Reuß im letzten Herbst bei Stroemfeld ein Pamphlet gegen die Überwucherung und Überfremdung des ganzen Lebens durch digitale Medien, Suchmaschinen, Internethändler und die sogenannten sozialen Netzwerke publiziert. „Vom Netz und zum Buch“ lautet der Untertitel. Die Konjunktion ist wichtig, zeigt sie doch, dass die kleine, aber gehaltvolle Schrift nicht nur eine Richtung hat (weg vom Netz, hin zum Buch), sondern ein Thema: ihre Paragraphen, die an Benjamins Einbahnstraße erinnern, handeln vom Netz, und es sind Beiträge zum Buch.

Was aber hat der Verfasser gegen das Netz? Nun, derart pauschal lässt sich das gar nicht sagen. Roland Reuß pflegt eine eigene Webseite, die des Instituts für Textkritik (www.textkritik.de). Er lehrt als Literaturwissenschaftler an der Universität Heidelberg und ist mit Peter Staengle Herausgeber der Brandenburger Kleist-Ausgabe und der historisch-kritischen Kafka-Ausgabe, die beide bei Stroemfeld erscheinen. Da ist einer also netzkundig, hat sogar Beiträge zum Internet-Knigge geschrieben und wendet sich jetzt ab. Das Internet-Geschehen sei weit entfernt vom wahren, guten Leben (S. 11). Die allgegenwärtige Digitalisierung sieht Reuß nicht nur als eine mediale, sondern als eine politische Herausforderung (S. 8), die weder begriffen noch angenommen sei. Nur das Politische könne dem ungehemmten Vordringen totalitärer Technik eine Grenze ziehen (S. 9). Wahre Ökologie schließe die Verteidigung des Buches ein.

Gegen das krakenhafte Vordringen digitaler Kräfte setzt Reuß die Erinnerung an beständige Werte, die fehlen: Muße, die zunehmend schwerer zu finden ist (S. 18), „Zusammenhang, Intensität, Zukunft“ (S. 10). Die Leseerfahrung eines Kindes, wie sie Proust beschrieben hat, wird zum Symbol: Ohne das völlige Hingegebensein, das der Lektüre Verfallensein wird niemand zum Denkenden. Lesen vermittelt die „Fähigkeit der einsamen Schule für die Welt“, zitiert Reuß aus einem Pindar-Kommentar Hölderlins (S. 33).

Das leuchtet unmittelbar ein. Manches wirkt allerdings idiosynkratisch wie die völlige Gleichbehandlung von Google, Apple, Microsoft, Amazon, Facebook und anderen – selbst McDonald’s kriegt was ab. Und gelegentlich ist der Ton hochfahrend wie in dem kleinen Text Ampeln: „Auch die Gesichter vertrügen eine Aufhellung. Wer sich mit offenen Augen durch die Stadt bewegt, schaue sich die Physiognomie der Fußgänger an, wenn sie, unbeobachtet, an einer Ampel warten. Menschlicher Klartext. Die allgemeine Depression ist erschreckend.“ (S. 31). Kaum vorzustellen, dass solches die allgemeine Erfahrung im schönen Heidelberg ist. Ich behaupte nicht, dass es in Berlin keine Düsternis gäbe, aber zum Glück blicken einen hier auch helle Gesichter an, selbst an der Ampel. Über derlei kann hinweggelesen werden wie auch über ein paar Ausfälle gegen Bibliotheksfunktionäre, die, weil sie nicht ausgeführt werden, in ihrer Heftigkeit etwas unverständlich bleiben. Insgesamt wächst beim Lesen mehr und mehr das Einverständnis.

Der Traktat bietet kenntnisreiche und oft philosophisch-poetische Beobachtungen und Einsichten zum Buch, zum Lesen, zur Schrift, zum Druck, zum Lernen und Denken. Mit sicherem Griff versammelt Reuß Geistesverwandte um sich. Dietrich Bonhoeffer etwa, der schon vor mehr als siebzig Jahren Qualität als den stärksten Feind jeder Vermassung bezeichnete und wusste, das Qualitätserlebnis bedeute „die Rückkehr von der Zeitung und Radio zum Buch, von der Hast zur Muße und Stille, von der Zerstreuung zur Sammlung, von der Sensation zur Besinnung, vom Virtuosenideal zur Kunst, vom Snobismus zur Bescheidenheit, von der Maßlosigkeit zum Maß“ (S. 82f.).

Welche Langzeitwirkung die omnipräsente Digitalwelt, die zerstörerische Flut von E-Mails zeitigen wird, weiß noch niemand. Aber die Euphoriker sind leiser geworden. Der Ulmer Neurobiologe Manfred Spitzer warnt: „Digitale Medien führen dazu, dass wir unser Gehirn weniger nutzen, wodurch seine Leistungsfähigkeit abnimmt.“ („Digitale Demenz“, Droemer). Keine Gefahr, werden manche sagen; es kommt eben darauf an, digitale Medien gezielt und kontrolliert zu nutzen. Und im Alltag sind sie sowieso unschlagbar. Wirklich? Nichts ist so unzuverlässig und inaktuell wie das Internet. GoYellow, Yasni, OpenDirectory und wie sie alle heißen verleihen Adressen und Telefonnummern das ewige Leben. Ändert sich bei einem Buch nach der ersten Ankündigung der Titel oder ein Herausgebername, bleibt die ursprüngliche Version wie in Stein gemeißelt. Kommt ein Buch nicht heraus, hat es paradoxerweise dennoch eine Zukunft in Internetbuchhandlungen, Online-Bibliothekskatalogen und zuweilen sogar in gedruckten Literaturverzeichnissen. „Nicht erschienen“, hätte ein aufmerksamer Bibliograph früher vermerkt, weil ihm die „Autopsie“ verwehrt, kein Exemplar zugänglich war. Das Buch „Ende der Hypnose“ von Roland Reuß ist erschienen, es hat die ISBN 978-3-86600-141-1, kostet 12,80 Euro und sollte in einer Buchhandlung erworben werden. Geht nämlich schneller. Amazon.de zeigt Nerven und beeilt sich gar nicht, das Buch zuzustellen: „Gewöhnlich lieferbar in 7 bis 11 Tagen.“


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Denkzeichen XXXIII
Alexander Karschnia, 11. März 2013

ERKLÄRUNG ZUR SACHE

heißt die mit Abstand längste Erklärung der RAF: „Sache der BRD“ sei es, heißt es darin, die Politik des US-Imperialismus gegenüber der dritten Welt zu vermitteln. „Sache ist – offen –, dass da was zu holen ist“. Jedoch: „Die Sache kippt“, nicht nur in Vietnam. „Es ist zu spät, die Sache eindämmen und neutralisieren zu wollen.“ Immer wieder unterbricht der Richter die Angeklagten und fordert sie auf, endlich „zur Sach- … zum Sachverhalt zurückzukehren.“ „ZUR SACHE, SCHÄTZCHEN“, heißt der Kultfilm aus dem Jahre 1968 von May Spils mit Werner Enke und Uschi Glas. Die Wirklichkeit kam schneller zur Sache als die beiden: Am dritten Drehtag wurde in Westberlin der Student Benno Ohnesorg auf der Demonstration gegen den Schah-Besuch von einem Polizisten erschossen. Die Empörung unter den Studenten war groß: „Ist es denn schon so weit gekommen, dass der Tod eines Studenten als gerechte Sache empfunden wird?“, fragte ein Flugblatt der evangelischen Studentengemeinde. Auf dem Kongress, der im Anschluss an Ohnesorgs Beerdigung in Hannover statt fand, kam es zum berüchtigten Clash zwischen Rudi Dutschke und Jürgen Habermas: Dutschke, der durch direkte Aktionen zur Sache kommen wollte, wurde von Habermas vorgeworfen, eine voluntaristische Ideologie zu entwickeln: einen „linken Faschismus“. Der Herbst wurde heiß, es kam zu Straßenschlachten mit der Polizei. Seitdem galt Dutschke als „Rädelsführer“: „STOPPT DEN TERROR DER JUNG-ROTEN JETZT!“, forderte die Springer-Presse und rief zur Selbstjustiz auf: „Man darf auch nicht die ganze Drecksarbeit der Polizei und ihren Wasserwerfern überlassen.“

Am Gründonnerstag 1968 übernahm sie ein junger, arbeitsloser Anstreicher und schoß Dutschke nieder. Wenige Tage vorher hatten in Frankfurt am Main vier APO-Aktivisten zwei Kaufhäuser angesteckt. Mit einem von ihnen, Horst Söhnlein, hatte Enke einmal vor der Kamera gestanden. Im folgenden Film „NICHT FUMMELN, LIEBLING“, wehrt Enkes alter Ego sich gegen den Versuch, ihn für diese Sache gewinnen zu wollen: „Die machen wirklich Ernst“ – „Jaja“ – „Die zünden die Kaufhäuser wirklich an“ – „Jaja“ – „Ideologisches Fanal“ – „Kein bißchen Poesie“ – „Politisches Fanal“ – „Viel zu aktuell“ – „Protest, Junge, Protest“ – „Ich bin für diese Art Protest viel zu alt“ – „Also heute Abend ist heiße Probe, bist du dabei“ – „Viel zu viel Action“. Der Gammler ist kein Revoluzzer, er verweigert sich dem Aufruf zur Tat, dem moralischen Druck des man-muss-doch-was-tun. Doch ist NIXTUN wirklich so apolitisch wie es Enkes Pseudophilosophie glauben machen will („wichtig ist, dass am Ende nichts dabei rauskommt“)? oder ist sie nicht viel mehr die konsequentere Form der 'großen Weigerung' (Marcuse).

NIXTUN ist besser als arbeitslos, erklärte ein weiser Greis 1978 auf dem Berliner NIXTUN-Kongress: Wolfgang Neuss. Er hatte sich nach den Schüssen auf Dutschke aus der Öffentlichkeit zurückgezogen, um nur noch in seiner Bude in Charlottenburg zu vegetieren. Auch er war seiner Zeit aufgefordert worden, sich dem bewaffneten Kampf anzuschließen: „Wenn man sich anschloss oder sich ausbilden ließ, war die Sache gelaufen. Ich hatte immer die Möglichkeit, mich vor der Ausbildung am Gewehr zu drücken: 'Das habe ich schon gemacht.'“ Er habe sich nicht im Krieg den Finger abgeschossen, um jetzt wieder zu den Waffen zu greifen. „VORSICHT SCHUSSWAFFEN“, stand bald in großen roten Lettern auf den unvermeidlichen Fahndungsplakaten – zwei unverzichtbare Requisiten für jeden Western. Filmen und schießen, das gehört zusammen – zumindest im englischen Sprachraum, in dem ein Film nicht gedreht, sondern geschossen wird. Im Deutschen dagegen dreht man auch mal ein Ding, mitunter ein Dolles wie Dutschke: „DUTSCHKE DREHT AN EINEM DOLLEN DING“, titelte die Presse: die Studenten wurden als „politische Halbstarke“, „Provos“ und „Rotgardisten“ bezeichnet. Immer wieder führt die Spur nach München: 1962 wird in Oberhausen ein Manifest verlesen, doch die meisten Oberhausner sind (wie Enke & Spils) in Wirklichkeit Münchner: ein „Münchner Manifest“.

Im selben Jahr erlebt die noch junge B-Republik dort die ersten Ausschreitungen: Sogenannte „Halbstarkenkrawalle“ – mitten im heftigsten Gewühle: Andreas Baader. „SPUR“, hieß auch die deutsche Sektion der SITUATIONISTISCHEN INTERNATIONALEN, die sich in München gründete. Aus ihr ging wiederum die SUBVERSIVE AKTION, hervor, die Kunzel- und Böckelmänner, die Adorno-Sentenzen an die Wände plakatierten. Adorno erstatte Anzeige wegen Urheberrechtsverletzung in Frankfurt, aus Berlin meldeten sich zwei subversive Elemente: Dutschke und Bernd Rabehl, zwei sogenannte „Abgehaune“ aus der damals noch sogenannten DDR. Bald bildeten sie gemeinsam eine neue Gruppe: „VIVA MARIA“ nach der Revolutionskomödie von Louis Malle: „Viva Adventure! Viva Striptease! Viva Fun! Viva Aufklärung & Aktion! Viva außerparlamentarische Opposition!“ Ein Jahr später traf man sich im bayrischen Bad Köchel in einer Villa, um das neue große Ding zu planen: eine WG, die sogenannte „KOMMUNE“! Von ihr gingen so gut wie alle Provo-Aktionen der folgenden Jahre aus, wie z.B. das Flugblatt zum Kaufhausbrand in Brüssel: „Wann brennst du, Konsument?“ Dass es sich dabei um Satire handelte, befanden vor Gericht berühmte Professoren wie Peter Szondi; den Gegenbeweis lieferten Baader, Ensslin, Proll und Söhnlein am 3.4. Frankfurt a. M. und so begann die Geschichte der RAF, deren ERKLÄRUNG ZUR SACHE Titel und Thema dieses Textes ist: was Sache war, ist spätestens seit Eichingers Baader-Meinhof-Komplex klar: GROSSES KINO. Man frage sich jetzt nicht, ob man im falschen Film gelandet sei: Ist es nicht viel mehr so, dass der 'neue deutsche Film' zu guter Letzt bei sich selbst angekommen ist? „Kommune ist“, meinte Neuss, „wenn man den Filmvorführer mit rein nimmt.“ In dem Münchner Kino, in dem May Spils und Werner Enke ein- und ausgingen, gab es zwei Filmvorführer, die sich abwechselten: Rainer Werner Faßbinder und Andreas Baader. Der eine gründete das Antitheater, der andere die RAF. Bindeglied zwischen beiden ist Horst Söhnlein, der zunächst mit Faßbinder Theater spielte, um danach mit Baader ein Kaufhaus anzustecken. „Es wird böse enden...“ (Enke)


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Denkzeichen XXXII
Frank Raddatz, 25. Februar 2013

MEPHISTO UPLOADED: DIE WETTE 2.0.

Als mich vor wenigen Wochen eine Delegation aus Israel aufsuchte, um den Zustand des politischen Theaters in Deutschland zu diskutieren, merkten alle Beteiligten schnell, dass wir kaum angeben konnten, wo die Grenze zwischen dem politischen und dem nicht-politischen Theater verläuft. Argumentiert man beispielsweise mit der zersetzenden, subversiven Kraft des Schönen, ist praktisch jede gelungene Inszenierung, jedes gelungene Kunstwerk politisch. Orientiert man sich an den Inhalten, bleibt fraglich, ob beispielsweise eine Inszenierung wie Revolution Now! der Gruppe Gob Squad trotz des vollmundigen Titels nicht genausogut als durch und durch entpolitisiert zu begreifen ist. Einige Tage später, die Wissenschaftler waren nach Großbritannien weiter gereist, stieß ich bei der Beschäftigung mit einer altbekannten Konstellation auf eine Spur, die mich zwar nicht auf die Lösung des Problems brachte, aber mich doch die Faktenlage unversehens in einem neuen Licht sehen ließ.

Überträgt man den Namen Prometheus ins Deutsche kommt man zu Übersetzungen wie "der Voraussehende" oder "der Vorausdenkende". Der Name seines Bruders Epimetheus dagegen wird zumeist abwertend mit "der Nachherbedenkende" transkribiert. Nur Wohlwollende bringen ihn mit der Reflexion in Verbindung, die ja bekanntlich im Bedeutungsfeld des Nachdenkens und Prüfens angesiedelt ist. Statt wie sein Bruder den Menschen Wohltaten zu erweisen, wird er für das Öffnen der Büchse der Pandora verantwortlich gemacht, die allerlei Schrecken über unsere Spezies brachte oder womöglich noch bringt.

Die Perspektiven der beiden Titanen sind also einander diametral entgegengesetzt. Genauso wie die Blickrichtungen von Bertolt Brecht und Heiner Müller. Während sich das epische Theater eindeutig auf Zukunft hin entwirft und sich durch geradezu durch einschneidendes Intervenieren ins Künftige legitimiert, taxiert Müllers archäologische Betrachtung den vergangenen Schrecken, wünscht die Toten auszugraben, wieder und wieder, um ihnen das Unabgegoltene zu entreißen und besteht auf dessen Einlösung. Diese Auseinandersetzung mit dem Vergangenen ist durch und durch politischer Natur. Haargenauso wird es in der Schule Walter Benjamins gelehrt, wo "das Subjekt historischer Erkenntnis“ seine Kraft "an dem Bild der geknechteten Vorfahren, nicht am Ideal der befreiten Enkel“ nährt. Die Blindheit optimistischer Fortschrittsparteien gegenüber dem Faschismus erklärt Benjamin damit, dass sie "die Rolle einer Erlöserin künftiger Generationen" für sich proklamiert statt "das Werk der Befreiung im Namen von Generationen Geschlagener zu Ende“ zu führen. Auch wenn Brecht diese Thesen Benjamins als entwirrend einstufte, ist ihm die Pointe sicherlich entgangen, dass sich unter diesem Aspekt das epische Theater als ein sozialdemokratisches Modell dechiffriert.

Wie womöglich auch Benjamin selbst nicht ganz deutlich war, dass seine Axiome eine natürliche Affinität zum Tragischen besitzen. Denn insbesondere die Rache vergangenen Unrechts ist wie wir aus Ödipus oder auch der Orestie wissen, die vornehmste Aufgabe der tragischen Helden: "Es leben die unter der Erde / Begrabenen / Denn sühnend fließendes Blut / Entziehen ihren Mördern / Die lange schon Gestorbenen“, singt der Chor in Sophokles Elektra frohlockend, als Orest seine Mutter in Jenseits befördert. Dieser Gesang liest sich wie das positive Gegenstück zu Benjamins pessimistischem Bild vom Triumph des Anti-Christen: "Auch die Toten werden vor dem Feind, wenn er siegt, nicht sicher sein. Und dieser Feind hat zu siegen nicht aufgehört.“ Das ist keineswegs die Sprache der Komödie und kaum jener Heiterkeit verwandt, auf welche ein von Zukunft geschwängertes Theater gemeinhin pocht.

Betrachtet man vor diesem Horizont den Epochenbruch von 1989, der ja für die Desorientierung über die Natur politischen Theaters verantwortlich zeichnet, nimmt er mit einem Schlag die Dimensionen eines gigantischen Schwarzen Lochs an, dessen maßlose Gravitation Vergangenheit wie Zukunft einsaugt und zu einem punktuellen Kontinuum endloser Gegenwart verdichtet. Oder, je nach Standpunkt, aufbläht. Eine Zeitblase perlt auf dem Riss, der zwischen einem gespenstischen Gestern und einem nachhaltig beschädigten Morgen klafft, die gegen jede jener ideellen Anfechtungen immunisiert, die noch einst ganze Ketten von Generationen in Bewegung setzen. Prometheus wie Epimetheus liegen – um im Bild zu bleiben – mittlerweile beide auf dem Rücken und strampeln mit den Beinen in der Luft, als hätte ein unschöner Zauber Kafkas sie in Käfer verwandelt. Weder von den Toten, noch von den Ungeborenen geht momentan mehr eine determinierende Wirkung aus, was durch die Existenz jenes Vakuums bedingt ist, von dem hier die Rede geht. Indem aber die Zeit ihrer Vektoren beraubt wurde, so die These, die ich meinen Bekannten in Israel als Apperçu unseres Gesprächs mailen werde, schwindet auch das Bewusstsein jeglicher Distanz. Diese Distanz ist aber den tradierten Modellen politischen Theaters implizit eigeschrieben. Würde das Geschäft der Geschichtsphilosophie auf einer Theaterbühne verhandelt, wird gerade jene Szene gegeben, wo Mephisto triumphierend seine Wette gewinnt und das faustische Geschlecht vor der Eminenz eines unendlich währenden Augenblick in die Knie geht. Das ist bekanntlich die Ursünde. Mit dem Zauberstab der ewigen Präsenz ist das Gegenwartstheater in das Zentrum des Bösen eingedrungen, ohne dass dieser Tage entschieden werden kann, ob es im Dunkel des gelebten Augenblicks eingelegt wird wie eine ägyptische Mumie in süßen Honig oder als yellow submarine dabei ist, jene Stellen zu verorten, wo der undurchdringliche Mantel aus Gegenwart undicht ist und Blasen aus Vergangenheit und Zukunft in das ewige Jetzt eindringen.


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Denkzeichen XXXI
Jens-Uwe Fischer, Nina Gühlstorff, 14. Februar 2013


EIN GE/DENKZEICHEN FÜR/VON WALTER SCHILLING (28.2.1930-29.1.2013)

Am 29. Januar 2013 starb Walter Schilling.

Vier Jahre zuvor, Thüringen. Für ein Projekt am Theaterhaus Jena über Alternativentwürfe der „Jenaer Szene“ in den 1980ern führen wir Interviews. Immer wieder fällt der Name „Walter Schilling“. Der Jugendpfarrer habe mit der „Offenen Arbeit“, den „Bluesmessen“ und dem von ihm aufgebauten Rüstzeitheim im thüringischen Braunsdorf den Boden für die demokratische Revolution bereitet.

In Braunsdorf trafen wir den 79jährigen für ein Interview.

Schilling trägt die Haare seit den 1960ern lang. Im Garten steht sein Trabbi. Bei ein paar Tassen „Cowboy-Kaffee“ und einer Schachtel Karo, die sich schnell leert, spricht er von Rock´n´Roll in der Kirche und allem was dazugehört. Der Satz „I see a red door and I want paint it black“, wie er es sagt, zeugt von seinem wachen, charismatischen Geist. Ohne Zwischenfragen erzählt er seine Lebensgeschichte, von Repressionen und alltäglichen Einschränkungen für Unangepasste in der DDR. Mit ihrem Erscheinungsbild überschritten sie die Grenzen der kleinbürgerlich-totalitären Gesellschaft. „Euch haben sie vergessen zu vergasen“ sei keine ungewöhnliche Reaktion auf die Anwesenheit von Punks oder Blueskunden im öffentlichen Raum gewesen. In der Kirche bot Schilling den jungen Menschen eine Alternative. Eine zentrale Rolle spielte dabei das Konzept „Offenheit“, im Sinne einer „offenen, basisorientierten Gruppierung, die als Modell für eine offene, basisorientierte Gesellschaft wirken sollte. Es ging immer auch ein um neues Gesellschaftsmodell.“ Er ermutigte die Jugendlichen dazu, kritisch und spontan zu sein, etwas zu riskieren. Vermittelt ihnen, das es auf sie ankommt und dass ihr Anderssein und ihr Wille zur Veränderung etwas Positives ist.

„So, jetzt ist Pause“, sagt er, als er mit seiner Geschichte im „Wendejahr“ angekommen ist. 1989 lebt er in Berlin, leitet die Kirche von Unten und hat eine „Schlüsselfunktion“ in der Opposition. Eine aufregende Zeit, nun geht es wirklich um eine demokratische Revolution, eine praktische Umgestaltung der Gesellschaft, um eine bessere Zukunft. Doch wie soll das erreicht werden? Das war nicht einfach: „Ich hab das erlebt, dass wir in der Vorbereitung des Kirchentags von Unten unterschiedliche Gruppierungen zusammen geholt haben. Das war schlicht katastrophal – diese Berliner Gruppen: Frieden-Menschenrechte, Umwelt, Frauen! ... Diese Profilneurotiker.“ Doch dann begannen sie zu diskutieren, immer wieder wurden Trendabstimmungen gemacht. „Und jedes Mal nach ner Trendabstimmung hat die Minderheit zuerst das Wort gekriegt. Und nach ner ¾ Stunde war es so weit, dass tatsächlich sich herausgeschält hat, es gibt eine Mehrheitsmeinung, und die wurde von der Minderheit akzeptiert. Das wär eine Möglichkeit einer Gesellschaftsform.“

Nach der Großdemonstration in Leipzig im Oktober ist er sich sicher: „Wir haben gewonnen!“ Doch die Mehrheit der in der DDR Beheimateten will nicht nach Utopia. Und dann fällt die Mauer. „Der 9. November war für mich ne Enttäuschung. Ich hab auf meinem Balkon gestanden. Die anderen waren alle aus unserem Kontaktbüro verschwunden, ich hab meinen Telefondienst zu Ende gemacht. Und die verschwanden alle nach Westberlin. Da bin ich heim und hab’ gedacht: Das war’s nun. Jetzt werden se ALLE nach’m Westen rennen. Ich hatte erst gedacht, ich lege ein Trauerjahr ein und dann muss es ja gut sein, dann werd’ ich mich auf die neue Zeit einstellen und so. Das ist mir nicht gelungen.“

Schilling ist immer noch relevant, weil seine Erzählung nicht der nationalen Selbstaffirmation dient. Er stilisiert sich nicht zum Helden der „Friedlichen Revolution“, blieb unangepaßt, rebellisch und kritisch. So seien etwa die Funktionäre das eigentliche Problem der DDR gewesen: „Sie haben den eigenen Menschen nie etwas zugetraut. Sie mussten immer gängeln, mussten immer vormachen. Ich hab einem Stasi-Offizier mal gesagt: „Ihr habt doch immer das falsche Schwein geschlachtet. Immer das falsche. Ihr hättet eigentlich mit denen, die kritisch sind und die hinterfragen, paktieren müssen, nicht mit euren Ja-Sagern, euren Stehaufmännchen.“ Neben dem eindimensionalen Blick auf die DDR hätte die Gesellschaft heute aber noch ein viel größeres Problem: „Es fehlt auf der Welt zurzeit das Gegenmodell. Dabei muss das Gegenmodell gar nicht gut sein, es muss nur vorhanden sein. Als eine Alternative. Die DDR und der Ostblock war immer ein sehr schlechtes Gegenmodell. Das stimmt ohne Zweifel. Aber es war eine Art Spiegel, der den Westlern immer auch zeigte: Vorsicht! ... Im Moment, wo dieses Gegenmodell fehlt und einfach nicht mehr da ist, entsteht natürlich der ungezügelte Kapitalismus wie wir ihn zurzeit erleben und der in die Krise geraten ist.“


Alle Rechte am Text liegen beim Autor.
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Denkzeichen XXX
Marcus Steinweg, 4. Februar 2013


KONKORDANZEN

Beginnen wir damit, eine Stelle aus Jacques Derridas De la grammatologie in Erinnerung zu rufen, wo es vom Herzen heißt, dass es, da es „kein Organ“ sei, „Organ der reinen Präsenz“ genannt werden muss. Im Herzen – wenn auch nicht in der Mitte – einer Analyse, die Jean-Jacques Rousseau gewidmet ist, diesem Philosophen des reinen Herzens, evoziert Derrida das Bild einer Konkordanz, die der Kommunikation reiner Herzen entspricht. Als legte sich ein Herz auf das andere, um mit ihm zu einem Singular zu verschwimmen und in dieser neu gewonnenen Einheit zu erkalten, die das Gehäuse einer solipsistischen Dyade generiert. Als versuchten zwei Herzen zu einem zu werden, indem sie im jeweils anderen zerfließen, so tief gräbt sich das eine ins andere, so hoch ist die Bereitschaft eines jeden im anderen zu wohnen, sich in ihm einzunisten und sich ihm zu assimilieren, in ihm sich wiederzuerkennen bis zur Erfahrung vollendeten Selbstverlusts. Konkordanz, Kommunion, Kommunikation – können tödlich wie die Liebe sein.

Wenn es ums Herz geht, um Angelegenheiten des Herzens, kommen einem solche Bilder in den Sinn. Bilder von der Fluidität der Herzen, die wie Magma ineinanderströmen, um einen See flüssigen Feuers zu bilden, ein einziges flammendes Herz, wie es die Liebe indiziert. Es kann sich, wie bei Spinoza, um die Konkordanz des Menschen mit Gott, mit dem Magma, das die spinozistische Ontologie Substanz nennt, handeln. Es kann die Liebe zwischen zwei Menschen sein, die im geteilten Herzen ihre Singularität zu opfern bereit sind, bereit sie zumindest unendlich zu neutralisieren. Ein Herz küsst das andere, um sein autoaffektives Selbst in der Erfahrung der Verschmelzung oder zumindest der Eintracht, jedenfalls der Komplizenschaft zweier oder mehrerer Herzen zu kompromittieren. Ich liebe dich – dieses, wie es scheint, unverzichtbare Syntagma – heißt auch: Ich kompromittiere mich in dir.

Wir können nicht umhin, einen der Anfangssätze der Bekenntnisse des Heiligen Augustinus zu zitieren. Jeder kennt dieses so einfache wie ergreifende Latein: „quia fecisti nos ad te et inquietum est cor nostrum, donec requiescat in te / geschaffen hast Du uns zu Dir, und ruhelos ist unser Herz, bis dass es seine Ruhe hat in Dir.“ Abermals beginnt ein Herz zu rasen, während es sich Gott zukehrt, um eine Art Herzstillstand einzuklagen, die Ruhigstellung seiner selbst. Das ruhelose Herz, geeignet das finite Sein des Subjekts zu markieren, verlängert sich im Gebet auf die infinite Substanz. Wenn es einen Sinn des Betens gibt, dann liegt er im Bekenntnis dieser Ruhelosigkeit, die das Subjekt einen Schlaf erträumen lässt, eine Pause oder Rast, einen Abstand von sich, von dem Selbst eines Selbst ohne Selbsthaftigkeit, vom Loch im Herzen des Subjekts. Das durchlöcherte Herz beschreibt das Subjekt der Liebe kaum besser als das Subjekt überhaupt.

Ist nicht das Subjekt als solches durchlöchertes Subjekt, das sich im Fieber, in der Unruhe, im Umherirren identifiziert? Ein umherschweifendes Cogito, das Derrida mit der Vernunft im allgemeinen – mit dem auf seinen impliziten Wahnsinn geöffneten cartesischen Ego – assoziiert. Eine Art Alien, der namen- und gesichtslos, in jedem Fall aber ohne gesicherte Identität, im Vakuum seiner Wesensleere umherstreift. Ein Alien ganz von dieser Welt, ein innerterrestrisches Subjekt dieser einen Welt ohne Ausgang, von der Jean-Luc Nancy sagt, dass sie – wie übrigens das Subjekt, das sie bewohnt – einem „Wurf ohne Entwurf“ gleicht, Welt als „reines Außersichsein“, „Einsamkeit einer Welt inmitten von nichts“. Das Herz, schreibt Nancy, ist das „Organ, das, um zu begreifen, ergreifen und sich ergreifen lassen muss“. Anders als der reine Verstand – aber, existiert er? – kontaktiert das Herz ein Außen, das sich als elementare Unbestimmtheit, als Ozean der Gefühle und Wüste inkommensurabler Affekte, beschreiben lässt. Es selbst ist ein Affekt und es lässt sich affizieren, es riskiert zu verunsichern, zu bedrängen, zu verstören, wie es auch riskiert, verunsichert, bedrängt, verstört zu werden. Als ruheloses Organ beunruhigender Leidenschaften übergibt es das Subjekt einem Taumel, der beides gleichermaßen ist: Taumel eines Denkens, das sich der Sphäre des Ungewussten öffnet, wie Taumel jeglicher Lebensdynamik, die sich in ihre Gewissheiten einzuschließen weigert. Als Organ des denkenden Lebens bleibt es dem Inkommensurablen oder Unlebbaren zugekehrt. Nancy ist sich mit Derrida einig, dass ein Riss jegliche Präsenz (wie jedes Herz und jedes Subjekt) durchläuft und ins Wanken bringt, weshalb er Nietzsche (mit Augustinus, mit Plato und Kant) als Philosophen einer „heftige(n) Unruhe“ adressiert. Es kann das Herz eines anderen sein, das fremde Herz, das die Stelle des eigenen annimmt (Nancy spricht von seiner Herztransplantation), die das Subjekt der Konfusion des Eigenen mit dem Fremden, der Identität mit der Präsenz aussetzt: „Mein Herz wurde nun zu meinem Fremden.“'

Ob es das fremde Herz in mir ist, ob es mein Herz ist – mein augustinisches Herz, wenn man so sagen darf –, das sich im Anderen (sei es Gott, sei es die/der Geliebte) versenkt, um sich inmitten dieser Fremde ruhigzustellen, niederzulegen, dort einzuschlafen und zu träumen, immer handelt es sich um eine Konkordanz zweier Herzen, denen es kaum gelingen mag ihre Fremdheit voreinander zu verbergen, während sie sich ihrer Liebe füreinander versichern, des Gefühls auch einer gewissen Einigkeit.

Aber, was bedeutet all dies? Vielleicht nicht mehr, als dass zu jeder Konkordanz die Erfahrung des brüchigen Herzens gehört. Für diesen Bruch steht es ein: das Herz als Allegorie riskanter Passionen, das, indem es sich von sich losreißt, um eine Andersheit zu berühren oder zu empfangen, die Erfahrung der Brüchigkeit des Subjekts erfährt, ganz gleich auf welche Entität es sich richtet, welcher Sonne es sich anvertraut, welchem Orient, welcher Nacht. Es kann nicht anders als sich zu seiner Verletzbarkeit zu bekennen. Wenn wir vom Herzen sprechen, dann sprechen wir bereits von einer Verletzung, mag sie und die Wunde, die sie bezeugt, in der Vergangenheit liegen (aber, die vergangene Vergangenheit, sagt uns die Psychoanalyse, die spurlos vergangene Vergangenheit, gibt es nicht) oder in der Zukunft. Mag sie sich in diesem Augenblick, jetzt, in mein Herz einnisten, es durchbohren, wie man sagt, es brechen oder teilen. Das Herz kann nur der Schauplatz einer das Subjekt an seine Grenzen führenden Erfahrung sein.


Alle Rechte am Text liegen beim Autor.
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Denkzeichen XXIX
Michael Farin, 18. Januar 2013

DENKZEICHEN FÜR/VON THOMAS.
 

Seit geraumer Zeit sitze ich zwischen Papier. In einem Meer aus Papier. In Wellen aus Kopien. In einem Lebenswerk. In dem, was davon übrig blieb. Akten, Schachteln, Drehbücher, Manuskripte, Photographien, Reisepässe. Vor mir Fotos der toten Ulrike Meinhof. Um mich herum Fotos der toten Gudrun Ensslin. Studien zu WUNDKANAL. Seinem "Lebens-Film". Studien zu ROSA. Seinem "Lebens-Buch". Varianten. Versionen. Abschriften. Dokumente. "Im Auftrage der Staatsanwaltschaft bei dem Landgericht Stuttgart sollte anläßlich des unnatürlichen Todes von Ulrike Meinhoff die Klosettecke der Meinhoff-Zelle dahingehend untersucht werden, ob Merkmale vorhanden sind, die darauf deuten, daß hier kurz vor dem Tode Papier verbrannt wurde." Ein Brief von Veit Harlan, seinem Vater. Wegen Klaus. Klaus Kinski. Seinem Freund. Noch ein Brief. Und noch einer. Dann wieder ein "Gutachten über die Spuren in dem Damen-Slip". Leichensache Meinhof. Der Grundriss von Stammheim. Aber auch Post aus Italien. Von Giangiacomo Feltrinelli. Einem Freund. Aufzeichnungen zu den Dreharbeiten von TORRE BELA. Dem Film zur Nelkenrevolution in Portugal. Ein Brief von mir. An ihn. An Thomas Harlan. Meinen Freund. Gestorben 2010. In Schönau bei Berchtesgaden, wo er seit 10 Jahren gelebt hat. Im Sanatorium. Mit Blick auf den Obersalzberg.

Und immer wieder Texte von ihm, etwa zur Verjährungsdebatte, aus dem Jahre 1965: DIESES MEER VON ERINNERUNGEN – KRIEGSVERBRECHEN ODER DIE ARBEITSTEILUNG BEI MORD UND TOTSCHLAG IM KRIEG. Ursprünglich für die ZEIT geschrieben. Zu einem Abdruck ist es nicht gekommen. Ein auch heute noch aktueller Essay, über den damaligen Anlass hinausreichend. Jetzt, in dieser Zeit, da man sich allerorten an Kriege gewöhnt zu haben scheint, da für Friedensnobelpreisträger Krieg führen Frieden bringen heißt. Leitsätze: "Welche 'Straftaten des Mordes im Krieg' sind praktisch auch Straftaten des Mordes im Sinne des deutschen Strafgesetzbuches?" Zugespitzter: "Ist Massenmord überhaupt Mord?"

"Kriegsverbrechen sind in Deutschland mildernde Umstände: sie beziehen sich auf Verbrechen aller Art, die im Krieg begangen werden, das heisst, im Ausnahmezustand. Der Krieg selbst ist kein Kriegsverbrechen, – der Ausnahmezustand selbst wird in den bürgerlichen Gesetzbüchern an keiner einzigen Stelle erwähnt, weder lobend noch überhaupt: der Krieg taucht unter den Straftaten nicht auf. Er kommt nicht vor. Er kommt lediglich mildernd hinzu. Er ist ein übernatürliches Uebel, das natürlich andere Übel mit sich bringt: wie Mord bei Föhn in Bayern auf Milde zu stossen unter den Landrichtern die Angewohnheit hat, so ist im deutschen und nicht nur im deutschen Obrigkeitsstaat die Sitte gut eingebürgert, Krieg kurz für eine Ursache zu halten und den Mörder logisch für seine Folge: der Mord liegt also im Wetter begraben wie das Kriegsverbrechen im Krieg, – oder: wo der Krieg die Regel ist, da können Mord und Totschlag schlecht Ausnahmen sein, – da ist die Ausnahme erstens die Regel. Die Goldene."

"Also sind Kriegsverbrechen Amtshandlungen im Gefolge des Krieges, und – da der Beamte dem Krieg überwiegend ins Ausland folgt – überwiegend Amtshandlungen im Ausland; und über ihre Rechtmässigkeit oder Unrechtmässigkeit entscheidet allein das Recht, das am Wohnort des Beamten gültig ist, das heisst, zu Hause, das deutsche. Das deutsche Strafrecht also entscheidet darüber, ob es deutschen Beamten freistehen soll oder nicht, ausländische Gesetze zu brechen, Landfriedensbruch im Ausland zu begehen, ausländische Städte einzuäschern, ausländische Bevölkerungen zu verschleppen, Vernichtungslager für Ausländer einzurichten, kriegsgefangene Ausländer zu töten und ganze Volksstämme auszurotten, – dem Gutdünken deutscher Justizorgane also ist es überlassen, ob diese Straftaten für verfolgungswürdig erachtet werden oder nicht, und die Verantwortlichen selbst befinden darüber, wofür und ob überhaupt und bis zu welchem Zeitpunkt sie für sich verantwortlich sein wollen und ob ein Mord, der nach polnischem Recht Mord ist und nichts als Mord, nach deutschem Recht nicht vielleicht ein Totschlag oder eine Körperverletzung im Amt mit Todesfolge werden könnte oder auch eine Todesfolge ohne Verletzung – ohne dass womöglich der Tod die Folge von irgendwas oder irgendwem gewesen sein müsste und ohne dass ein deutscher Beamter hierfür vor einem deutschen Gericht die Folgen davonzutragen hätte: denn was nicht gegen das deutsche Gesetz verstösst, verstösst überhaupt gegen nichts, nicht einmal gegen die deutsche Natur."

"Sofern Ausrottung überhaupt Ausrottung war. Sofern Ausrottung nicht nur ein blosser Totschlag war oder eine Beihilfe hierzu. Oder eine Unterschrift. Aber die Mehrzahl aller Morde waren nicht einmal Beihilfen und die Mehrzahl aller Mordwerkzeuge nicht einmal Totschläger, und alle noch so abgeänderten Gesetze aller Bundestage könnten doch die Tatsache nicht abändern, dass zwei volle Generationen ausgewachsener Kriegsverbrecher getrost ihre Altersgrenzen erreichen und überschreiten werden und frei ausgehen dürfen wie ein grosses Hornberger Schiessen: der Hahn, der nach ihnen hätte krähen können, ist längst geschlachtet: das Kontrollratsgesetz Nr. 10 von 1945 ist längst gegen das deutsche Strafgesetzbuch von 1890 zurückgetauscht worden, und Massenvergasungen passieren die gerührten Gerichte im Jugendstil ungehindert, ohne je gegen das Geringste verstossen zu haben: das Dritte Reich war nicht einmal eine Beihilfe zu sich selbst."

"Ja, es mag schon möglich sein, dass die Juli-Morde 1942 in Warschau Morde waren und die Deportationen in das Vernichtungslager Treblinka Beihilfen hierzu, aber der Ghettokommissar Auerswald war von Amts wegen nichts als Kommissar zur Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung in der jüdischen Wohngegend und ist kein Mörder, (sondern ein ungeschorener Millionär und Rechtsanwalt in Düsseldorf) und das Warschauer Ghetto hat 5 Tage vor der Strafrechtsreform aufgehört zu existieren, daran kann auch ein Gesetz nichts ändern, und 56 065 Juden sind innerhalb zweier Wochen von SS- und Polizei- und Wehrmachtsleuten massakriert worden. Sofern das Massaker überhaupt ein Mord war (aber es war keiner), sofern die Mörder sich überhaupt der Gesetzwidrigkeit ihres Handelns bewusst waren (aber sie waren bewusstlos), sofern nicht der Krieg mildernd hinzukommt (und er kommt) und auf Totschlag erkannt wird (es wird) und die verjährten Totschläger nicht im Befehlsnotstande gehandelt haben (sie haben), sofern dies alles nicht der Fall ist (und es ist nicht der Fall), sind die Mörder von 56 065 Juden im Warschauer Ghetto freie Männer (und sie sind es), allesamt, mit Kriegsverdienstkreuzen I. und II. Klasse ausgezeichnet, allesamt Bürger der Bundesrepublik mit bürgerlichem Ehrenrecht, mit Stimmrecht, Wohnrecht, mit Recht auf Altersversorgung und Versicherungsschutz, zu Recht, allesamt. Man kann nicht 20 Jahre Bundesrepublik einfach von denen abschütteln, die darin wohnen. "

"Der letzte Kunstgriff bedient sich folglich deutscher Logik bei der Behauptung, es habe wohl Massenmorde gegeben – aber keine Massen m ö r d e r, – es seien zwar unbeschreibliche Verbrechen vorgekommen, aber die Verbrechen hätten sich aus so vielen Tätigkeiten zusammengesetzt, die selbst keine Verbrechen waren, – und die Summe aller Tätigkeiten, die selbst keine Verbrechen waren – die Summe aller erlaubten Handlungen also sei das eigentliche Verbrechen gewesen und die Summe aller unschuldigen Beamten der eigentliche Massenmörder: Mörder war die Summe, der Dienstweg."


Michael Farin, Verleger, belleville Verlag
Alle Rechte am Text liegen beim Autor.
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Denkzeichen XXVIII
Kathrin Tiedemann, 20. Dezember 2012

BEWEGUNGSFREIHEIT

Kurz vor dem Jahrestag der Revolution mit einer jungen Frau durch Tunis laufen und sich anstecken lassen von der Begeisterung, mit der sie den Polizisten auf der Straße unverschämte Grüße zuwirft. In einem Hotelzimmer auf der Avenue Habib Bourguiba bei Sonnenaufgang von einer ständig lauter werdenden Melodie geweckt werden. Beim Blick aus dem Fenster feststellen, dass es sich um eine ständig anwachsende Menschenmenge handelt, die vor dem Innenministerium demonstriert. Später erfahren, dass es sich um Proteste gegen die Absetzung eines Politikers handelt, der sich für die Verfolgung von Polizeidelikten gegen Demonstranten während der Revolution eingesetzt hat. Zuschauen, wie Männer in Kaftanen und mit Turbanen bekleidet über eine Bühne tanzen und Allah preisen. Dabei neben einer bekannten deutschtürkischen Islamkritikerin sitzen, die in der Szene vor unseren Augen den Sieg der Islamisten über die Revolution bestätigt sieht. Im Hotel El Hana International einen Kaffee trinken und erfahren, dass es sich bei den zahlreichen Invaliden im Foyer um libysche Flüchtlinge handelt. Sich mit einer Deutschlehrerin unterhalten, die erzählt, dass sie seit der Revolution ihre besten Studenten zur Anerkennung ihrer Leistungen nicht mehr nach Deutschland entsenden können, da es praktisch unmöglich ist, von den deutschen Behörden ein Visum zu erhalten. Von der selben Sprachlehrerin erfahren, dass die meisten ihrer Schüler junge Männer sind, die sich ihre Sprachkurse von deutschen Touristinnen in fortgeschrittenem Alter finanzieren lassen und dass dabei in den seltensten Fällen Liebe im Spiel ist.

Affektbild I: Der nackte Greis in Béla Tarrs Film „Die Werkmeisterschen Harmonien“, dessen Anblick der marodierenden Schläger-Truppe plötzlich Einhalt gebietet.

Einen Mini-Bus von Ost-Jerusalum nach Ramallah nehmen. Es ist Ramadan und es ist Freitag, die Straßen sind wie leergefegt. Sich freuen, einen Taxifahrer gefunden zu haben, der nach Jenin im nördlichen Westjordanland fährt.  Den neuen protzigen Hotelkomplex einer schweizerischen Hotelkette links liegen lassen und in eine endlos scheinende, karge Hügellandschaft eintauchen. Sich am Ende der zweistündigen Taxifahrt schämen für den unangemessen niedrig erscheinenden Preis. Nach Sonnenuntergang im Innenhof des Cinema Jenin inmitten von Familien mit kleinen Kindern und Wasserpfeife rauchenden Jugendlichen auf einer Großleinwand Koran-Fernsehen schauen, das von Werbeblöcken für unerreichbaren Luxus aus der globalen Konsumwelt unterbrochen wird. Sich von jungen deutschen Filmemachern berichten lassen, wie sie im vergangenen Jahr als Freiwillige am Kinoprojekt mitgearbeitet hatten und nach der Ermordung von Juliano Mer Kahmis, dem Leiter des Freedom Theatre, im April 2011 Morddrohungen erhielten und daraufhin Jenin verlassen mussten. Eine leise Ahnung davon bekommen, weshalb der deutsche Filmemacher Marcus Vetter, Mit-Initiator des Kino-Projektes, in Jenin zwischenzeitlich zur Persona non grata erklärt wurde. No Cooperation under Occupation. Sich daran erinnern, dass dieser Ort im Herzen eines ideologischen Kriegsgebietes liegt. Sich nicht mehr darüber wundern, dass es in dieser Situation um Dogmen geht und Kulturprojekte zum Zwecke der Verständigung mit den Besatzern auf strickte Ablehnung stoßen. Von einem Straßenhändler frische, reife Datteln geschenkt bekommen. Sich zum Rauchen vor Sonnenuntergang ein Versteck suchen und sich als Frau auch nach Einbruch der Dunkelheit besser nicht mit einer Zigarette auf der Straße blicken lassen. Im Flüchtlings-Camp von Jenin das Freedom Theatre besuchen. Die Trauer um den ermordeten Theaterleiter in den Gesten und Worten seiner Mitarbeiter spüren, ihre Verzweiflung darüber, dass die palästinensischen Behörden bis heute den Mord nicht aufgeklärt haben und dass nun außerdem Zacharia Zubeidi, einer der Mitbegründer des Freedom Theatre, unter fadenscheinigen Anschuldigungen seit Mai in Untersuchungshaft sitzt. Monate später auf der Website des Theaters einen link zu einer Videobotschaft von Zubeidi finden, der nach einer Serie von Hungerstreiks im Oktober 2012 gegen Kaution aus der Untersuchungshaft entlassen wurde.

Affektbild II: Der Moment, in dem Sonia Baydoun sagt, dass die Jahre im Internierungslager in Khiam die beste Zeit ihres Lebens waren. Er ist Teil der Erzählungen von sechs ehemaligen Häftlingen des Internierungslager Khiam, die in der Videoinstallation „Khiam 2000 bis 2007“ von Joana Hadjithomas und Khalil Joreige dokumentiert sind. Diese Männer und Frauen erinnern sich an das Leben im Camp, das Mitte der 80er Jahre von der South-Lebanon-Army im von Israel besetzten Südlibanon errichtet wurde. Sie waren dort bis zu 10 Jahren inhaftiert und schildern, wie es ihnen gelang, unter schwersten Haftbedingungen und Folter zu überleben und Widerstand zu leisten. Dazu gehörte, dass sie mit den nackten Händen aus Abfällen einen Stift oder eine Nadel aber auch Schmuck herstellten und sich gegenseitig Fremdsprachen beibrachten. Das Camp wurde später in ein Museum verwandelt und im Juli 2006 bei Angriffen durch die israelische Luftwaffe dem Erdboden gleich gemacht

Das Occupy-Camp an der Johanneskirche in Düsseldorf vermissen. Sich an die erste Versammlung der Menge auf dem Graf-Adolf-Platz erinnern, als eine junge Frau der „Asamblea" die internationale Zeichensprache der Bewegung einführte, und an die Einzelnen, die vortraten, um öffentlich zu sprechen. Nach zehn Monaten die Räumung des Camps in den Sommerferien sollte den Weg wieder freimachen für Passanten.  Stattdessen errichtete die Stadt an der Stelle des geräumten Camps einen Bauzaun und sperrte den öffentlichen Raum ab. Freiheit existiert nur in räumlicher Begrenzung. Der Unterschied zwischen Teilnahme an öffentlichen Angelegenheiten und Verwaltung im öffentlichen Interesse. Wenn es stimmt, „dass Europas Armut sich gerächt hat in der Prosperität der amerikanischen Massengesellschaft, welche den gesamten politischen Bereich zu überwuchern und zu verwüsten droht“, wie Hannah Arendt bereits Mitte der 60er Jahre schrieb, dann erleben wir nun, dass die Masse den Preis für Wohlstand und Wohlfahrt bezahlen soll,  an denen teilzuhaben für sie nur in Form von Konsum vorgesehen war. Sich erinnern, dass „nur wer an der Welt wirklich interessiert ist, eine Stimme im Gang der Welt“ haben sollte.


Alle Rechte am Text liegen bei der Autorin
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Denkzeichen XXVII
Thomas Martin, 11. Dezember 2012

DER BLINDE FLECK

Ich zweifle, daß eine Gesellschaft sich den Begriff der Freiheit auf die Fahnen schreiben kann, wenn in ihr das Aggressionspotential der Werbung für Kauf, Verkauf, Profit stärker ist als das der Propaganda für den Klassenkampf oder den Machterhalt einer Partei, die sich die Diktatur (von wem auch immer) auf die Fahnen schreibt. Wir leben in einer unfreien Welt, in einer Gesellschaft, deren Voraussetzung die Ungleichheit und der Machterhalt von ökonomischen Eliten ist. Nichts erzeugt so viel Wärme und Kälte zugleich wie Besitz. Nichts zu besitzen außer Erkenntnis und einem Anzug aus Holz, muß nicht an sich von Vorteil sein, in unseren Breiten kaum. Aber wo der moralische Wertmaßstab ein Zuviel propagiert, kann ein verordnetes Zuwenig vorübergehend hilfreich sein. Eine staatliche Ordnung, die dafür sorgt, existiert bei uns nicht. Freiheit (auch von Besitz) bleibt Utopie. Wer immer dafür wirbt, hat den Begriff der Freiheit schon verraten, weil er ihre Zweckfreiheit untergräbt. Wo alles käuflich und verkäuflich ist, ist das Gut der Freiheit unveräußerlich nur darum, weil es nicht existiert.


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Denkzeichen XXVI
Ingolf Brökel, 27. November 2012

vorstellung

jeder hat seinen platz
jeder ist nummeriert
jeder hat dafür bezahlt
man reiht sich ein
man richtet sich aus
man zeigt die schulter
man dreht sich nicht um
man hat seine nachbarn
man füllt jede lücke davor aus
alle haben ihre ordnung
alle füllen etwas aus
alle haben dafür bezahlt
wer vorn sitzt hat gute karten.


Alle Rechte am Text liegen beim Autor
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Denkzeichen XXV
Arno Thieman, 12. November 2012

DIE KUNST. DAS VERSPRECHEN
(Auszüge aus dem TEXT)

Der Mensch ist der Leibtragende einer langen, sich erstreckenden Evolution. In ihm verkörpern sich Ahnenketten des Fleisches und der Erfahrungen. Seine Zentralverwaltung versammelt die kontrastierenden Blickwinkel realistischer, utopischer, angsterfüllter, euphorischer und irrsinniger Umspannwerke der Wahrnehmung. Und in vielen verschiedenen überlieferten Legenden die Möglichkeit einer Seele.

Der Leib behauptet die gemeinsame Geschichte und Verwandlung aller vergangenen Existenz (des Fleisches). Der Geist die möglichen Ursachen, Verknüpfungen und Auswirkungen. Die Idee der Seele ermöglicht die Annahme einer einmaligen solitären Form (von vergangener und zukünftiger Existenz). Die unverwechselbare Spur eines "Einzelnen eigenen Seins".

Der Geist/Denkapparat im ahnungsschweren Wechselspiel der Synapsenelektrik wird heute als die edelste Marke terrestrischer Intelligenz-Konstruktion angesehen. Er errichtet und formuliert die philosophischen Theoriegebäude, die politischen Manifeste, und die Säulen des Wollens und Glaubens. Er begründet Heilslehren, Mengenverhältnisse, Massenmorde, Hierarchien und erfindet Wissenschaften, politische Systeme und Technologie.

Dem "schöpferischen Geist" in seiner nach Harmonie, Hintergrund und Erneuerung suchenden ästhetischen Verwandlungsfähigkeit jenseits von Logik und Plan werden auch die Wandmalereien in den frühen "Kathedralen" der Kultur, die literarischen Exzesse, die erhebenden Musikkompositionen und die Skulpturen und Artefakte zugeschrieben, die uns Formen von "Erhobenheit" und "Erhabenheit" empfinden lassen und die Mutmassung von relativer Exklusivität im kosmischen Schöpfungsprozess ermöglichen.

Die galoppierenden Erkenntnismodelle in der Physik laden uns ein, das gesamte Material aller noch nicht messbaren Phänomen, Leuchtfeuer des Mikrokosmos und zu erwartenden Materialisierungen als Teil eines allumfassenden morphogenetischen Feldes, das sich allen ausgesprochenen und unausgesprochenen Formen des Seins bedient, zu interpretieren.

Die Hervorrufung einer möglichen ätherischen Existenz erleben wir in Phasen der Traumwelt, in déjà-vu-Zuständen, in den InnenWeltReisen unter Beinahme von Drogen und der Anmaßung der aus dem verschollenen aufbrechenden unsteuerbaren Phantasiewelt der Sehnsucht, der Hingabe, der Gewalt und des Aufschreis. Die Vorstellung von einer seelischen Existenz erfolgt aber vor allem aufgrund der vielfach vorgefundenen Erfahrung der Liebe.

Die Liebe ist eine erschütternde Erscheinung außerhalb jeder Begründbarkeit oder Beweisbarkeit. In ihrem Zustand erwachsen den gegenseitigen Teilhabern unermessliche (seelische und körperliche) Kräfte und im Falle eines möglichen drohenden Verlusts unermessliche Ängste (AntiKörper).

Die Grosse, Wahre und Einzige Liebe ist die wertgewaltigste und verehrteste Ikone der menschlichen Überlieferung. Ihre Lieder und Hymnen sind allgegenwärtiger und stärker im Bewußtsein jedes Individuums verankert als alle Erschaffungs-Mythen der Geschichte der Völker. Sie umspannt alle Kulturen und Religionen. Die Liebe erhebt zwei Einzelne Wesen über die Netze der Stammes- und Blutsverbindungen in eine endlose Welt der Zuneigungen. Ihre Macht benötigt keine begleitenden Massnahmen und keinerlei Ideologie. Die Liebe ist bis heute selbst im Zeitalter der genetischen Reproduzierbarkeit unauslöschbare höchste Sehnsucht des sich als Individuum behauptenden "Homo sapiens". Beginn und Herkunft der Liebe sind nicht bekannt.

Die Kunst behandelt einen Raum unserer Wahrnehmung den wir nicht begreifen sollen. Die Vorgänge hinter den Augen werden von der Aufgabe entbunden auf ein Geschehen mit einer gebührenden Handlung reagieren zu müssen. Wir können uns ausnahmslos allein lassen. Uns auf die Aufnahme von etwas Unbekanntem konzentrieren.

Die Komplexität der Erscheinungen im Bild verlangt nach keiner schnellen Reaktion, erwartet keine Antwort. Wir sind nicht in Gefahr. Es wird keine Prüfung vorgenommen. Alles Ungewöhnliche vor uns und in uns geschieht freiwillig, aber zwingend und fassungslos. Diese Umstände machen deutlich, warum wir diese Orte aufsuchen. Diese Blicke verbringen.

Die Künstler sind die Fassungslosen, die diese Bilder malen, die Skulpturen aus dem Material schälen und Räume des Unbegreiflichen inszenieren. In denen wir uns erschaffen und/oder verlieren. Denn das Werk spricht, da es das Atelier/die Werkstatt verlassen hat und uns gegenüber tritt, seinen eigenartigen unberechenbaren Dialog mit dem Betrachter.

Entscheidende Kunst(werke) kann man auf Dauer nicht vor den Augen der Massen verstecken. Ihre Ausstrahlung besitzt den unwiderstehlichen Drang nach vollkommener Zugänglichkeit. Alle wissen von Ihrer Existenz. Es wird darüber berichtet, wo sie sich befinden könnten. Eingesperrte Meisterwerke reagieren wie die vergrabene Leiche in einer Geschichte von Edgar Allen Poe. Sie pochen solange unter dem Parkett, bis jemand wieder das Licht auf sie richtet.

Diese Leinwände, Zeichen, Gebilde, Hinterlassenschaften und Objekte sind die unaussprechlichen Siegelbilder der Geschichte des menschlichen Bewusstseins.  Sie sind heimliche Lebewesen, die sich erneuern und altern. Die atmen und andauern. Wir ernähren uns von dieser Unendlichkeit. Das gemalte Bild spielt vor uns seine Möglichkeiten der Modulation schamlos aus. Die Lichtverhältnisse eines Tages. Der Sonnenstand der Jahreszeiten. Die empfundene und die tatsächliche Luftfeuchtigkeit im Raum. Die gemessene und die gefühlte Temperatur des Augenblicks.

Das fortschreitende Alter eines herausragenden Werkes erhöht zusehends seine Wirkung. Generationen von Anschauenden erfahren den Gehalt in wachsamer Form. Das Bild verändert sich im nächsten Überlebenden. Verwandelt ganze Generationen von Kunstbetrachtern, die in den Bekenntnissen etwas wieder erkennen. Von den Anmutungen, mit denen Einzelne etwas über die "Alles das was Ist Zustände" aussprechen.

Möglicherweise verkörpert die Kunst mit ihrer Palette der sinnlichen und sinnlosen Freiheiten die Grundlage jeder zwischenmenschlichen Utopie.


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Denkzeichen XXIV
Guillaume Paoli, 22. Oktober 2012


GIBT ES EIN GRUNDRECHT AUF SELBSTVERSTÜMMELUNG?

Im April 2012 ließ der 22-jährige Japaner Mao Sugiyama seine eigenen Genitalien medizinisch abschneiden, beauftragte einen Chefkoch, Penis, Testikel und Hodensack anzuschmoren und servierte diese, mit Pilzen und Petersilie angerichtet, eigens zu der besonderen Verkostung per twitter geladenen Gästen. Die Portion kostete 100.000 Yen, der knappe Vorrat reichte für fünf Personen; da jedoch 70 kamen, mussten sich die übrigen mit Krokodilfleisch begnügen. Schlagartig kursierte die Geschichte im Internet, mit Farbabbildungen der Aufschnitteller versehen. Für die japanische Justiz besteht keine Straftat: Die Vertragspartner hatten schriftliche Vereinbarungen getroffen, außerdem ist Kannibalismus in Japan (wie in Deutschland auch) nicht gesetzlich verboten.
Übertrieben wäre der Reflex, solch ein Extrem beispiellos zu nennen. Monströse Taten lassen sich in allen Epochen finden. Sie haben Spuren in der Chronik hinterlassen, weil sie bei den Zeitgenossen Ekel und Abscheu erregten. Sie erweckten die archaische Furcht vor der Hybris und der konsekutiven Rache der Götter. Insbesondere der Kannibalismus stand schon immer für das Außermenschliche schlechthin, und wenn keine Fälle davon nachzuweisen waren, wurden sie schlicht erfunden. Gleichwohl übt jeder Bruch mit der gemeinsamen Regel eine gewisse Faszination aus. Als in den zwanziger Jahren die junge Violette Nozière ihre beiden Eltern umbrachte, verklärten die Surrealisten die Geschichte als Familienkritik und Beitrag zur Auflösung der verhassten bürgerlichen Verhältnisse.

Nichts desgleichen, und das ist genau der Punkt, lässt das japanische Kannibalenfestmahl erkennen. So sonderbar die Geschichte auch ist, offenbar stellt sie kein radikales Äußeres der gegenwärtigen Gesellschaft dar. Vielmehr ist sie vollkommen in die postmodern-liberale Konfiguration eingebettet. Sie passt ins Bild. Sie hält deren Codes und Verhaltensmuster konsequent ein. Von subversiver Transgression kann also hier keine Rede sein, es ist bloß eine weitere Etappe in der fortschreitenden Destrukturierung sozialer Normen. Die zu klärende Frage wäre also nicht, wie eine solche Übertretung geschehen konnte, sondern vielmehr: Inwiefern die Untat die bestehenden Rahmenbedingungen eben nicht übertrat. Wie kommt es, dass einem Fall, der in allen anderen Kulturen und Zeiten Furcht und Abscheu ausgelöst hätte, heute allenfalls mit einem betretenen Schmunzeln begegnet wird? Und ferner: Welche unappetitlichen Grundtendenzen der gegenwärtigen Gesellschaft offenbaren sich dadurch?

Damit ist natürlich nicht gemeint, dass die meisten beim Anblick eines tranchierten Penis auf einem Porzellanteller keinen Schock mehr empfinden würden. Doch wird der Schock gleich von einem sekundären Gefühl verdrängt: die Scheu vor der Abscheu. Die unvermittelte Empfindung gerät unter Verdacht: Zeugt sie nicht von einem Überbleibsel konservativer Moral? Gibt es nicht ein Grundrecht auf Selbstverstümmelung? Ist es nicht spießig, sich vor der Vorstellung zu ekeln, Menschenhoden statt Rumpsteaks oder Ruccola zu verzehren? Und selbst wenn ich persönlich nicht dazu neige, welches Recht habe ich denn, die Präferenzen Anderer zu beurteilen? Soll ich nicht tolerant sein? Öffnete nicht eine ablehnende Äußerung dem Sittenstaat Tür und Tor? So wird der spontane Sinn für Anstand von der heimtückischen Macht der diskursiven Gefühlspolizei verdrängt.

Als Beweggrund gibt Mao an, er habe sich kastrieren lassen, weil er „asexuell“ sei, und damit meint er nicht, dass er einfach keine Lust auf Sex hätte. Vielmehr beansprucht er eine „x-gender“-Identität, er will mit den Kategorien männlich/weiblich nichts zu tun haben. Da wäre Entmannung die konsequente Entscheidung, zumal diese heute nicht mehr qualvoll und barbarisch erfolgen muss. Gegen gutes Geld bedienen Chirurgen ohne Sorgen vor eventuellen Schäden (von ethischen Gewissensbissen nicht einmal zu sprechen) alle unmöglichen Wünsche ihrer Klientel. Der Gräuel wird aseptisch und unter Betäubung durchgeführt. In allen Kulturen gilt ein Mann, der sich die Geschlechtsteile freiwillig abhacken lässt, als besessen, verrückt, pervers oder krank. Zumindest wird vermutet, dass er ein psychisches Problem hat. Es waren einige gender studies nötig, um die Sache endlich einmal positiv darstellen zu können. Es geht einfach um freie Platzwahl. Wer im sozialen Rollenspiel mit den Kategorien „homo“, „hetero“, „bi“, „queer“ oder „trans“ nicht klar kommt, kann sich immer noch für „x“ entscheiden. Die asexuelle Orientierung wäre gar die Fortschrittlichste. Sie erteilt dem Drang zum Verkehr (in beiden Sinnen von Aktivität und Beziehung) eine endgültige Absage. Von diesem Ballast befreit kann sich das Ego im Maskenball der Identitäten und Lebensformen leichter bewegen. Die stechende Frage des Sexus, die Männer und Frauen seit jeher in Unruhe versetzt, wird ein für allemal neutralisiert. Wo mit all ihren Ambivalenzen und Gefahren eine erogene Zone war, soll eine neutrale Zone entstehen.

Letztens erklärte eine Neutra in Der Spiegel, ihre Asexualität sei als „letzte Provokation“ zu verstehen. „Ich werde mich anders verwirklichen“, fuhr sie fort, nämlich im Beruf und in politischem Aktivismus. In welche Art von Mehrarbeit sich die verhinderte Libido investieren wird, davor kann man nur zittern. Vertriebene Triebe gebären Monster. Allerdings merken wir, wie perfekt sich die wunschlose Maschine mit der liberalen Auffassung der individuellen Freiheit deckt. Freischwebende Elementarteilchen, die einzig von Selbstliebe getrieben werden, können keine präetablierte Zugehörigkeit dulden. Nichts soll der Privatisierung im Wege stehen. Biologie ist ein unakzeptables Hindernis zur Selbstverwirklichung. So wie Engel geschlechtslos sind, haben Monaden keine Gonaden.

Mao Sugiyama ist, wen wundert's, ein Künstler. Sein Festmahl erklärte er zur „Performance“, sie fand nicht in einem versteckten, dunklen Keller statt, sondern in einer berühmten „Event-Location“ von Tokio. Anschließend wurde der Vorgang wie es sich gehört in einem „Panel“ ausdiskutiert – Panel et Circenses fürs emanzipierte Volk. Das ist voll in Einklang mit der Gegenwartskunst, die sich zur Hauptaufgabe gestellt hat, die Abschaffung sämtlicher Unterscheidungskriterien voranzutreiben. Man denke an die Kuratorin der letzten Documenta, Frau Christov-Bakargiev, die stolz von sich erklärt, sie sehe keinen Unterschied zwischen einem Mann, einer Frau und einer Tomate. Auch zwischen einem Bienenstock und einem Raffael-Gemälde unterscheiden zu wollen, findet sie „menschenzentriert“. Es sei doch alles Kunst! Ihre „posthumanistische Weltsicht“ mag Frau Christov-Bakargiev als gleichberechtigte Beförderung aller Lebewesen verkaufen, es fällt einem leicht, ganz im Gegenteil die Lust auf Herabstufung alles Menschlichen in ihr zu erblicken. Nach Jahrzehnten dekonstruktivistischer Sophisterei sind alle althergebrachten Merkmale der Kultur eins nach dem anderen unter Verdacht gestellt und demontiert worden. Wir leben, meint der Philosoph Jean-Claude Michéa, in der einzig bekannten Zivilisationsform, die vorgibt, ohne symbolische Regel und allgemeine Übereinkunft über moralische Werte auszukommen. Davon verspricht sie die größtmögliche Freiheit, doch im realexistierenden Liberalismus löst sich dieses Versprechen in die Herrschaft des ubiquitären Marktes und des peniblen Rechtssystems auf. Dafür ist Maos Tat exemplarisch. Sie war – muss man es betonen? – keine sakrale Opfergabe, kein Liebesgeschenk, kein Protestschrei, sondern eine kalte Geschäftstransaktion oder, wenn man so will, eine Art alternativer Kunstförderung (schließlich ist er nicht der Erste, der für eine Subvention seine Eier hergibt). Der schlaue Japaner wird schon aus seinem hart errungenen Ruhm Kapital zu schlagen wissen. Womöglich wird er Kurator der nächsten Documenta.

Kein Markt ohne Vertrag: Mao hat sich große Mühe gegeben, um die Rechtmäßigkeit seines Vorgangs zu sichern. Er ließ im Vorfeld amtlich bestätigen, dass er Japaner ist (kein Importfleisch), dass seine Geschlechtsteile chemisch unversehrt waren (Bioeier), dass sämtliche Verordnungen des Lebensmittelgesetzes eingehalten worden sind. Die Gäste mussten unterschreiben, dass ihnen der Inhalt des Tellers wohl bewusst war und dass sie im Fall einer darauf folgenden Unbehaglichkeit auf Klagen verzichten würden. Offenbar war das Spiel mit den gesetzlichen Rahmen ein wesentlicher Bestandteil der Kunstaktion. Es galt, die Wertneutralität des liberalen Rechts gegen überkommene Sittenparagraphen zu forcieren, darüber hinaus die letzten Überbleibsel moralischer Werte aus der Öffentlichkeit zu vertreiben.

Wir haben seit Jahrzehnten gelernt, „Enttabuisierung“ als etwas an sich Positives zu schätzen. Dennoch wissen wir von der Ethnologie, welche zentrale Funktion das Tabu in archaischen Kulturen innehat. Es sichert die Aufrechterhaltung der Gruppe und bedingt den sozialen Umgang der Mitglieder. So ist es zum Beispiel für einen Guayaki-Jäger Tabu, das Tier selbst zu verzehren, das er getötet hat, also ist er gezwungen, seine Beute an andere zu verschenken. Festzustellen ist, dass das fragile Gleichgewicht der intersubjektiven Kommunikation schon immer durch symbolische Gesetze strukturiert wurde. Doch setzt die Grenzüberschreitung voraus, dass es Grenzen gibt. Es geht also nicht darum, für Repressalien einzutreten, sondern für die Ambivalenz und das Unausgesprochene. Transparenz ist der Tod des Begehrens. Gewiss sind solche Fälle nicht repräsentativ. Die überwiegende Mehrheit schert sich einen Dreck um Kannibalismus oder Inzest, sie hat dringendere Probleme zu lösen. Ohnehin drehen sich die meisten „Gesellschaftsdebatten“ um Themen, die nur für eine winzige Minderheit relevant sind. Nichtsdestotrotz sind Grenzfälle fürs Gesamte wichtig, indem sie die Existenz von Grenzen in Frage stellen. Ist das extrem Monströse erst legitimiert, dann kann das gewöhnlich Monströse grenzenlos walten.


Gekürzte Fassung. Der vollständige Text erscheint in der November-Ausgabe von "EDIT. PAPIER FÜR NEUE TEXTE"

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Denkzeichen XXIII
Thomas Martin, 2. Oktober 2012


POTENTIALE DES STILLSTANDS

Wenn dir der Vorwurf gemacht wird, zu oft einem Bedürfnis nach Ruhe Ausdruck zu geben, und dem durch Vermeidung von Kontakt und Resonanz auch nachzukommen, wirst du, wenn es dir gut geht, mit mehr antworten als mit Gähnen. Mit Denken wenigstens, wo die Vorhaltungen überhandnehmen. Denken ist ein Sport, der Zeit braucht – Zeit und, mitunter, auch Ruhe: »In dir, mein Geist, messe ich meine Zeiten« (Augustinus). In Zeiten und Breiten der informellen-informativen Überforderungen und Übersprungshandlungen, braucht Ruhe mehr Kraft als der Gegenentwurf. Ein Anhalten kann (wie ein Aushalten) mehr verlangen als die Vorwärtsbewegung. Ruhe gilt als Bestandteil der Bewegung, die in der Zeit verläuft – Bewegung dabei als absolut, Ruhe als relativ anzusehen. Wenn ich Ruhe als Pause betrachte, erkenne ich damit die Zeit an als Frist – Zeit, die mir auf Erden, oder wo immer, gegeben ist. Vollkommene Ruhe ist die, die die Unruhe mit einschließt. Organische Bewegung hat den Tod zum Ziel, danach kommt die Wiederauferstehung, und sei es als Idee. »Zu sterben bist du geboren« (Seneca). Der Mensch bewegt sich auf den Tod zu, aber sein Ziel ist die Erfüllung, ein Paradies diesseits des Todes. Die Suche danach ist das menschliche Wozu, ohne daß unsre Bewegung sinnlos unbestimmt verläuft. Das Wozu hat viele Namen; am geläufigsten ist, in der von Konflikt, Reglement und Verdrängung formulierten Zivilisationsgeschichte, das schöne Wort Freiheit. Freiheit als Einsicht in Notwendigkeiten, heißt auch Einsicht in die begrenzte Zeit, die dem Lebenden zur Verfügung steht. Freiheit muß man sich nehmen, manchmal mit Gewalt. Wer sich Freiheit nehmen kann, ohne anderen etwas zu nehmen, ist im Glück. Wer sich im Glück befindet, befindet sich in Ruhe. Ruhe muß nicht kontemplativ sein. Freiheit ist mit Zukunft identisch, ein Potential, das mit zunehmender Lebenszeit proportional schwindet. Das Ziel wird mit der Einsicht in bestimmte Notwendigkeiten – wie der des Ab-Lebens – überschaubar und relativiert. Aus Illusionen werden Relationen, aus Utopien Wünsche, aus Hoffnung wird ein Wartesaal. Dagegen kann unendliche Bewegung unendlichen Spaß erzeugen; ohne einen Moment des Stillstands wird er nicht erkennbar sein. Der Moment der Ruhe ist der Moment der Freiheit – auch um zu sehen, was zum Beispiel an privater Freiheit mir noch möglich ist. Ruhe vom »täglichen Erobern«, wie Goethe das Wort seinem Faust in den erkenntnisreichen, doch auch schon zahnlosen Mund legt. Freiheit steht am Ende der Hoffnung, wer frei ist, ist auch frei davon, der zufriedene Faust stirbt blind; von heute aus gesehen die erste Tragödie des postmodernistischen ruhlosen Ichs. Ruhe heißt, sich zu verweigern – der Betriebsamkeit rundum, dem Plänemachen, der Hast nach Glück, Besitz, Erfolg, der Liebe und was sonst noch alles wichtig ist. In dir mein Geist …

… messe ich meine Zeiten. Geschichte ist Gedächtnis, Gedächtnis ist das Sich-Erinnern. Erinnern heißt Anhalten, um das Kontinuum erlebter Geschichte aufzubrechen. Wer in die Tiefen der Geschichte will, muß ins Gedächtnis wollen, muß die Uhren anhalten können; das geht von der Lebenszeit ab. Ruhe ist nichts Abruptes, sie bedingt Kontinuität: Wenn ich mich aus dem Strom, der sich zwischen Vergangenheit und Zukunft bewegt, ausklinke, die Klinke zur Türe, die zu nächsten, tieferliegenden Räumen führt, in die Hand nehme. Ruhe ist keine Insel, sie ist der Neben-, kann der Gegenstrom sein. Reflexion verdeutlicht diese Geste: sich zurück-beugen, um zurück-zu-denken, die Bewegung vertikal. Ruhe ist Verweigerung. Die Zukunft der totalen Vernetzung, in der Zeit und Raum im Erreichen immer größerer Geschwindigkeiten keine Rolle mehr spielen, ist längst Gegenwart geworden. Das Gegenteil ist relevant: Ruhe, um zu begreifen, was überhaupt ist. Sich-gegen-den-Strom-stemmen kann mehr Kraft kosten, als ein Sprint. Umgekehrt: je mehr an Zukunft je weniger Auswahl an Ziel; Ruhe heißt, mit wenig auszukommen, mehr noch: mit immer weniger. Wenn im materialistischen Zug grenzenloser Geschwindigkeit ein Zurück in die Zeit möglich sein sollte, wird auch Bewußtsein »überholt«. Wo alles wiederholbar ist, kann nichts zu Ende gedacht werden. Wo alles wiederholbar wird, weil (genetisch) reproduzierbar, wird der Katalog der Humanität mit Begriffen wie Ethik und Moral neu geschrieben. Wenn solche Raum-und-Zeit-Verschiebung möglich sein sollte, ist Ruhe dann nichts anderes: Simulation, Kopie der Bewegung, überlagerte Zeit, leerer Transport. Der Moment des Anhaltens im DAZWISCHEN – zwischen der Zeit und den zu überblickenden Schichtungen von Geschichte – ist zu bestimmen. Es ist der unbedingte Griff zur Notbremse im Express der Geschichte, den Walter Benjamin in seiner Umdeutung der Marxschen Revolutions-Metapher erkennt. Ruhe – im grenzenlosen Transrapid der Zeit – ist Revolution.


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Denkzeichen XXII
Marcus Steinweg, 24. September 2012


DIE SCHÖNHEIT ANTIGONES

So kopflos dieses verrücktspielende Kind sein mag: Antigone kennt ihre eigene Präzision. Beharrlich überhört sie die Stimme Ismenes, die die allgemeine Doxa repräsentiert. Durch Ismene spricht die etablierte Vernunft. Ismene kennt nur die Vorsicht, die Erwägung, den Vergleich. Antigone aber grenzt an den Wahnsinn des Subjekts, der ihren Abstand von der übrigen Welt markiert. Hier liegt ihre von Lacan beschriebene Schönheit, in ihrer Insistenz und in diesem Leerlauf, die auf die Grenze ihres Lebens hin führen.

Mehr als nur sein Ende, markiert diese Grenze die Evidenz des antigoneischen Subjekts. Lacan hat sie als Widerschein adressiert, als éclat, der sich mit Glanz und Skandal übersetzen lässt. Entscheidend ist, dass da eine Grenze überschritten wird, die die Grenze des von Kreon repräsentierten Gesetzes ist, das die Bestattung ihres Bruders Polyneikes untersagt. Und dennoch kann diese Überschreitung keine in ein positives Jenseits der Grenze sein. Keinesfalls exemplifiziert Antigone das Subjekt einer Transgressionsromantik, das sich erfolgreich den etablierten Regeln entzieht, um faktisch in voller Autonomie zu existieren: Auf Antigone, wir wissen es, wartet ein dunkles Felsengrab. Indem Antigone Kreon in seiner Sprache, der „Sprache des Staates“ oder, wie wir sagen würden, der Realität, antwortet, ist ihre Politik, so Judith Butler, „keine der oppositionellen Reinheit, sondern vielmehr eine Politik des skandalös Unreinen.“ Sie „behauptet sich durch die Aneignung der Stimme des anderen, zu dem sie in Opposition steht, und sie gewinnt ihre Autonomie somit in der Aneignung der autoritativen Stimme dessen, dem sie widersteht – eine Aneignung, die in sich Spuren einer gleichzeitigen Ablehnung und Einverleibung eben dieser Autorität trägt.“

Wenn es Autonomie gibt – ein infinitesimales Quantum Autonomie – dann nur als Behauptung inmitten reeller Heteronomie. Man kann nicht anders als sich kompromittieren. Man ist schon kompromittiert. Kein Subjekt existiert je intakt (oder, wie Adorno es ausdrückt: „Keiner ist tabula rasa“, oder Heiner Müller: „Kein Mensch ist integer“). Es gibt keine von den Tatsachen unberührte Integrität. Das inkommensurable Maß an Freiheit, das sich Antigone gegenüber Kreon herausnimmt, artikuliert sich nur im Verhältnis zu ihm und der von ihm vertretenen Instanz, die die Autorität des geltenden Gesetzes ist: des Gesetz des Tages (der Polis, der konstituierten Realität), dem man das Gesetz der Nacht (der Götter, der Familie, des Hades) entgegengesetzt hat.

Das antigoneische Begehren ist das Begehren nach einer Autonomie, die ins Heteronome eingelassen bleibt, Autonomie von dieser Welt, wenn man so sagen kann, dem Heteronomen als dem mundanen Nomos zugewandte Autonomie. Es gibt so etwas wie Selbstbestimmung nur in der Öffnung auf Fremdbestimmtheit, im Hier und Jetzt der kodifizierten Realität. Freiheit ist nur lesbar im Verhältnis zu objektiver Unfreiheit, Souveränität ist nichts als ein Modus faktischen Mangels an Souveränität. „Man sollte“, sagt Jean-Luc Nancy einmal, „der Autonomie nicht die Heteronomie entgegenstellen, die zusammen ein Paar ergeben. Heteronom gegenüber einem anderen Subjekt zu sein, das selbst autonom ist, ändert nichts – egal ob sich dieses andere Autonome ‚Gott’, ‚Markt’ ‚Technik’ oder ‚Leben’ nennt. Um einen Weg zu bahnen, könnte man das Wort Exonomie wagen. In diesem Wort klingt ein Gesetz an, das weder Gesetz des Selben noch des Anderen wäre, sondern das für den einen wie den anderen nicht anzueignen ist. Wie die Exogamie aus der Verwandtschaft hinaustritt, so tritt die Exonomie aus der binären Familiarität des-Einen-und-des-Anderen hinaus.“ Statt sich den gegebenen Realitäten zu verschließen, setzt sich Antigone in ein Verhältnis zu ihnen, indem sie ihnen widerspricht. An der Grenze des Gesetzes, insistiert sie auf dieser Grenze. Das macht sie schön: dass sie sich beidem, der Assimilierung ans Bestehende wie der Sublimierung in ein Jenseitiges entzieht. Sie nimmt die Grenze selbst auf sich, als wüsste sie, dass sie sich auf das Unlebbare öffnet und auf ihren Tod.

Nun kann man sein Leben nicht fürs Unlebbare opfern ohne ein pathetischer Idiot zu sein. Die philosophische Perspektive, in die sich das antigoneische Subjekt einrückt, ist nicht die Transzendenz. Es geht nicht um höhere Werte, es geht auch nicht um ein dem menschlichen überlegenes göttliches Gesetz. Nichteinmal um einen kindischen Heroismus, oder, wie wir heute sagen würden, um narzisstischen radical chic. Es geht um den Riss, den jedes Subjekt teilt: in ein Subjekt und ein Objekt, in einen spontanen Agenten und einen rezeptiven Empfänger, in ein in seiner Immanenz verstricktes Tier und einen die Immanenz durchbohrenden Vektor.

Antigone bewegt sich in der Ebene einer von immanenter Transzendenz durchlöcherten Immanenz. Das ist der brüchige Boden einer um ihre inkommensurablen Anteile erweiterten Realität. Alles, was sie angeht, ihr Begehren, ihre Gewissheiten und Ungewissheiten, geschieht im Hier und Jetzt einer Welt ohne letzte Konsistenz. Doch ist diese Welt ohne Gott – diese „Welt ohne andere Welt“ (J.-L. Nancy) – kein determinierter Raum. Ihr eignet eine Instabilität, die das Subjekt seiner eigenen Inkonsistenz versichert. Was indiziert diese Inkonsistenz anderes als die Evidenz/Wahrheit des Subjekts, nicht vollends Objekt eines Determinantengewebes zu sein? Könnte Antigones Evidenz in dieser nichtidealistischen Konzeption von Freiheit liegen: in einer Freiheitsbehauptung, die alle Stadien objektiver Unfreiheit durchläuft? Es gibt da den Appell zu einer gewissen Resistenz und Freiheit, der sich mit Antigone verbindet. Antigone sperrt sich der etablierten Ordnung, um auf ihrem eigenen Kopf zu insistieren, so kopflos und so vergeblich dies erscheinen mag. Die Evidenz Antigones liegt in ihrer Beschleunigung auf den Nicht-Sinn beschlossen, der die Wahrheit ihrer Situation konstituiert. „Evidenz im strengen Sinn“, schreibt Nancy, „ist nicht, was unter den Sinn fällt, sondern das, was unmittelbar touchiert, und diese Touchierung eröffnet dem Sinn eine Chance. Es handelt sich um eine Wahrheit, die greift, und die keinem gegebenen Kriterium korrespondieren muß. Es ist dies auch keine Enthüllung, denn die Evidenz hütet immer ein Geheimnis oder eine essentielle Reserve: die Reserve ihres Lichts selbst und seiner Abkunft.“ Die Faszination Antigone, hat mit diesem Licht, mit dieser Evidenz zu tun, die ihren Sinn verdunkelt, indem sie, wie Adorno es nennt, eine „Umbelichtung des Vertrauten“ inauguriert, oder, wie Wittgenstein einmal sagt, ein „neues Licht auf die Tatsachen wirft.“ Eine Wahrheit, die keinem gegebenen Kriterium korrespondieren muss, kann nur eine gesetzlose Wahrheit sein. Blinde oder kopflose Wahrheit, der sich ein verrücktspielendes Mädchen verschreibt. Eine Wahrheit, die in keinem Wissen gründet und deshalb unbewiesen und ungerechtfertigt bleibt. Das nennen wir eine Evidenz: eine grundlose, abgründige, dunkle Wahrheit, wie sie die Wahrheit einer Liebe oder einer Leidenschaft sein kann. Es gibt so etwas wie präzise Leidenschaften, die ihre Schlüssigkeit aus ihrer Grundlosigkeit beziehen. Nicht weil sie beliebig wären, sondern weil sie in die Wirklichkeit des Subjekts mit einer Wucht intervenieren, die diese Wirklichkeit zu redefinieren zwingt. Die Erfahrung der Philosophie verbindet mit der Erfahrung der Kunst die antigoneische Öffnung auf Evidenzen, die das etablierte Realitätsmodell verdunkeln, um es einer Neubelichtung oder Umbelichtung zu überführen.


Alle Rechte am Text liegen beim Autor
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Denkzeichen XXI
Etel Adnan, 10. September 2012

ABER: WIR EXISTIEREN DOCH

In letzter Zeit denke ich oft: „Aber wir existieren doch! Wir sind hier!” Das Leben ist eine Offenbarung, ganz gleich, unter welchen Umständen. Alle reden von Krise, und Pessimismus herrscht überall. Langsam gehen wir unter in einem Strudel aus Angst, einem Ozean aus Unrat und Dreck. Die Menschen sind bankrott, die Staaten auch – und erst kürzlich meldete die NASA, dass in vier Milliarden Jahren die Galaxie Andromeda mit der Milchstraße kollidiert und beide verschmelzen werden. Das wird ein gewaltiges Beben geben! Aber wir leben! Auf unserem Planeten gibt es heute rund sieben Milliarden Menschen. Was ich damit meine? Dass alles, was geschieht, zahlreiche Ursachen hat: physische, physikalische, geistige, immaterielle Kräfte sind am Werk. Unsere Existenz ist das stets veränderliche Ergebnis all dessen, was ist und was sein wird. Und das bedeutet auch, dass wirklich alles zählt, angefangen bei den kleinsten Dingen, die man rasch übersieht, bis hin zu den absolut offenkundigen Tatsachen, an denen keiner vorbeikommt. Alles hat seine Bewandtnis. Nichts ist bedeutungslos. Ich möchte sogar behaupten, dass das Gute genauso wie das Böse lebensnotwendig ist, zum Leben gehört. Dass wir existieren, dass Sie und ich in diesem Augenblick hier vorhanden sind, bedeutet nur, dass sich die widerstreitenden Kräfte des Guten und Bösen in einer Art Gleichgewicht befinden, und dass das Leben also weitergeht. Ich bin ein zutiefst pessimistischer Mensch, denn ich stamme aus dem syrisch-libanesischen Raum, in dem seit nunmehr einem Jahrhundert fast ununterbrochen Krieg herrscht. Doch trotz der furchtbaren menschlichen Tragödien, die ich erlebt habe, trotz der immensen Probleme, vor denen die Menschheit und der Planet Erde stehen, bin ich zuversichtlich, dass sich mit jedem Neugeborenen auch die Welt erneuert. Ich habe Menschen Höllenqualen leiden sehen, um das Leben nur einen Tag zu verlängern … und die Sonne scheint verschwenderisch für alle, die sich von ihr wärmen lassen. Und darum lasst uns Feuer fangen für das Hier und Jetzt und uns in die Zukunft verlieben! Seien wir ehrlich: Wir können uns freuen. Wir müssen das Glück nur wollen. Ein Stück Brot und ein Glas Wasser könnten … nein: sind ein wahres Festmahl! Lasst uns einen Moment lang einfach glücklich sein.


Etel Adnan, geboren 1925, ist Autorin des Buchs „Arabische Apokalypse“. Alle Rechte am Text liegen bei der Autorin.
Aus dem Englischen von Bettina Seifried
 

BUT: WE DO EXIST

I was thinking these days "But we DO exist!". Existence is an epiphany, in whichever state it is. We speak of crisis, nowadays, we are deeply pessimistic. We swim in an ocean of anguish, not to say an ocean of garbage. Yes, people are bankrupt, countries are bankrupt. Yesterday NASA told us that in 4 billion years the two galaxies of Andromeda and the Milky Way will have a collision, will fuse! That will be some earthquake! But we DO exist. 7 billion people exist on this planet nowadays. So what do I mean? I mean that everything is the result of an infinitude of forces, physical, mental, immaterial... Being is the ever changing resultant of everything that is, and is in becoming. Which  means that everything counts, from the most invisible events to the most obvious ones. Everything matters. Nothing is insignificant. We can go further and say that everything is needed, good or bad. If we are alive, if you and I are here right now is that the forces of what we call good and what we call bad are in some equilibrium, that life is going on. I am a profoundly pessimistic person, because I have witnessed personal tragedies and come from Lebanon/Syria, a region in war for almost a century now... And still.. aware of the enormous problems facing our human world and our planet, I see that with every child the world is renewed. I see that some people suffer hell in order to live one more day ... and I see that the sun is given freely for anybody who wants. So? Let's be in love with the here and now, which means with the future. We ARE happy, let's face it. Let's be willing to be happy. A piece of bread and some water can be a banquet. Are a banquet. For at least a moment, please let's be happy!
 

Etel Adnan, author of  "The Arab Apocalypse". All rights reserved.
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