Künstler – bildende, Dramatiker, Theatermacher, Lyriker, Prosaschriftsteller –, sie alle sehen sich seit langem einem Problem gegenüber, einer Klippe, an der sich Scheitern von Gelingen, Kunst von Abbildung trennt: Wo immer sie mit einer Arbeit beginnen, der schreibende Journalismus und Bild-Journalismus, die Humanwissenschaften und die Philosophie sind bereits dort. Wo Wörter, Bilder gefunden werden sollen, sind schon Wörter und Bilder gefunden – dokumentarische Artefakte über und über, psychiatrische Diagnosen, soziologische Zeitdiagnosen, philosophische Begriffe … Wo Erfahrung gemacht werden soll, ist alles Erfahren verstellt.
„Manchmal denk ich, dass ich auf der Welt bin, dieser Angst einen Namen zu finden“1, sagt Kleist in Christa Wolfs „Kein Ort. Nirgends“. Solche Erwägungen kann der Kleist von heute sich sparen. Nein, muss er sich sagen, ich bin nicht auf der Welt, um meiner Angst einen Namen zu finden. Die Angst hat Namen, Klassifikationen nach „DSM 5“2. Angststörung, reaktive Depression, paranoide Psychose, Panikattacke usw. Man sieht, liest, hört: Angstfeatures, Angstinterviews, Angstreportagen.
Natürlich misstrauen wir den fertigen Sprachen, wie Lord Chandos es tat. Natürlich ist jeder wahre Künstler soviel Philosoph, dass ihm alle hausbackenen Urteile und alle abstrakten Begriffe wie modrige Pilze im Munde zerfallen. Doch um diese Philosophenwerdung, die Bestandteil jedes künstlerischen Entwicklungsromans ist, geht es hier nicht. Im Fall von Lord Chandos ist es das Subjekt selbst, das die Wörter zerschießt. Das Subjekt – obwohl ohnmächtig in seiner unvermittelten und andauernden Sprachlosigkeit – triumphiert zugleich im Akt kreativer Zerstörung, der jedem positiven Schöpfungsakt vorangeht. Unsere Lage weicht zweifach ab. Erstens kommt die Lord-Chandos-Erfahrung nun selbst von außen auf uns zu, können wir auch diese Erfahrung kaum in aller Unschuld selbst machen, haben wir, bevor die Pilze erster Gattung uns im Mund zerfallen können (die hausbackenen Urteile sowie die klassischen Begriffe wie Geist, Körper, Seele), längst den Mund voller Pilze zweiter Gattung, Lord-Chandos-Pilze, Sprachskepsis-Pilze, Nietzsche-Pilze, Foucault-Pilze, Derrida-Pilze, Deleuze-Pilze, Lyotard-Pilze usw. Wir leben in einer Lord-Chandos-Lüge, glauben, dass die Sprachskepsis Fundament unserer Arbeit sei, während dies Fundament in Wahrheit eine voll entwickelte Sprachskepsis-Sprache ist, ein gewöhnliches philosophisches Urteilen. Der zweite Unterschied, der noch bedeutender erscheint: Unbrauchbar werden nicht nur die Wörter, sondern die Gegenstände selbst. Diese Erfahrung macht Lord Chandos gar nicht. Journalismus, Soziologie, Geschichtswissenschaft, Psychologie, Philosophie haben ja die gleichen Gegenstände wie die Kunst, sofern sie sich mit Erfahrung, dem menschlichen Mit- und Gegeneinander befassen. Was immer der Produzent eines Kunstwerks tut – er weiß, dass sein Gegenstand im Kopf der Rezipienten schon fest eingesponnen ist in den Kokon konkurrierender Beschriftungen, dass das „weiße Blatt“, auf dem man einst schrieb, jetzt geschwärzt ist von Zigfach-Beschreibung und Zigfach-Belichtung.
Das Sarajevo-Problem. Ein Mann wird von einem Magazin nach Sarajevo geschickt. Er soll eine Reportage machen – Bosnien zehn Jahre nach dem Krieg. Zwei Wochen läuft er durch die Stadt, auch durch den serbischen Teil, der etwas außerhalb liegt, er fährt nach Srebrenica usw. Er spricht mit viellen Menschen. Wieder zuhause, kommt das Schreiben nicht ingang. Der Redakteur wünscht sich einen klassischen Text: Beschreibung. In diesem Fall: die verkohlten Fassaden, Einschusslöcher, die Granatkrater im Gehsteig, die Häuser in den Hügeln, von denen die Stadt beschossen worden ist, all das, was unendlich oft beschrieben, fotografiert, gefilmt worden ist. Obwohl der Mann zwei Wochen vor Ort war, wie man sagt, war er keine Sekunde vor Ort. Er hat keine Stadt besucht, sondern Bilder einer Stadt, Texte einer Stadt. Ihm scheint, als sei jeder Gegenstand, jedes Gebäude, jeder Baum und Strauch, jeder Quadratzentimeter von Sarajevo, Srebrenica und der gesamten Landschaft dazwischen, die der Mann aus dem Zug betrachtet hat, von winziger Schrift überzogen gewesen. Auch die Gräber, auch der Himmel über den Gräbern.
Der Mann sitzt tagelang am Schreibtisch und ist paralysiert. Außerstande, nur einen beschreibenden Satz zu schreiben. Das Einzige, was geht: Er protokolliert, was die Menschen gesagt haben. Lange Protokolle fertigt er an. Der Redakteur ist unzufrieden. Verlangt, dass die wörtliche Rede ergänzt werde: sagt X und blickt gedankenverloren aus dem Fenster … sagt Y und zieht an ihrer Zigarette … jedoch auch diese Beschreibungen, denkt der Mann, sind längst geschrieben und überschrieben von dem Apparat, der nicht aufhört, zu schreiben, die Körper und Erfahrungen mit seiner winzigen Schrift zu bekritzeln, zu ritzen, zerfleischen und durchbohren, bis von den Körpern, von den Erfahrungen nichts als leblose Hüllen bleiben.
Kurz darauf liest der Mann zufällig den Satz von Max Frisch: „Epische Eroberungen sind hier nicht mehr zu machen.“ Er denkt: Ja! So war es in Sarajevo. Und ein Glück, dass ich den Satz erst jetzt lese, sondern hätte ich nicht einmal die Erfahrung gemacht, dass epische Eroberungen nicht mehr zu machen sind, weil darüber schon der Satz geschrieben gewesen wäre: „Epische Eroberungen sind hier nicht mehr zu machen.“3
Das Berlin-Problem. Die Lebensform des Einzelnen ist eine massenhafte. Also lächerliche. In jedem Hinterhaus zwei Steppenwölfe. Drei Zarathustras. Vier Männer und Frauen ohne Eigenschaften. Auch das Kellerloch ist voll. Alles, was erfahren wird, wird von Vielen erfahren und von Vielen bald beschrieben, fotografiert, gefilmt, in Journalismus und Kunst, Wissenschaft und Philosophie transformiert. Jede Existenz erscheint als serielle Existenz, ist serielle Existenz. Auch das Leiden ist serielles – also lächerliches – Leiden. Wenn ein Mensch stolpert und sich den Kopf blutig schlägt, sehen wir das Missgeschick. Wenn zwei, drei, zig Menschen im selben Augenblick stolpern, müssen wir lachen, auch wenn diese Menschen sich nicht weniger erschrocken und verletzt haben als der Einzelne, der Singuläre. Die Verdoppelung, Vervielfältigung von Erfahrung erzeugt Komik: bei Wladimir und Estragon wie bei Pat und Patachon, bei Schulze und Schultze und bei Kafkas Gehilfen. Ja, wieder haben wir das gleiche Problem: Der Raum, in dem Kunst, Theater, Literatur entstehen soll, ist immer schon besetzt. Anders als Hamsun in „Hunger“, als Dostojewski in „Kellerloch“, als Bove in „Meine Freunde“, als Camus in „Der Fremde“ usw. sind die Orte und die täglichen Vollzüge, die Körper und Elemente des Habitus, ist all der Stoff, mit dessen Hilfe ein Werk Gestalt annimmt, schon durch die große Mühle der Demokratisierung und Vermassung des Außerordentlichen gedreht. Wie 'Sarajevo' überall ist, ist 'Berlin' überall. Kein Fleck eines Außen.
Und wie nennen wir das dritte Problem? Paris-Problem oder Frankfurt-Problem? Vielleicht am besten Wien-Problem. Die Psychoanalyse war bekanntlich die erste Wissenschaft vom Menschen, die sich vollständig popularisierte und den Raum der Kunst überschrieb. Wo immer ein Künstler, Schriftsteller, Dramatiker eine Arbeit begann, die Psychoanalyse war schon dort. Die winzige Schrift der Psychoanalyse überzog alles. Einen zweiten gigantischen Beschriftungsapparat stellten Kierkegaard, Nietzsche, Heidegger, Sartre u.a. auf. Einen dritten Marx und der Marxismus. Er wurde ausgebaut von Adorno, Marcuse, der Kritischen Theorie. Zugleich bauten ein paar Franzosen weitere Apparate: des Strukturalismus, der Diskurstheorie, der Dekonstruktion, der Postmoderne. Nun waren die Maschinen sogar fähig zur Selbstreflexion. Das machte sie aber nicht weniger gefährlich, im Gegenteil. Eine Maschine, die mit ihrem Diskurs alles bedeckte und erstickte (wie viele Kunstproduzenten im weiteren Sinne gibt es noch, die nicht irgendwie „mit Foucault arbeiten“), der vielleicht leistungsstärkste Beschriftungsapparat, der jemals erfunden worden war, schrieb auf die Körper und auf die Erfahrungen eben jenen Satz: „Alles ist von einer winzigen Schrift überzogen. Ich nenne die Schrift Diskurs, mich selbst ein Dispositiv. Diese Schrift ist Macht, und die Macht bin ich.“
Das Wien-Problem ist wahrscheinlich das bedrohlichste, denn hier sind wir im Zentrum künstlerischer Identitäten angelangt. Die Klischees des Medienapparates und die Klischees unserer demokratisierten Lebensform wollen wir immerhin umgehen, destruieren; doch wer sich im Denken als längst Gedachter, Beschriebener begreifen muss, das Schädelinnere von einer winzigen Schrift überzogen, was soll er tun? Mit welchem Denken soll er die Denk-Schrift überschreiben? Wie es schaffen, nicht bloß Philosophie, Soziologie fortzuschreiben, nicht bloß Denkprogramme auszuführen, die Welten, die Wissenschaftler und Denker entworfen haben, noch einmal zu entwerfen, bloß mit den Mitteln der Kunst, des Theaters, der Literatur? Wie nur es vermeiden, dass man nach der feudalen Heteronomie der Kunst, die Abbildung verlangte, in moderner Heteronomie existiert, wo nicht Fürsten und Priester, sondern Theorien Abbildung fordern? Welcher Künstler dient heute nicht den Philosophen? Gewollt oder ungewollt, ausdrücklich oder wortlos … Wer wähnte sich nicht „ganz vorne“, weil (nicht obwohl) er hinter großen Geistern hergeht? Ist das nicht ein Widerspruch?
Es ist ein altehrwürdiger Topos, dass die Kunst sich gegen Inanspruchnahme durch Ideologie und Rationalität wehrt. Ionescu grenzt sich vom politisch-revolutionären Theater ab, wie Sol LeWitt seine Conceptual Art gegen den Strich der Logik bürstet. Das waren die vertrauten Fronten. Die vertrauten Kämpfe. Doch diese sind einer verwirrenden Konstellation gewichen. Die Denker, die nun relevant sind, fordern weder Engagement noch Kohärenz. Sie stehen auf der Seite der Kunst. Sie verteidigen die Kunst. Sie haben Formen der Kunst übernommen, appropiiert, springen von Plateau zu Plateau. Sie laufen Künstlern hinterher, und die Künstler, die ihnen hinterherlaufen, geraten in doppelten Denk-Rückstand. Und wenn die Künstler den Denkern, wie man sagt, „kritisch“ begegneten? Selbst wenn sie dazu in der Lage wären: Es änderte die Situation nicht wesentlich. Denn auch der Kritiker eines Denkers läuft dem Denker hinterher, bleibt bei dem, was dieses Denken ins Licht rückt, spielt – noch in allen Negationen – sein Sprachspiel. Auch und besonders der Kritiker ist ein Verhafteter, kommt nicht auf die Idee, etwas ganz anderes zu denken, zu tun. Die kunstaffinen Denker ignorieren? Abgesehen davon, dass es dafür längst zu spät ist, ist das natürlich nicht die Antwort. Jeder große Künstler ist selbst – auf seine Art – ein großer Denker (etwa der genannte Sol LeWitt); dass seine Gedanken womöglich auf eine Seite passen, verschlägt nichts. Zum Denkenden wird man bekanntlich im Durchgang durch das Denker großer Anderer. (Die Betonung liegt auf Durchgang.) Also ist der philosophische Analphabetismus keine Lösung. Nicht einmal Option. Es bleibt beim Befund, dass die Ideologien von heute Anti-Ideologien sind, dass die herrschende Rationalität Rationalitäten zersetzt, dass die Kunst-Überschreiber der Gegenwart die Kunst in deren eigenem Feld, mittels Kunst-Formen überschreiben. Tod durch friendly fire.
Weist der Körper einen Ausweg? Könnten die Körper sich in einer Körperkunst, einem Körpertheater der Beschriftung entziehen? Ist das die Rettung? Das letzte Reservat? Nein. Die performative Kunst hat ihr eigenes Recht, aber sie kann nicht retten, was sie selbst nicht sein will. Es geht ihr nicht um Sprache, also hilft sie nicht bei Sprachproblemen. Sie ist nicht Weltbeschreibung, sondern Welt. Rufe ich sie um Hilfe, schütte ich das Kind mit dem Bade aus; die Folge ist Sprachverzicht, nicht Sprachgewinn, Flucht in den Körper, Körpereskapismus.
Dagegen als performatives Element im Texttheater bleibt der Körper überschrieben, entzieht sich zwar der Rolle, dem Schauspiel, übernimmt dafür jedoch philosophische Rollen, spielt die Diskurse.
Wir müssen hier unterscheiden zwischen Produzenten und Rezipienten. Für die Produzenten stellt sich die Frage: Wie entziehe ich mich im Prozess des Schaffens den gängigen Beschriftungen bzw. wie überschreibe ich sie? Hier ist der Körper ein Ausweg. Das Körper-Werk ist eine Suspension der Sprache, der Wort- und Denkklischees. Doch eben nur auf Seiten der Produktion. Die Rezipienten kommen mit den gängigen sprachlichen Vorstellungen ins Theater, integrieren das Gesehene in diese und verlassen das Theater wieder, ohne dass diese sich verändert hätten. Die Suspension der Sprache, die in der Produktion, im Werk selbst, geschehen ist, ist in der Rezeption, beim Zuschauer, ausgeblieben. Die Körper tauchen aus den Wellen der Sprache auf – und die Wellen der Sprache schlagen über den Körpern zusammen. Das stürmische Schauspiel ist vorbei, das aufgewühlte Meer wieder spiegelglatt. Nur eine neue Sprache kann eine alte Sprache ersetzen. Körper ersetzen keine Wörter. Insofern wären sprachlose Formen möglicherweise ein Zeichen der Krise, des allgegenwärtigen Überschreibungsgefühls, sie sind möglicherweise als das, was sie sind, geglückte Werke, doch das Schädelinnere der Rezipienten können sie weder von dessen Beschriftungen befreien noch beschriften sie es neu. Der Mensch ist ein Wesen, das Erfahrung notwendig sprachlich zu repräsentieren versucht – egal an wie vielen Performances von Marina Abramović er teilnimmt. Genauso gut könnte er einen Yoga-Kurs absolvieren. Stets wird er nur den Delfin-Sprung des Körpers aus dem Meer der Sprache erleben, das erneute Eintauchen in die Fluten. Erst Recht, wenn es innerhalb von Sprechtheater geschieht – reglose Körper, tanzende Körper, wortlose Katatonie und Raserei durchbrechen die Textoberfläche, doch keinen Augenblick vergessen die Zuschauer das Stück samt der applizierten soziologischen Kritik, der Situierung im journalistisch zutode bezeichneten Raum.
Das sogenannte postdramatische Theater hat sich, wo es sich vom Text des Dramas löste, an den Text des Denkens angeschlossen, an Sozialwissenschaften und Philosophie, es ist eine Kunst, die aus der Philosophie geboren ist, dort ihren Ursprung hat, Überschreibung ohne Überschriebenes, ausgespuckt von den Maschinen des Poststrukturalismus. Der Glaube an die Philosophie hat den Glauben ans Drama ersetzt, man schwebt über allen Texten, die auf der Bühne gesprochen werden, ist dafür zementiert in den Metatext. Das ist gar nicht schlecht, es ist hochinteressant und sehr amüsant, es hat wichtige Werke möglich gemacht, wo die Künstler stark waren, wo sie an den monströsen Apparat des Denkens einen ebenso monströsen Apparat der Kunst anzuschließen wussten … Doch über solche Triumphe darf nicht aus dem Blick geraten, dass der Anschluss ans Reich der Philosopie stattgefunden hat; dass man sich gar nicht mehr denken kann, jenseits der Denker zu denken; dass noch scheinbar verrückteste Kunstmomente berechenbar sind, weil man die Maschine kennt, die sie erzeugt; dass auch das Perfomative überzogen ist von winziger Schrift; dass man die Treue zum dramatischen Text substiuiert hat durch eine neue Treue zum philosophischen Text; dass man ein Dienender ist.
Die Philosophen im Reich der Kunst – sie sind absolute Herrscher. Unkritisierbar, unfehlbar. Ihre Destruktion der Wahrheit, ihre Demontage des Subjekts – das ist nun die Wahrheit, in der Kunst zu geschehen hat. Das leitet die Subjekte. Niemand ist in der Lage zu einem Widerwort. Denn das Widerwort müsste geäußert werden im Reich der Philosophie (oder Soziologie), der Künstler ist weit draußen auf fremdem Gebiet, hat keine Chance. Das ist gut für die Philosophen. Im Reich der Philosophie könnten sie niemals Herrscher sein, da herrscht Waffengleichheit, da gibt es immer einen, der widersprechen kann bzw. von anderem spricht. Aber hier, im Kunstbetrieb, in der Welt des Theaters, da ist der Philosoph der Hai im Karpfenteich – unerwartete, herrliche Macht. Was blendet mich da? Mein Heiligenschein.
Der Leser wird vielleicht feststellen, dass in ihm selbst nun die philosophisch-wissenschaftliche Maschine begonnen hat zu rattern; dass sie Sätze ausspuckt wie diese: „Ist der Autor naiv? Will er, dass wir uns von den modernen Maschinen der Überschreibung befreien? Glaubt er, das ginge? Träumt er von echtem Ausdruck? Von Authentizität? Will er der 'Kunst aus dem Kopf' eine 'Kunst aus dem Bauch' entgegensetzen? Der Rationalität die Emotionalität (oder gar Spiritualität)? Will er zurück zum originären Dramentext, in dem Schauspieler originäre Sätze sagen? Hat er die intertextuelle Lektion nicht gelernt? Spricht ein Kunst-Konservativer? Vielleicht ein Anti-Moderner? Esoterischer Romantiker? Ein schlichtes Gemüt? Sagt er: Findet Eure eigene Stimme, das Unberührte tief in Euch!?“ So rattert und plappert die kluge Maschine vor sich hin und bezeugt ihre eigene Wahrheit – dass Sprache stets Diskurs ist, dem Sprechenden vorausgeht: ein 'erstes Wort' ausgeschlossen.
Die logische Opposition, die Vermitteltes und Unvermitteltes gegenüberstellt, lässt jeden, der Vermitteltheit problematisiert, als Rückwärtsgewandten erscheinen, schlimmer noch, als jemanden, der im Unterricht nicht aufgepasst hat. Doch es ist gerade die Position des Schlaumeiers, gerade der Stolz des Klassenbesten darauf, die Lektion gelernt zu haben, auf dem aktuellen Stand zu sein, die zur Unterwerfung unter das Faktische führt und das Faktische damit verdoppelt (wie eine neoliberale Partei das Faktum Weltmarkt verdoppelt, indem sie stets 'realistisch', also weltmarktorientiert agiert). Medien, Wissenschaft, Philosophie beschriften „Welt“ und „Seele“, „Geschichte“ und „Erfahrung“, überschwemmen den Markt, den die lokalen Anbieter der Kunst einst (fast) für sich hatten – und weder Verneinung noch Bejahung hilft. Jenseits von naivem Widerstand und kluger Kapitulation müssen wir damit praktisch umgehen.
Seit Jahrzehnten sagen wir uns: Je mehr Theorie, desto besser. Es stimmt. Denn eine Alternative: Theorielosigkeit – Psychologielosigkei und Soziologielosigkeit, Philosophie-Abstinenz – existiert nicht. Es reicht, in Lifestylemagazinen
oder sogenannten Frauenzeitschriften zu blättern – schon ist man Theoretiker. Unwiderruflich. Es reicht, sich mit anderen Menschen zu unterhalten. Niemand kann Kaspar Hauser sein. Begriffe wie das Unbewusste, Kapitalismus, Markt, Diskurs, Dialektik sind so unausweichlich, so nicht-nicht-lernbar wie Wasser, Tisch, Stuhl, Brot … Und wenn man schon Zwangstheoretiker ist, soll man nicht wenigstens ein guter Theoretiker sein, seinen Theoriekonsum steigern, anstatt sich naiv in Enthaltsamkeit zu üben, was bloß das bereits Aufgeschnappte konservierte? Natürlich. Kein Weg führt zurück ins Paradies, in die Unmittelbakeit bzw. in jene Zeit (um den Vergleich etwas bescheidener, realistischer zu machen), da Künstler, Theaterleute, Schriftsteller ihre Stoffe noch weitgehend für sich selber hatten, auch die Köpfe der Rezipienten, der Zuschauer und Leser noch nicht voll waren von den überschreibenden Darstellungen der Philosophie und Wissenschaft (von Zeitung und Fernsehen, Wikipedia und Youtube zu schweigen). Es gab eine Zeit, da war ein Zuschauer, wenn er im Theater saß, tatsächlich im Theater. Nicht zugleich an tausend anderen Orten der Darstellung, der Beschriftung. Und darum geht es mir ja: Ich habe nicht die Sehnsucht der Romantiker nach unmittelbarem Dasein, das nicht von Zahlen und Figuren vernagelt ist, sondern nur die Sehnsucht nach Kunst, die sich behauptet, die ihre Stoffe selbst zu Werken formt, uns eine eigene Weltsicht liefert – ihren Entwurf.
Fortsetzung des Textes unter: http://svenhillenkamp.com/kampf-den-denkzeichen/
Sven Hillenkamp lebt in Stockholm. Schriftsteller und Sozialforscher. Bücher: Das Ende der Liebe. Gefühle im Zeitalter unendlicher Freiheit. Stuttgart 2009. Fußabdrücke eines Fliegenden. Stuttgart 2012. Zuletzt: Negative Moderne. Strukturen der Freiheit und der Sturz ins Nichts. Stuttgart 2016. Das Buch ist Band II der auf vier Bände angelegten Untersuchung: Zwänge der Freiheit. Die neuen Formen der Faktizität.
Alle Rechte am Text liegen beim Autor.
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1 Christa Wolf: Kein Ort. Nirgends. Berlin und Weimar 1979. S. 99
2 Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM). 5. Auflage. Herausgegeben von der American Psychiatric Association. 18.05.2013
3 Beim Nachschlagen sehe ich, dass offenbar meine Erinnerung den Satz überschrieben hat. Tatsächlich schreibt Frisch in seinem Tagebuch: „Räume unbekannten Lebens, unerfahrene Räume, Welt, die noch nicht geschildert worden ist, nennenswert als Fakt, das ist der Raum der Epik. Europa hat sich in allen landschaftlichen, in allen historischen, aber auch in fast allen gesellschaftlichen Räumen schon oft genug, meisterhaft genug, mehr als genug geschildert; die epische Eroberung, die die Dichtung junger Völker beherrscht, ist so weit noch möglich, wie es etwa in der Schweiz noch einzelne unbestiegene Nebengipfel geben mag ...“. Max Frisch: Tagebuch 1946-1949, Berlin 1987, S. 212
Ein Versuch über den Haß mit anschließendem Aufruf zur solidarischen Teilnahme weiter unten
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Die Idee von Hass als Atavismus aus den Tiefen der vormenschlichen Urgeschichte, der als naturgegebenes archaisches oder biologisches Phänomen hin und wieder hervorbricht, wie ein Virus durch die Menschheit geistert, und durch Fortschritt in fortschreitendem Maße geheilt werden muss, mag bequem und nützlich sein für diejenigen, die sich im bürgerlichen*** Futteral von Akademisierung und Musealisierung vergangener Rebellionen eingerichtet haben.
Die bürgerliche*** Hass-Konzeption folgt der Strategie, den Hass, der die Gesellschaft durchzieht und den Eliten, Produktionsabläufen und Machtrepräsentanten entgegenschlägt, unschädlich zu machen, indem er als irrational, pubertär oder pathologisch disqualifiziert und im zweiten Schritt erklärt und therapiert werden muss. Hass wird interpretiert, diszipliniert und behandelt, bis die Gefahr abgewehrt und Ruhe und Ordnung der befriedeten Gesellschaft wieder hergestellt sind. Um den Hass wird eine Linie der Tabuisierung gezogen. Tabuisierung im Kapitalismus ist niemals einfach nur Ausschluss. Sie ist immer Wertschöpfung zugleich, indem sie gleichzeitig anziehend und abstoßend wirkt. Das Gebiet des Hasses wird durch die Tabuisierung als ein Gebiet außerhalb des herrschenden Vernunft-Menschlichkeitsdiskurses markiert. Diese Markierung aber bedingt seine Produktivität und seinen Inhalt. Über Hass reden, Hass als Schrecken installieren und das Fernhalten des Hasses zu versprechen, die Quelle all dieser Produktivität ist Hass. Hass ist in dieser Konstellation nicht nur fungibel, um Forderungen, abweichende Erklärungsmuster und Konfliktparteien vom herrschenden Diskurs zu disqualifizieren. Er sorgt gleichzeitig für gesteigerte Produktivität der herrschenden akademischen, politischen und medialen Diskurse, indem er, was er erst verfremdet hat, im zweiten Schritt durch gesteigerte Interpretationstätigkeit wieder in seine Rationalität integrieren muss. Hass gewinnt so unter die Spannung von Abstoßung und Anziehung gesetzt, auch ökonomische Bedeutung und garantiert nicht nur Stabilität, sondern auch Wachstum.
Lights
Die Linie, die den Hass markiert, fernhält, eingrenzt und ihn profitabel macht, kommt selbst nicht wirklich in den Blick, solange man sich nicht quer zur humanistischen Tradition und dem verdächtig breiten gesellschaftlichen Konsens der Problematisierung des Hasses bewegt. Die Grenzziehung muss selbst in ihrer Widersprüchlichkeit befragt werden: Was ist bestialischer, der Panther oder die Eisenstangen, die sich um ihn herum zum Knast formieren? Die Grenze, die den Hass einhegt, ist selbst von ihm durchsetzt. Insofern die humanistische Vorstellung von Hass die binäre Vorstellung einer Region des Hasses und einer Region jenseits des Hasses pflegt, bleibt sie vermeintlich frei von Hass, weil blind.
Kurz gesagt: Hass funktioniert überall. Er ist weder da noch nicht da, sondern er funktioniert so oder so. Die wichtige Frage, die sich stellt, lautet: für wen oder was? Für welche Seite? Die Hass-Grenzziehung arbeitet als effektives Instrument an der Reproduktion der gegenwärtigen Verhältnisse mit. Deshalb ist es interessant, nach Strategien zu suchen, die seine Wirkungsweise sichtbar machen, unterbrechen oder umlenken und gegen sich selbst wenden können. Grade wenn es vielleicht dazu dienen kann, uns vor dem Erstickungstod zu bewahren und uns aus der Einbetonierung in totalen Gleichklang und lähmende Harmonie herauszubrechen.
Um die Funktionsweise von Hass verstehen und sich zunutze machen zu können, reicht es nicht, die Linie der Tabuisierung einfach zu überschreiten. Vielversprechender, effektiver und deshalb wichtiger ist es, die seltsamen Linien der Tabuisierung, Ausschließung, Vereinnahmung und Ausbeutung, die um ihn herum gezogen wurde, zu untersuchen und den Regeln seiner Produktivität auf die Spur zu kommen. Die so auf ihn angesetzte Erforschung des Hasses ist keine humanistische Disziplin. Sie betritt eine Landschaft, wo verschiedene Formen der Kristallisierung, der Sedimentierung, der Verwehung, des Fließens, der Aufschwemmung, der Bestäubung, der Bildung von Ablegern, der Photosynthese, der Wucherung, der Zersetzung, der Jagd, der Verdauung, des Widerkäuens stattfinden. Sie geht nicht vom Menschen als Zentrum des Hasses aus. Sie sucht eine Form der Koexistenz innerhalb dieses Ökosystems, sie nimmt Hass auf und sondert ihn ab. Das Denken, das Forschen, die Methode, die dem Hass auf die Spur kommt, müssen selbst hassende sein und sich als solche verstehen. Weder Ausgangspunkt noch Ziel der Untersuchung (jeder Untersuchung) liegen jenseits des Hasses. Auch die Untersuchung selbst muss ihre Effektivität beweisen, in der Landschaft bestehen können. Genug hassen, genug dekonstruieren, um Wirkungen zu entfalten.
Stage Management
„Wer denkt, ist in aller Kritik nicht wütend: Denken hat die Wut sublimiert.“ Sagt Adorno. Wer denkt, ist eben auch nicht nicht wütend. Denken ist seinerseits Hass, der seine Waffe gewählt hat. Denken ist nicht sein Gegenteil, sondern einer seiner Aggregatzustände.
Die Suche hat mit dem Hass schon begonnen, ohne sich auf das Spiel der Versicherer, der Abgrenzungen, der Begriffsverschärfungen einzulassen, denn: die Bedeutung des Hasses ist sein Gebrauch. Hass als Denken frisst sich auf seine Weise durch die feindlichen Reihen. Es gibt keinen fundamentalen Unterschied zwischen „uns“, die über Hass reden, die ihn bedenken, befrieden, therapieren und verarzten, und „jenen“ oder „denen“, die unter ärztliche, pädagogische oder verfassungsschutzmäßige Aufsicht gestellt werden müssten. Nicht mal Denken ist ein Weg zur Unschuld. Grade Denken nicht. Gefragt wird nicht, inwiefern die Vernunft gegen den Hass ankommt, was die Vernunft hinter dem Hass zum Vorschein bringt oder wie sie ihn durch schrittweise Aufklärung schrittweise abbaut, die Frage ist, welcher Hass hinter der Vernunft steht, die Hass als unvernünftig abspaltet, ihn zum Tabu erklärt, in Quarantäne verbannt und zum ansteckenden Angstgegner aufbaut.
Man darf nicht vergessen, dass es sich bei der Gegenüberstellung von Vernunft und Hass oder Menschlichkeit und Hass um eine ideologische Operation handelt. Die Idee, dass sich zwei einander entgegengesetzte Prinzipien, das menschliche und das unmenschliche bekämpfen würden, ist Illusion. Ebenso, wie die Vorstellung, dass der Sieg des Irrationalen, die historischen Schrecken hervorgebracht hätte und der Sieg der rationalen menschlichen Kräfte, diese Schrecken beendet habe, vor allem eine schöne Gute-Nacht-Geschichte ist. Sie bettet die in Wahrheit monströsen mehrdimensional ineinander verzahnten Verkettungen von Handlungen hinter dem Schleier einer binären Ordnung zur Ruhe. Natürlich ist es ein viel schöneres Gefühl, auf der Seite der Menschheit und der Menschlichkeit überhaupt zu stehen, als nur auf der Seite einiger mehr oder weniger zufällig in eine Schicksalsgemeinschaft geratener Menschen. Und wieviel einfacher ist es, den Gegner und Angreifer des eigenen Status quo der Bequemlichkeit als tollwütige Bestie wegzusperren, als sich die Ungerechtigkeit und die Hasserfülltheit der Verhältnisse einzugestehen, auf denen der eigene Status beruht. Der Privilegierte spürt Hass nicht als Emotion, ihn zieht es nicht auf die Straße, wie der Satte keinen Hunger spürt, den zu stillen er nicht betteln muss. Der Hass des Privilegierten ist aber bei weitem nicht nicht da. Er hat gesiegt und sich institutionalisiert. Die, die oben sitzen, müssen nicht mit den Zähnen fletschen oder die Augen zusammenkneifen. Ihr Hass ist in Subunternehmen ausgelagert worden, wo er sich vermehrt und optimiert. Hass ausgelagert in die Hartz-4-Gesetzgebung, in die Friedenseinsätze der Bundeswehr, in Drohnen, in den Pfennigabsatz, in die Massenschlachtanlage, in die Pharma- und Versicherungsindustrie, in die Atomenergie, in den polizeilichen Schutz des Eigentums, in die Privatisierungs- und Austeritätsauflagen, in die Leih- und Schichtarbeit, in die Freiheit der Finanzmärkte, in die Architekturen und Technologien der Überwachung und Folter und in die Systeme der Konkurrenz und Selektion.
Crowd Control
Die Verschleierung einer bestimmten Machtkonstellation als animalisches oder psychologisches Phänomen, die Geschichte vom Hass, der als Antithese der wahren Menschlichkeit zu fürchten und mit aller Macht zu verhindern wäre, fungiert vor allem als Wehrbau zum Schutz und zur Stabilisierung der gegenwärtigen Machtverhältnisse, die den blinden Glauben an Kapitalerträge und den reibungslosen Betriebsablauf mit Vernunft verwechselt. Während sich die Systeme aus Hass-Apparaten weiter vermehren und optimieren, lassen die Gehassten ihren Hass im Namen der Menschlichkeit beschwichtigen und in humanitäre Einsätze umleiten, in Hass auf diejenigen also, die angeblich die wirklich bestialischen bzw. kranken Hass-Unmenschen sind. Hass, der sich gemäß den erwünschten Kapitalströmen der herrschenden Verhältnisse verhält, hört auf Hass zu sein und verwandelt sich in „berechtigte Ängste der Bevölkerung“ und „Sachzwänge“, die opportune politische Entscheidungen erzwingen. So verwandelte sich, ähnlich wie heute, der Nazihass der 90er Jahre in institutionellen Hass, wurde angeheizt und instrumentalisiert zur Verschärfung der Asylgesetzte, verlor als solches das Label „Hass“, wurde geltendes Recht und damit wesentlich effektiver als jeder Nazi-Mob es sein konnte. Hass, der effektiv geworden ist, heißt nicht mehr Hass, er trägt dann den Namen von Agenturen, Paragrafen und Produktionsfirmen. Hass, der profitabel wird, wird nicht als Hass problematisiert. Die ganze Medienindustrie basiert da, wo sie Profite generiert, auf ins Virtuelle verlagerten und dort gleichzeitig ausgebeutetem und unschädlich gemachtem Hass. Hass, der als Unterhaltung domestiziert und gemolken wird. Es geht nicht mehr um den Hass der Leute. Hass, der effektiv ist, ist nicht mehr der Hass irgendwelcher Leute. Nicht der Hass der Reichen, noch der der Armen. Nicht der Hass der Sklaven, noch der Sklavenhalter. Es geht um die Landschaft, um die Apparatur, das Ökosystem des Hasses. Es geht um die durchrationalisierte, technisch perfektionierte, digitalisierte, vernetzte, geölte, nuklear verteidigte und gegen die parasitären Menschen immunisierte Verwertungsmaschine, die von Hass betrieben wird und Hass betreibt.
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In noch eigenerer Sache:
Mehr als einmal wurde ich darauf hingewiesen, dass Worte, wie „bürgerlich“ heutzutage nicht mehr einfach als Kampfbegriffe durch die Gegend geschossen werden dürfen. („Das sagt man nicht!“ oder „Sag nicht immer Unterdrücker, da könnten sich Leute beleidigt fühlen!“) Den Begriff „bürgerlich“ zu definieren und dadurch den Leser mit einer Illusion von Klarheit zu umfangen, ist natürlich: BÜRGERLICH. Also hier ein Aufruf zur solidarischen Teilnahme an seiner Verkomplizierung, seinem Miss- und Gebrauch:
Mit dem Begriff „bürgerlich“ scheint es auf den ersten Blick so ähnlich zu sein, wie mit Munition, die an feuchten Orten gelagert wird (z.B. im Landwehrkanal). Sie wird mit der Zeit vielleicht – vielleicht aber auch nicht – unbrauchbar. (Aber können wir wählerisch sein, die anderen haben immerhin Atombomben!?)
Ein solcher Fund verspricht spannend, weil unberechenbar, und im Partisanenkampf besser als nichts zu sein. (Kinder, die nach der Silvesternacht die Böllerreste vom Schlachtfeld sammeln, kennen das vielleicht, den ambivalenten Zustand von Angst und Ermächtigung.) Die Worte „bürgerlich“ und „proletarisch“ kommen grobschlächtig, eindimensional und halbverwest daher. Aber, um es mit dem amerikanischen Kommunistenrapper Boots Riley zu sagen: „I got love for the underdog“ (Dabei kann man es eigentlich auch bewenden lassen, das ist doch Grund genug!). Sie spielen am „Ende der Geschichte“ schon damit, vermeintlich nichts mehr zu bezeichnen, aber irgendwie und das ist das Unheimliche, Zombiemäßige daran eben doch auch alles bezeichnen zu können. Sie bezeichnen, dass sie nichts mehr bezeichnen. Und enthalten auch die Drohung, vielleicht auch nur jetzt grade oder noch nichts von Gewicht zu bezeichnen, aber gleich..... Eben weil sie einem geschlossenen (dem so oder so gedrehten marxistischen) Denksystem entspringen, kommunizieren sie mit der heimlichen Angst oder dem verdrängten Wissen darum, dass es eigentlich auch genau so sein könnte, wie die Wörter verheißen, wenn man die Decke zurückschlagen und unterm Bett nachsehen würde. Oder, dass es auf jeden Fall ganz anders sein könnte, als der gegenwärtig herrschende Diskurs verlautbaren lässt. Nennen wir das Irritationspotenzial und also auch Punk. Aber auch Tragik.
Das bürgerliche Bewusstsein hat vollständig gesiegt, wenn es als solches nicht mehr erkannt und benannt wird. Dass das Wort nicht mehr richtig passt, anachronistisch und ungelenk klingt, verkündet dann das Näherkommen der Gefahr dieses Sieges, deshalb auch das Unbehagen. Dass die Proletarierin heute im bürgerlich verdrehten Bewusstsein eines Unternehmers, der sich selbst als Objekt vermarktet, ihre Ausbeutung willkommen heißt und als persönlichen Erfolg verbucht, ist der Sieg der bürgerlichen Ideologie, aber nicht das Verschwinden des Proletariats. Dass wir das Proletariat als solches nicht mehr sehen, ist mehr unserer Blindheit und der säuberlich vollzogenen globalen Klassentrennung geschuldet, als seinem Verschwinden.
Das bürgerliche und das proletarische Bewusstsein sind strukturelle Momente, die Frontlinie des Klassenkampfes, der das Denken im kalten oder heißen, befriedeten oder aufflammenden Aggregatzustand durchpflügt.
Das Bürgerliche verblendet, verspricht illusorische Befriedigung, und Auflösung der gesellschaftlichen Widersprüche im Privaten und Individuellen, oder Reinigung im akademischen, medizinischen oder juristischen Apparat. Es ist der Glaube an die Lösung aller im Individuellen verorteten Widersprüche innerhalb der bestehenden rechtsstaatlichen, diskursiv vernünftigen, wissenschaftlich fortschreitenden und wirtschaftlich alternativlosen Ordnung (Ausbeutung), ohne zu sehen, wie jede ihrer Lösungen dieselben Widersprüche nur noch unausweichlicher reproduziert und in ihr Gegenteil umschlägt. Es ermöglicht so und erhält so aufrecht den gesellschaftlichen (v.a. auch globalen) Status quo.
Das Proletarische stellt die gesellschaftliche, weil durch die Gesellschaftsordnung geschlagene Wunde, seine Leerstelle, seine Entfremdung, die Verdinglichung, die Ausbeutung seiner selbst zur Schau und revoltiert gegen den gesellschaftlichen, Wunden schlagenden Status quo. Es widerspricht dem Imperativ zur Besitzstandswahrung, weil es erkennt, dass es immer schon enteignet wurde. Dies ist effektiv, sobald es seine eigene Rolle (und das heißt auch Komplizenschaft) im Produktionsprozess der Leerstelle begreift und niederlegt, bestreikt, sabotiert.
Burnout ist der innere Proletarier, der die rote Fahne schwenkt, Aufruf zum Generalstreik.
Wenn man Marx ernst nimmt und das Proletariat als Leerstelle begreift, die der alles in Waren transformierende kapitalistische „Fortschritt“ an Stelle eines Menschen hinterlässt, dann ist bürgerlich all das, was diese Leerstelle zu verdecken, zu stopfen, zuzunähen und noch vollständiger auszubeuten versucht, um seine Impotenz/Leere/Widersprüchlichkeit zu verbergen. (Nicht zufällig klingt hier auch die patriarchale Dimension an, scheint die Frau doch der proletarische Prototyp zu sein).
Historische Reibung mit den veralteten Worten erzeugen, Funken sprühen lassen, kann pyrotechnisch ganz unterhaltsam sein, ist aber immer zuallererst Angriff und Verteidigung: Zombieallianzen gegen die Komplizenschaft mit dem Status quo und seiner ideologischen Verfestigung – also proletarische Tätigkeit, Operation aus der Leere heraus, mit den Schmuddelkindern spielen, sich aufhalten in der Ambivalenz zwischen Angst und Ermächtigung. Grade, dass sie nicht ohne weiteres anschlussfähig sind, zeigt ihr Potenzial an. Die Worte und ich mögen oft nicht wissen, wer wen benutzt, aber der Glaube an Autonomie ist eben auch nur eine der mannigfaltigen bürgerlich-patriarchalen Gehirnwäschestrategien.
Und dann ist daran natürlich auch was Performatives: Im Text zu behaupten, dass einer noch bürgerlich und Proletariat und vor allem auch Patriarchat sagt und ein anderer das noch versteht. Anrufung oder Beschwörung oder ein Brief an den Weihnachtsmann vielleicht, aber es geht natürlich auch ohne und kann überlesen werden, wie eine idiosynkratrische Stilblüte, wie ein totes Tier an der Autobahn, wie civil war reenactment.
Oder der eine macht in Solarenergie, die andere in Kommunismus, ist doch ein freies Land nicht wahr?
Alle Rechte am Text liegen bei der Autorin.
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Der politisch korrekte Theaterbesuch setzt nicht nur voraus, Karten für das richtige Stück zu kaufen. Es kommt auch darauf an, sie richtig zu bezahlen.
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Durch Deutschland tourte im vergangenen Jahr eine kubanische Showtanztruppe mit dem Musical „Soy de Cuba“. Die Story ist ein Verschnitt aus Dirty Dancing und Buena Vista Social Club: Ayala ist ein junges Bauernmädchen, das auf dem Land bei ihren Großeltern aufwächst, bis sie nach Havanna geht, um sich in einem Club als Kellnerin und Putzfrau zu verdingen. Dort entdeckt sie der charismatische Choreograph Mario – der Rest versteht sich von selbst. „Vielfältige Rhythmen, feurige Tänze, gefühlvolle Gesangseinlagen und eine bewegende Liebesgeschichte“, so der Veranstalter.
Das ist natürlich kein Stoff für die Volksbühne, und es sei dahingestellt, ob es richtig ist, solche Stücke anzusehen oder nur okay. Sowas läuft im Admiralspalast, in der EmslandArena Lingen oder im Musical Dome Köln, zwei Wochen en suite, Begeisterung überall. So weit, so andrewlloydwebber. Was die Geschichte dieser Showtanztruppe interessant macht, sind die 54.339,88 Euro, die die Proticket GmbH & Co. KG mit dieser Kuba-Schmonzette eingenommen hat. Oder fast eingenommen hat. Während es in „Soy de Cuba“ nur um so Banalitäten wie Liebe und den richtigen Hüftschwung geht, geht es hinter den Kulissen des Admiralspalast um die große Frage. Wessen Freiheit schützen wir?
Wenn man Karsten Killing, dem Geschäftsführer von Proticket glauben darf, dann geht es um David gegen Goliath. David ist natürlich Killings Proticket. Goliath ist Paypal, ein Internetbezahldienst, der lange Zeit zu eBay gehörte, jetzt an der NASDAQ gehandelt wird. Das Unternehmen wickelt Online-Zahlungen ab. Damit ist es ziemlich erfolgreich, im ersten Quartal 2016 registrierte Paypal 1,4 Milliarden Bezahlvorgänge weltweit. Proticket hat sich die Eintrittskarten über Paypal bezahlen lassen, und so gelangten 54.339,88 Euro auf Killings Paypal-Konto. Dieses Geld wollte Paypal aber nicht herausrücken. Weil Kämpfe zwischen kleinen Kulturmanagern wie Karsten Killing und amerikanischen Internetgoliaths wie Paypal nicht mehr mit der Steinschleuder entschieden werden, musste ein Gericht her, das entscheidet, ob Killing seine Kohle kriegt. Auftritt der 3. Zivilkammer des Landgerichts Dortmund unter Vorsitz von Richter Schlözer!
Paypals Begründung fürs Einfrieren der „Soy de Cuba“-Einnahmen: Die europäische Niederlassung (mit, natürlich, Luxemburger Bankzulassung) sei die Tochtergesellschaft eines US-Unternehmens und unterliege daher den Kuba-Embargo-Vorschriften: Trading with the Enemy Act 1963, Torricelli Act 1992, Helms Burton Act 1996. Würde Paypal Europe sich am Ticketverkauf für das Musical „Soy de Cuba“ beteiligen, drohten der Muttergesellschaft in den USA Millionenstrafen, den Geschäftsführern bis zu zehn Jahren Haft. Rechtlich hatte Paypal die Kontosperrung in seinen AGB abgesichert. In Ziffer 9.1 Nr. 33 stand, dass die Services von Paypal nicht in einer Weise genutzt werden dürfen, die Paypal der Gefahr aussetzen, regulatorische Schwierigkeiten zu bekommen. Die Verhaftung von Geschäftsführern wegen Verstoßes gegen das Kuba-Embargo der USA ist wohl eine solche regulatorische Schwierigkeit. Proticket hat diese Klausel akzeptiert, also haben Killing oder ein Kollege ein Häkchen gesetzt, als auf dem Bildschirm die Frage flimmerte, ob man mit den AGB einverstanden sei. Aber gegen das US-Embargo hat die EU einst eine Verordnung erlassen, dass niemand einer Forderung aufgrund des Kuba-Embargos nachgeben darf… Proticket klagte also.
Welch ein Tableau! Hier der kleine Karsten „David“ Killing aus Dortmund, der Eintrittskarten verkauft (oder waren es Schwefelhölzer?). Dort Paypal, ein Goliath, ein Gigant, ein Internetkonzern, aus dem Si-li-con-Val-ley, womöglich marktbeherrschend, die neue Welt, „das neue Geld“ (Werbeslogan). Im Hintergrund tanzen das Bauernmädchen Ayala, die Castros, Obama, die Rolling Stones, die digitale Ökonomie, der Freihandel, die Sanktionen, das Embargo, die US-Amerikaner den Europäern auf der Nase herum. Und jetzt soll die Dortmunder Kammer von Richter Schlözer entscheiden, ob Paypal das Kuba-Embargo an Karsten Killing vollziehen darf. Willkommen in der Welthandelspolitik.
Ist es also eine Schweinebuchterei, wenn Paypal Proticket aussperrt, weil das Unternehmen Billets für „Soy de Cuba“ verkauft? Darf man über AGB die aus der Zeit gefallene Anti-Kuba-Politik durchboxen? Geht es die Bank überhaupt etwas an, wofür Geld bezahlt wird? Oder ist das letztlich nur konsequent, wenn Proticket doch die AGB von Paypal akzeptiert hat?
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Am 15. Januar 2016 entschied das Landgericht Dortmund im einstweiligen Verfahren (Az. 3 O 610/15). Die zehn Seiten dieser Entscheidung machen greifbar, wie schon ein – nun ja – unschuldiger Kauf von Theaterbillets über das Internet die zwei großen Schwungräder der Kapitalismusmaschine in Gang setzt: Globalisierung und Digitalisierung. Und die Entscheidung der Dortmunder Richter wirft die Frage auf: Welches sind die Werte, die in dieser neuen Ökonomie hochgehalten werden sollten?
Die Dortmunder Richter machten aus ihren Herzen keine Mördergruben und gaben Pro-ticket Recht:
„Die Limitierung des Kontos (…) stellte einen objektiv widerrechtlichen Eingriff in den eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb der Antragstellerin dar. Zu diesem Eingriff war die Antragsgegnerin nicht berechtigt.“
Auf Deutsch: Paypal durfte das Konto von Proticket nicht sperren. Begründung:
„Die Anwendung US-amerikanischer Blockadegesetze in Deutschland verletzt nicht nur geltende Handelsprinzipien, sie gefährdet auch die Existenz hiesiger Gewerbetreibender und benachteiligt Konsumenten.“
Bam-bam. Wäre das Urteil in einem kubanischen Musical verwurstet worden, würde jetzt jemand auf Ölfässern trommeln, und Mario, der schöne Choreograph, würde aus dem Stand auf die Bar springen. Aber immer, wenn es einen freut, dass ein Gericht mal Klartext redet und aus einem komplexen Fall einfache Wahrheiten zieht, ist Vorsicht geboten. Schön: Das Landgericht Dortmund rettet den freien Handel und macht sich nicht zum Büttel einer US-amerikanischen Allmachtsphantasie. Weniger schön: Das Landgericht Dortmund verbietet einem Unternehmen, sich an die Gesetzgebung eines anderen demokratischen Staats zu halten – weil das vielleicht nicht gut für „hiesige Gewerbetreibende“ und deutsche Verbraucher ist. Es ist schwierig zu sagen, wie man denn ein entsprechendes Urteil des Jackson County Court in Mississippi fände. Wenn da vielleicht ein Richter meinen würde, dass es einer Ami-Tochtergesellschaft eines deutschen Unternehmens nicht zusteht, von seinen Lieferanten zu verlangen, auf Sklavenarbeit in Ostasien zu verzichten. Weil das geltende Handelsprinzipien verletzt. Und die Existenz hiesiger Gewerbetreibender gefährdet. Und weil die Preise steigen, benachteiligt das auch Konsumenten. Manchmal braucht man schon ein großes Vertrauen in Richter, wenn man ihre Sprüche gut finden will. Wer der Idiosynkrasie von Richtern nicht traut, sollte auf Gesetzgebung bauen. Aber Gesetze und Gegengesetze, das ist wie ein Krieg auf Papier. Gestrig. Die Lösung wäre die Einhegung der globalisierten Wirtschaft durch Normen! Durch so etwas wie … genau … TTIP.
Es bleibt dann die zweite große Frage: Warum maßt sich ein Gericht an, den Vertrag von Paypal und Proticket überhaupt anzugreifen? Wenn Madame Paypal sich frei entscheidet und Herr Killing sich frei entscheidet, dass sie zu bestimmten Bedingungen einen Vertrag schließen, dann wird dem doch wohl eine „Gerechtigkeitstendenz“ innewohnen, nämlich die Gerechtigkeit des Vertrags als Bündnis zwischen Gleichen? Der Freiheitsschutz, der Schutz vor staatlichen Eingriffen ins wirtschaftliche Handeln, ist in diesem Fall verdammt schwach zu begründen – zumindest wenn man die Maßstäbe anlegt, an denen die Vertragsfreiheit über Jahrhunderte entwickelt wurde. Der Mensch entfaltet sich auch durch seine Bindungen an andere. Seit Kant ist die Privatautonomie die zentrale Idee des bürgerlichen Rechts. Werner Flume, einer der einflussreichsten Rechtslehrer der Bundesrepublik, steigerte den Schutz der Privatautonomie bis zur Selbstherrlichkeit des Einzelnen: „stat pro ratione voluntas“ – der Wille, nicht die Vernunft regiert private Beziehungen.
Hätte da eine Bankdirektorin, so eine Polly Peachum, aus ihrer eigenwilligen Borniertheit heraus entschieden, keine Zahlungen für ein Kuba-Musical entgegen zu nehmen, wäre das ja irgendwie eine Manifestation der Willkür gewesen und damit auch eine Fehlentscheidung, die Respekt verdient hätte. In den Paypal-Fällen – dieser ist nicht der einzige – läuft das aber anders. Die Richter in Dortmund sind auf die Techniken der paypalschen Freiheitsausübung nur am Rande gestoßen, als sie sich gefragt haben, ob die feurigen Tänze im Admiralspalast denn wirklich unter das Embargo fallen. Ist das eine kubanische Ware oder Dienstleistung? Die Richter haben dazu wieder einen herrlichen Satz für das Che-Guevara-Poesiealbum formuliert:
„Kubanischer Rum (…) mag zwar eine kubanische Ware sein. Die Nationalität der Ensemblemitglieder von „Soy de Cuba“ macht die Eintrittskarten jedoch noch lange nicht zu kubanischen Waren oder Dienstleistungen.“
Richtig, richtig. Es ist aber auch gar keine eigenwillige Bankdirektorin, die sich entscheidet, „Soy de Cuba“ für eine kubanische Ware zu halten und das Proticket-Konto aus Angst vor Verhaftung zu sperren. Es ist ein Algorithmus, der die Entscheidungen trifft. Software scannt die Milliarden an Paypal-Transaktionen und filtert in gut und böse. Der Algorithmus weiß: Wenn ein Unternehmen in Deutschland immer wieder Überweisungen mit dem Schlachtruf „Soy de Cuba“ (Ich bin aus Kuba) erhält, ist es wahrscheinlich „trading with the enemy“. Wer Geld für Syrien spenden will, läuft bei dieser Big-Data-Genialität auch Gefahr, als terrorverdächtig eingestuft zu werden.
Wer in einem solchen Fall die Vertragsfreiheit schützt, schützt die binäre Selektion durch einen Algorithmus. Der mag zwar rational agieren. Aber ist seine Entscheidung von selber Qualität wie die, an die Kant & Co. dachten, wenn sie den Schutz der Selbstbestimmung postulierten? Der Wille, die Willkür, das ist eben doch etwas anderes als die Vernunft. Vielleicht ist es doch richtig, wenn ein Entscheider mit Herz, Verstand und Staatsexamen in einem solchen Fall eingreift und Paypal die Kontosperrung untersagt. Handlungs- und Entscheidungsfreiheiten, die an Software delegiert und durch elektronische Pfadabhängigkeiten determiniert werden, bedürfen keines großen Schutzes. Im Gegenteil: Aufklärung – das ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten technologischen Unmündigkeit. Digitale Autonomie bedeutet, sich von den Fesseln des Code zu lösen.
Die Geschichte von dem kubanischen Bauernmädchen, das den Mario kriegt, bewegt die Menschen im Admiralspalast, weil sie sich abends in der Bar füreinander entscheiden. Hätte ein Elitepartner-Algorithmus die beiden zusammengeführt, wäre das eine ziemlich hüftsteife Angelegenheit gewesen.
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Paypal hat das Konto von Proticket dann gekündigt. Das ging unter Einhaltung der zweimonatigen Kündigungsfrist.
Alle Rechte am Text liegen beim Autor.
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Bernd war, wie ich, Bühnenarbeiter am Deutschen Theater. Er war auf der „rechten Seite“ und ich auf der „linken Seite“ eingeteilt, und obwohl wir bei den Auf-, Um- oder Abbauten nur selten in direkten Kontakt kamen, dauerte es nicht lange und wir saßen in unseren Pausen (und die können bei Bühnenarbeitern manchmal Stunden dauern) immer etwas abseits von den anderen, denn wir hatten durchaus andere Gesprächsthemen als unsere Kollegen an den Nachbartischen. Und bald (zuvor hatte ich noch erfahren, daß es Bernds Mutter Inge war, die Viktor Rosows „Unterwegs“ für das Deutsche Theater bearbeitet hatte, die Inszenierung von „Unterwegs“ war allerdings das Haßobjekt von uns Bühnenarbeitern, da deren Bühnenbild so gigantisch war, daß man mit dessen Aufbau spätestens 8 Uhr früh beginnen mußte und wir trotzdem unsere Schwierigkeiten hatten, bis zum Beginn der Vorstellung fertig zu werden ,und daß Bernds Vater Heiner Müller wäre, aber der Name sagte mir nicht viel, wahrscheinlich verwechselte ich ihn mit Arnim Müller, den ich bereits schon damals (immerhin!) furchtbar fand) waren wir beide so befreundet, daß wir nicht nur in den Pausen zusammen saßen, sondern ich ihn immer öfter an freien Tagen zu Hause in der Wohnung seiner Eltern da in der Kissingenstraße besuchte. Und da Bernds Zimmer das Zimmer war gleich rechts neben der Eingangstür der Wohnung, war es meist Bernd, der mich nach meinem Klingeln an der Wohnungstür empfing, passierte es nur selten, daß ich bei meinen Besuchen auch seinen Eltern Guten Tag sagen mußte. Daß man Bernds Eltern aber besser nicht mit Arnim Müller verwechseln sollte, dämmerte mir dann doch allmählich, je öfter mir Bernd in unserem Aufenthaltsraum aus Büchern vorlas (oder mir gestattete, in diese Bücher einen Blick hineinzuwerfen), die er der Bibliothek seiner Eltern entnommen hatte. Ziemlich genau erinnere ich mich noch, wie mir Bernd während einer „Iphigenie“-Vorstellung (wir warteten da in unseren Aufenthaltsraum auf das Ende des zweiten Aktes) Becketts „Glückliche Tage“ zum Lesen hinhielt und ich in dieser Pause fast den ganzen 1. Akt in mich „hineinschlang“. Da waren die Würfel gefallen. Und dann las mir Bernd einmal die erste Szene von „König Ubu“ vor. „O! Kannst Du mir das nicht einmal pumpen!“ “Ich weiß nicht, das gehört ja meinen Eltern“. Und eine Woche später war es dann soweit. Auch diesmal war es Bernd, der mich an der Wohnungstür empfing, aber da seine Eltern zu Hause waren, in der Küche saßen und die Küchentür weit offen stand, saßen wir in seinem Zimmer auf seiner Liege und warteten, warteten, bis endlich zu hören war, drüben in der Küche wird sich nun nicht mehr unterhalten, jetzt scheinen die beiden in ihr Zimmer zu verschwinden. Bernd ließ daraufhin noch einige Zeit vergehen, bevor er mit schnellen und grazilen Bewegungen losspurtete durch den Flur der Wohnung, hin zu diesem Bücherregal, in diesem Zimmer am Ende des Flurs, dessen Tür weit offen stand und das fast so hoch war wie dieses Zimmer. Und ohne suchen zu müssen, mit einer einzigen schnellen und gezielten Bewegung, zog er dann aus dem, was sich da in dem Bücherregal neben- und übereinanderstapelte, dieses dünne Heftchen, aus dem er mir vor Tagen vorgelesen hatte, und das er mir nun, der ihn da bereits an der Wohnungstür erwartete, ohne daß da noch ein weiteres Wort fiel, zuschob. Ich hatte es. Ich hatte es. Es war Alfred Jarrys „König Ubu“ in der Übersetzung von Paul Pörtner. Ein Bühnenmanuskript des Kiepenheuer & Witsch Verlages mit dem Eigentumsstempel der Bibliothek der „Möwe“. Es steht noch heute in meinem Bücherregal.
Alle Rechte am Text liegen beim Autor.
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Wundere sich einer über unseren Turnverein! Betrachte einer die mächtige Bewegung unserer Mitgliedschaft! Schätze einer die unermeßliche Anstrengung, wäge einer die Enttäuschung und die Errungenschaft unserer ehrwürdigen Vereinsgeschichte!
Wer von uns Turnern würde nicht beim Gedanken an vergangene Turnfeste von Wehmut ergriffen. Kaum daß ein Turnfest zu Ende gegangen ist, kaum daß die jüngeren Mitglieder aufzuräumen beginnen, kaum daß die Blaskapelle ihre Instrumente in die samtbezogenen Kästen zurückgelegt hat — und schon bilden sich kleine Grüppchen von Turnern und reden über das noch kaum Vergangene, als seien es diese verhaltenen Gespräche, wofür wir Turner unsere mühevollen Übungen einstudieren, als seien es nicht die ehrenvollen Pokale und Medaillen, sondern als sei es die Wehmut, die wir Turner eigentlich begehren.
Natürlich würden die meisten von uns Turnern widersprechen — schließlich stellt diese Behauptung die Dinge auf den Kopf. Verständnislos, ängstlich oder verärgert hielten die Turner, denen man derartiges ins Gesicht schriee (man müßte ja schreien — Ungewohntes verstehen wir Turner nur schwer), ihre Auszeichnungen in die Höhe oder verwiesen auf ihren Mitgliedsausweis, falls sie nicht zu den ausgezeichneten Turnern gehörten. Aber sehe sich einer an, wie manch ein Turner noch während einer besonders schweren Übung die Vorfreude auf die Wehmut zu genießen scheint oder höre einer, wie noch abends auf dem Nachhauseweg ein sogar unvollkommen gepfiffenes Turnerlied offenbar davon zeugt, daß jeder einzelne Turner auch das letzte Restchen von Wehmut so lange wie möglich auskostet.
Mag es die Wehmut sein, die uns zusammenbringt, die uns immer wieder die gleichen Lieder singen läßt — unsere Kraft liegt in der Unruhe. Selbstverständlich ist hier nicht die Unruhe gemeint, die eine Turnübung an sich schon darstellt. Wer wollte darin etwas Besonderes erkennen. Wenn man etwa an einem Spätsommerabend einen Mitturner in Gedanken versunken auf der gegenüberliegenden Straßenseite vorübergehen sieht, vorbei an den das Licht der untergehenden Sonne scheinbar verstärkt zurückwerfenden Schaufensterreihen, dann vermeint man auf dem Grund der gewöhnlichen Unruhe, die ja schon sein Herzschlag, sein Gehen usw. darstellen, eine durchaus ungewöhnliche Unruhe wahrzunehmen, wie sie einem früher vielleicht nie aufgefallen war. Über diese nur dem aufmerksamsten Auge erkennbare Unruhe bestehen viele interessante Vermutungen. Einige Mitglieder, berühmt als gute Kenner der Vereinsgeschichte, erklären die Unruhe mit den vereinsinternen Umwandlungsbestrebungen, deren Richtlinien durchaus nicht zu allen Zeiten unbedingt an den sich immer nur unwesentlich verändernden Vereinsgrundsätzen ausgerichtet waren. (Heutzutage z. B. erwägen kluge und ehrwürdige Mitglieder die Umwandlung unseres Turnvereins in einen Sparverein.) Zwar werden die Richtlinien einer Vereinsreform jeweils mit größter Sorgfalt aus den wenigen Paragraphen unserer Satzung hergeleitet, aber kaum ein ernsthaftes Vereinsmitglied hält es für möglich, daß die Richtlinien, die ja, um auch nur kleinste Veränderungen am täglichen Vereinsbetrieb zu bewirken, mit der bedingungslosen Konsequenz einer geometrischen Figur in die Unendlichkeit hineinstechen müssen, mit den schön geschwungenen Buchstaben unserer Satzung einmal zur Deckung gebracht werden könnten. Andere Mitglieder bezweifeln diesen Begründungsversuch und wollen in den Umwandlungsbestrebungen, die sie im Prinzip gutheißen, ganz im Gegenteil eine Folge oder Form (hier spalten sich die Vertreter dieser Ansicht in zwei Lager) der Unruhe erkennen. Ihre Gegner, oft kleine schmächtige Gestalten, die sich dennoch mit erstaunlichem Erfolg als Gewichtheber betätigen, halten dagegen, daß diese Behauptung die ursprüngliche Frage nur gewissermaßen übertöne, und daß nur sehr schwerhörige Turner darüber die Unruhe vergessen könnten, die gesunde Turner aber jederzeit sogar hinter Behauptungen, die doch zur Erklärung der Unruhe eigentlich gedacht sind, heraushören könnten. Eine dritte Gruppe — auch die schmächtigen Gewichtheber mag man hier hinzurechnen — bestreitet überhaupt den Unterschied zwischen Unruhe und Umwandlung. Damit entziehen sie aber — und darüber sind die Vertreter dieser Ansicht sich nicht immer im klaren — allen weiteren Fragen ihren Grund: „Wenn Unruhe und Umwandlung ein und dasselbe sind, kann nur der Vereinsaustritt den Blick auf die Turner und ihre Unruhe völlig freilegen —“, behaupten die scharfsinnigsten unter ihnen, „damit wären aber dem ausgetretenen Mitglied alle Trainingsplätze verschlossen und außerdem würde einem Abtrünnigen kein ernstzunehmender Turner glauben!“
Aufgrund übereinstimmender oder auch nur ähnlicher Beobachtungen zum Thema Unruhe hat man besondere Turnerriegen aufgestellt, die sich in Organisation und Auftreten von den anderen natürlich nicht wesentlich unterscheiden. Die Mitglieder dieser Riegen lassen die Erkenntnisse aus ihren Untersuchungen in ihre Turnübungen einfließen, die jedoch letztlich, wenn sie einmal zur Vorführung kommen, unter den vielen bunten, Aufsehen erregenden Ereignissen eines Turnfestes überhaupt nicht mehr auffallen oder gar in ihrer Besonderheit bemerkbar wären. Übrigens gibt es eine weitere Riege, die sich mit den Unterschieden zwischen den üblichen und den sportwissenschaftlichen Turnübungen beschäftigt. Aber all diese, bei genauerer Betrachtung unterscheidbaren Einzelleistungen sehen im Verlauf eines Turnfestes vollkommen einheitlich aus. Die Bewegungen der Turner schließen sich fest zu einer einzigen zusammen und die Lieder, die nach den Turnfesten an den langen Biertischen angestimmt werden, scheinen das Zuendegehen eines einzigen Ganzen zu beklagen, obwohl natürlich die Vorbereitungen für das nächste Turnfest schon längst begonnen haben.
Die Turnübungen unserer besten Mitglieder sind berühmt, über manche erzählt man sich wahre Wunder. Einige werden immer wieder nachgeturnt und schon mit den kleinen Turnern in vereinfachter Fassung einstudiert. Eine gute Turnübung hat sozusagen etwas künstlerisches und die Leichtigkeit einer gelungenen Übung überspielt nicht nur die Anstrengung der langen Trainingsstunden, sondern sie läßt in der Tat oft sogar vergessen, daß es sich um eine rein sportliche Leistung handelt und daß es nur wenige einfache Grundbewegungen sind, die den Ablauf jeder Übung bestimmen. So gibt es bis auf wenige zweifelhafte Ausnahmen keine Übung, die nicht auf die „Riesenwelle“ oder das „gerade Gehen“ zurückginge. Man nimmt an, daß in früheren Zeiten die für unsere heutigen Begriffe primitiven Übungen diese oder ähnlich einfache Namen trugen und auch wirklich nicht mehr als die im Namen jeweils bezeichnete Bewegung vorführten, diese jedoch — so erzählt man — in ergreifender Schlichtheit. Aus den Anfängen unserer Vereinsgeschichte ist aber nur so weniges erhalten (rührend altmodisches Turngerät und einige Kassenbücher vom Bierausschank), daß sich alle Vermutungen über die frühesten Turnfeste im Dunkel der Vergangenheit verlieren. Für den heutigen Turner muß die Vorstellung allerdings fast etwas Komisches an sich haben, daß noch unsere modernen Turnübungen mit ihren weitausschwingenden, manchmal dichterischen Namen, deren beste die zuschauenden Turner bisweilen in Begeisterung wie von einer einzigen, gewaltigen Hand nach oben gezogen von ihren Plätzen auffliegen lassen, im Grunde aus nichts anderem als dem gewöhnlichen Gehen bzw. einfachen Purzelbäumen bestehen sollen. Einige Übungen waren so erfolgreich, daß sie allmählich zum festen Bestandteil eines jeden Turnfestes wurden und ihre Vorführung nun den Rahmen für die Versuche der Jungturner bildet. Mit einer Übung kann sich ein Turner durchaus ein ganzes Leben lang beschäftigen, wenn er als Jungturner seine Fähigkeiten unter Beweis gestellt hat und für diese Laufbahn ausgewählt wurde.
Und so sind einige unserer berühmtesten Turner mit ihren Übungen alt geworden. Jedesmal wieder gehört es zu den bewegendsten Augenblicken im Ablauf eines Turnfestes, wenn die beiden greisen Turner Hans und Paul die Turnhalle betreten, um eine Übung vorzuführen, die bei uns Turnern seit der Frühzeit des Vereinswesens unter dem Namen „Der Kampf der Alten“ bekannt ist: Mit kleinen Greisenschritten, jeder zu beiden Seiten von je einem Jungturner gestützt, nähern sie sich dem Podest und erheben ihre Gesichter erst dann, wenn sie die Turnmatte schon betreten haben. Tausend Turneraugen suchen die ihrigen, doch Hans’ und Pauls Blicke ruhen unerreichbar in irgendeiner unerforschlichen Weite. Dann beginnen sie.
Alle Rechte am Text liegen beim Autor.
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◎李進文著
雨要下不下。我有時發獃
如墓碑。
打開四樓的門,就是長長的夏季,
燠悶而甜膩的五月──
太陽熱戀了誰,心都沒感覺。
我行走,一首蹩腳的詩;
路過市場時望一眼賣花攤販的康乃馨
黃的紅的粉紅的,奇怪沒白色?
不好不壞的蔬果、肉品以及雜貨
擺在日復一日的生活。
我路過麵包店,
瞥見快樂的蛋糕有愛心圖案、
奶油蕾絲花邊,標籤都說被預購了。
我路過公園看見年輕的媽媽微笑扶著小孩
跟樹影盪呀盪鞦韆。我悶悶的
繼續路過商店,
店家都推出母親節大特惠,
不能打折的似乎只有歲月。
昨夜,我做了個夢──
夢見樓下市場有一攤魚販是妳,
妳說話有夠力,跟客人講笑詼;
我問妳怎樣到了台北攏嘸佮我聯絡?
妳好像沒聽見,
只深情望向一旁趴著睡的小男孩,
手一刻也沒停地俐落刮除虱目魚鱗;
妳模樣尚年輕,
銀鱗歡喜亂跳跳上手臂跳上黑髮咬住昔日
昔日辛勞的時光。
我繞過大半個民生社區踅回市場,仔細
巡過每一個攤位想要確認夢境。
氣候悶我的中年直到汗流浹背……
回家吧!
打開公寓兩個孩子已經長大跟同學外出,
妻到公司加班了;
客廳突然變得好空曠,恍神之間時光再次
倒退──
看見妳已經老了此刻靠在舊沙發瞌睡,
電視兀自唱著歌仔戲又哭又笑地演完自己。
我關門時不小心碰一聲,妳就消失了,
像長夏遙遠的雲。
我獃坐簇新的沙發彷彿有妳的餘溫,
想妳總在正午賣完魚貨從台南搭24路公車
趕回家煮飯,洗衣,再到魚鬆工廠剝魚,
我從未特別留意
妳什麼時候歇困?妳都何時呷飯?
只記得父親喝完他的米酒打赤膊
躺在磨石子地板呼呼大睡。
電風扇了無生趣地翻閱門口的日曆──
民國一百年/辛卯/肖兔(而妳屬雞)
上頭五月份主圖是火紅的荔枝,
有三四顆是剝開的,
像大顆的淚滴。
雨依舊要下不下。像胸口一樣悶。
懊惱地想起燒給妳的物件有沒有雨傘?
都過了兩個五月的第二個禮拜天,
妳離我忽近忽遠。
憋太久終於下雨了……梅雨也該來了吧,
老覺得妳離開後一直都是旱季
Regen hängt in der Luft ohne zu fallen. Manchmal starre ich ins Leere
wie ein Grabstein.
Öffne die Tür im 3. Stock,
dahinter ein langer, langer Sommer,
drückend schwüler, stickig-süßer Mai –
In wen die Sonne so verliebt ist,
kann ich beim besten Willen nicht sagen.
Ich laufe, ein hinkendes Gedicht;
Beim Markt werfe ich einen Blick auf die Nelken im Blumenladen.
Gelbe, rote, pinke – komisch, warum keine weißen?
Obst, weder besonders gut noch besonders schlecht,
Fleischprodukte und Gebrauchswaren
ausgebreitet im immergleichen Alltag.
Beim Konditor schiele ich auf fröhliche Törtchen mit Herzchen drauf
und Rüschen aus Sahne, alle bereits mit einem „verkauft“ -Schildchen versehen.
Im Park sehe ich junge Mütter, die lachend die Gehversuche ihrer Kinder stützen
oder im Schatten der Bäume Schaukeln anschubsen. Rastlos
laufe ich weiter vorbei an Geschäften,
die allesamt mit Muttertagsrabatten locken.
Einzig Lebenszeit bekommt man nur zum vollen Preis.
Gestern Nacht hatte ich einen Traum –
du warst eine Fischverkäuferin unten auf dem Markt,
mit lauter Stimme schäkertest du mit deinen Kunden;
ich fragte, warum du dich nicht gemeldet hast, obwohl du in Taipeh warst?
Du schienst mich nicht zu hören,
schautest nur liebevoll auf den kleinen Jungen, der neben dir auf dem Bauch liegend
schlief,
während deine flinken Hände weiter einen Milchfisch schuppten.
Du sahst noch jung aus,
die silbrigen Schuppen sprangen fröhlich deine Arme hoch in dein tiefschwarzes
Haar,
verbissen sich in vergangene Zeiten,
Zeiten von Entbehrung und harter Arbeit.
Einmal fast herum ums Minsheng-Viertel kehre ich zum Markt zurück,
schaue mir jeden Stand genau an, um die Traumszene zu prüfen.
Das Klima drückt auf meine mittleren Jahre bis mir der Schweiß den Rücken runter
rinnt ...
Zurück nach Hause!
Ich öffne die Tür, beide Kinder schon groß und mit Freunden unterwegs,
die Frau in der Firma, macht Überstunden.
Das Wohnzimmer ist mit einem Mal weit und leer, mein Geist schweift ab
einmal mehr zurück in der Zeit –
Ich sehe dich, schon in die Jahre gekommen, dösend auf dem alten Sofa sitzen,
der Fernseher plärrt vor sich hin, das Lachen und Weinen einer Taiwan-Oper, der
niemand zuschaut.
Unachtsam lasse ich die Wohnungstür laut ins Schloss fallen.
Du verschwindest,
wie die fernen Wolken eines langen Sommers.
Regungslos sitze ich auf dem brandneuen Sofa, als könne ich dort deiner Wärme
nachspüren,
denke daran, wie du mittags vom Fischeverkaufen mit dem 24er Bus aus Tainan
nach Hause eiltest
um zu kochen und zu waschen und dann in die Fischmehlfabrik zu fahren und Fische
zu pellen.
Ich habe nie darauf geachtet –
wann hast du dich eigentlich mal ausgeruht? Wann hast du selbst etwas gegessen?
Erinnere mich nur an Vater, wie er nach seinem Reisschnaps
mit nacktem Oberkörper schnarchend auf dem glatten Steinboden liegt.
Der Ventilator blättert lustlos durch den Wandkalender neben der Tür –
Das einhundertste Jahr der Republik / Jahr des Metall-Hasen im Mondkalender (Du
bist im Jahr des Hahns geboren)
Das Bild für den Mai ist ein Bündel feuerroter Litschis,
drei oder vier davon sind geschält,
sehen aus wie übergroße Tränen.
Der Regen hängt nach wie vor in der Luft und will nicht fallen. Drückend wie meine
Stimmung.
Unruhig frage ich mich, ob unter den Papiergaben, die wir dir als Brandopfer
darbrachten, auch ein Regenschirm war?
Der erste Sonntag im Mai ist zum zweiten Mal vorbei,
du bist mir mal nah und mal weit.
Zu lange eingehalten, endlich fließt Regen ... Der Monsun müsste langsam kommen.
Seit du von uns gegangen bist, so kommt es mir vor, war durchgehend Trockenzeit.
Deutsch von Johannes Fiederling
Alle Rechte am Text liegen beim Autor.
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In der Gegenwart digitaler Kulturen gibt es nur unvollständige Perspektiven, weil niemand dieser Gegenwart so nah sein kann, dass sie als ganzes Bild erscheint. Deshalb sind alle Diagnosen oder gar Prognosen unzuverlässig – auch die Diagnose einer möglichen Krise.
Was ich in dieser beschränkten Perspektive zu beobachten glaube ist die zunehmende Bedeutung von Mikroentscheidungen. Damit meine ich all die kleinen, im Einzelnen kaum bedeutsamen Entscheidungen, die anhand von Protokollen und Algorithmen getroffen werden, damit Datenpakete, aber auch Postpakete und Schiffscontainer ihr Ziel erreichen – und darüber hinaus eben auch Menschen, die in diese logistischen Prozesse eingespeist werden. Diese Mikroentscheidungen bilden einen Kern der digitalen Kulturen, in denen wir leben. Sie umfassen die Reihenfolge, die Geschwindigkeit, die Priorität, die Adressierung und die Richtung, in der etwas an einem Knoten im Netz weitergeleitet wird. Diese Entscheidungen betreffen, wer mit wem verbunden und wer von wem getrennt ist, also auch, wer Zugang zu welchen Informationen hat und wer nicht, vor allem aber – und dies ist in der momentanen Migationsphase besonders relevant – wer sich wo aufhalten darf und wer nicht. Diese Entscheidungen umfassen auch, wie soziale Verbindungen hergestellt und wie Menschen im Raum verteilt werden. Zunehmend werden sie von Computern für Computer getroffen.
Darin liegt meines Erachtens eines der Momente des epochalen technologischen Wandels, dem wir uns gegenübersehen. Ihr Anwendungsfeld reicht von der Übertragung digitaler Daten mittels Packet Switching über Trading Algorithmen an der Börse bis hin zu den Location-based Services sogenannter Smart Cities, die sich logistisch gesehen gar nicht so sehr von den technischen Instrumenten unterscheiden, mit denen Flüchtlingsbewegungen kontrolliert werden – und mit der Robotik und dem Internet der Dinge wird es sich in Zukunft noch weiter ausdehnen.
Es handelt sich dabei um Entscheidungsprozesse, die so schnell und in so großer Menge ablaufen, dass sie die Kapazitäten des Menschen bei weitem überschreiten und nur noch von Protokollen und Algorithmen geleistet werden können. Dennoch sollten wir auf das hilfreiche Instrument der Kontraintuition setzen und von Entscheidungen sprechen, obwohl Menschen im Akt der Mikroentscheidung keine Rolle mehr spielen.
Auf diesem vermeintlich an eine menschliche Instanz gebundenen Konzept zu beharren, ist insofern wichtig, als nur so gewährleistet ist, dass die politische Dimension dieser Prozesse im Fokus bleibt. Sie als unbewusste, vollautomatische Ausführung einer vorab von Menschen getroffenen Entscheidung zu verstehen, also als allenfalls sekundäre Stellvertretung einer übergeordneten Instanz, als Ausführung vorab gegebener Befehle, birgt die Gefahr in sich, dass man ihre politische Tragweite aus dem Blick verliert. Doch ist ebenso klar, dass Protokolle, Standards und Algorithmen weiterhin von Menschen geschaffen werden, dass Institutionen über sie entscheiden, und dafür sind oft lange und zähe Verhandlungen nötig. Institutionen wie die International Telecommunications Union oder die eher selbstorganisierte Erstellung von Requests for Comments, die Protokolle für das Internet ausarbeiten, aber auch die Electronic Frontier Foundation oder der Chaos Computer Club spielen heute eine größere institutionelle Rolle als bisher.
Die Brisanz dieser Mikroentscheidungen wird daran deutlich, dass zwei zentrale Diskussionsfelder der letzten – und sicher auch der nächsten – Jahre zutiefst mit ihnen verbunden sind: die Debatte um Netzneutralität auf der einen und die von Edward Snowden offengelegte Dimension der Überwachung auf der anderen Seite. In beiden Fällen stellen Mikroentscheidungen den Ansatzpunkt dar: Netzneutralität bedeutet nichts anderes als die nachvollziehbare Neutralität dieser Mikroentscheidungen, die an den Internetknoten, die ein Datenpaket passiert, notwendigerweise gefällt werden müssen. Genau hier, am Ort und in der Zeit dieser Mikroentscheidungen, setzen auch die Überwachungsmaßnahmen der Geheimdienste an. Es ist also, denke ich, nicht übertrieben, wenn man die Politik der Mikroentscheidungen als Herausforderung ansieht, an der wir entscheiden können, wie wir in digitalen Kulturen leben wollen. Und in dieser Dimension betreffen sie eben auch den logistischen Umgang mit Flüchtlingsbewegungen.
Mikroentscheidungen werden gegenwärtig für uns alle bedeutsam und mächtig. Neben der eben genannten, ganz konkreten politischen Ebene bringen sie eine De-Zentrierung des Menschen als Entscheidungsträger mit sich. Dass menschliche Entscheider auf dieser mikrozeitlichen Ebene keine Rolle mehr spielen, erfordert ein Umdenken und eine Neubestimmung unserer eigenen Position. Ansonsten besteht die Gefahr, dass wir an einem Bild des Menschen und der Technik festhalten, in dem sich beide feindlich gegenüberstehen. Mit einer solchen Frontstellung ist es kaum möglich, den aktuellen Herausforderungen zu begegnen. Man übersieht so die Brisanz, die in der Untrennbarkeit von Sozialität und Technik liegt. Man sollte also die Tragweite dieser Mikroentscheidungen – auch wenn sie im Einzelnen eher unbedeutend erscheinen mögen – nicht unterschätzen: Sie bestimmen darüber, wer mit wem verbunden und wer von wem getrennt ist.
Nun kann man vermuten, dass eine Bürokratie auf diese Abstraktionsleistung immer angewiesen ist, dass in jeder Bürokratie derartige Entscheidungen nach vorab festgelegten Protokollen zwar von Menschen getroffen werden, diese aber hinter das Regelwerk der Entscheidung zurücktreten. Dies betrifft uns alle bei jedem Amtsbesuch, und insbesondere betrifft es heute Flüchtlinge, die mit unserer Bürokratie und der mit ihr verknüpften Logistik in Berührung kommen. Deshalb sollten wir uns fragen, was passiert, wenn aus solchen Entscheidungen Mikroentscheidungen werden. Das muss nicht zwangsläufig etwas schlechtes sein, denn diese Entscheidungen müssen getroffen werden – so wie es kein Internet gibt ohne Mikroentscheidungen an Netzwerkknoten, so gibt es keine Bürokratie ohne solche Prozesse. Entsprechend sollte es uns darum gehen, die Entscheidungen offen zu halten, ihrer Vorentscheidung etwas entgegenzuhalten.
Zunächst eine Einschränkung: Wenn wir uns in einer Gegenwart befinden, die so massiv von Strömen der Distribution umgekrempelt wird, dann ist es schwer, – theoretisch wie praktisch – einen Boden unter den Füßen zu behalten, um diese Bewegungen beobachten zu können. Sie schlicht zu affirmieren und mitzuschwimmen kann aber auch keine Lösung sein. Vielmehr sollte es uns zunächst darum gehen – zumindest sehe ich dies als meine Aufgabe als Medien- und Kulturwissenschaftler –, Begriffe und Konzepte zu erarbeiten, mit denen wir in angemessener Weise über diese Gegenwart sprechen können.
Wenn ich sagen soll, von welchen Bewegungen oder Distributionen ich mich am stärksten affiziert fühle, dann kann ich nur sagen: von allen. Ich glaube nicht, dass man die Daten- von den Warenströmen trennen kann, dass man die Verkehrsleitsysteme in smarten oder weniger smarten Städten von den Infrastrukturen der Verteilung digitaler Daten oder Schiffscontainer mit RFID-Chips und das Internet der Dinge von Migrationsströmen abtrennen sollte. Sie alle beruhen auf der gleichen technischen Verschiebung, die als Digitalisierung, Miniaturisierung und Mikrotemporalisierung die Grundlage digitaler Kulturen bildet – sie basieren auf Infrastrukturen der Distribution, die wir im Blick behalten sollten. Infrastrukturen wiederum gehören jemandem, sind keine neutralen Transportmittel und ihnen ist eine Biopolitik eingeschrieben – sie sorgen für die Verteilung von Menschen und Dingen im Raum.
Anstatt etwas Verlorenem nachzutrauern, sollte es uns darum gehen, unsere Gegenwart besser zu verstehen. Wenn von einem demokratischen Defizit gesprochen wird, steht dahinter womöglich die Angst vor einem Verlust einer privilegierten Stellung. Vielleicht sollten wir stattdessen darüber nachdenken, was Menschsein in digitalen Kulturen heißt. Mit Hannah Arendt gesprochen: Wie hat sich die Vita Activa, das Ideal eines Lebens in der Gemeinschaft und für die Gemeinschaft, die immer die Keimzelle von Politik bildet, in der letzten Dekade verändert? Was bedeutet heute die Involviertheit eines aktiven Menschen in die politischen Prozesse um ihn herum?
Anstatt also ein Defizit in diesen Belangen zu unterstellen, könnten wir vielmehr den vielbeschworenen „Einbruch der Dunkelheit“ auch ernstnehmen, indem wir fragen, wie sich Demokratie unter digitalen Bedingungen verändert. Demokratie, das sei angemerkt, unterscheidet sich von Diktaturen ja gerade dadurch, dass sie nicht perfekt ist. Vielleicht ist es gar nicht die schlechteste Lösung, in einer defizitären Demokratie zu leben – denn Defizite können wir verändern.
Wie gesagt, ich möchte dafür plädieren, auch Demokratie als etwas in Bewegung, in Veränderung zu verstehen, bewegt derzeit von den massiven Veränderungen, die mit digitalen Medien einhergehen und die viel zu lange ignoriert wurden. Auf der einen Seite gibt es eine intensive Auseinandersetzung mit Fragen des Urheberrechts, mit Persönlichkeitsrechten, mit dem Sozialen in sozialen Netzwerken. Doch was das alles für unser eigenes Selbstverständnis bedeutet, darüber wird meines Erachtens zu wenig nachgedacht: was bedeutet es für mich, wenn Maschinen mit Maschinen kommunizieren, wenn Computer über Computer entscheiden? Es geht nicht darum, dass ich dadurch verschwinde oder abgelöst werde, sondern einen neuen Ort, eine neue Selbstbeschreibung finden sollte.
Ich bin kein Politiker, sondern Wissenschaftler, deshalb tue ich mir naturgemäß schwer mit konkreten Handlungsempfehlungen. Was ich anbieten kann, sind Konzepte, Begriffe und vielleicht eine Beschreibungssprache, so partiell sie auch sein mag. Man sollte diese sehr abstrakte Ebene nicht einfach abtun: unsere Handlungsräume hängen auch von unserer Sprache und unseren Konzepten ab. Die Konzepte, mit denen wir digitale Netze beschreiben, betreffen spätestens seit dem Internet der Dinge nicht nur virtuelle Räume – all diese Technologien haben sehr reale Folgen, weil es um die Bewegung von Dingen, Daten und Menschen geht. Dies scheint mir die Kreuzung zu sein, an der Netz- und Migrationspolitik sich treffen.
Ich weiß nicht, ob es sinnvoll oder überhaupt möglich ist, den Staat als etwas zu verstehen, von dem wir uns lösen können, dass uns gleichsam feindlich ist. Auch ich bin entsetzt von den Defiziten unserer Demokratie, von NSU bis NSA, von TTIP bis LaGeSo, und möchte mich mit aller Macht dafür einsetzen, dass sich daran etwas ändert. Aber kann man deswegen autonom werden vom Staat, kann man einen demokratischen Staat verlassen, rein ideel, ohne einen anderen Staat zu betreten? Wir sollten uns für unsere Rechte (und Pflichten) einsetzen und uns gegen die Defizite der Demokratie wenden, sie anprangern und zu verbessern suchen. Eine perfekte Demokratie sollte das unerreichbare Ziel sein, weil Demokratie nie perfekt, sondern immer Aushandlungssache sein wird. Wer will schon in einem perfekten Staat leben, in dem nichts mehr diskutiert, ausgehandelt oder verändert werden kann?
Florian Sprenger ist Medienwissenschaftler, Autor und Fotograf, Juniorprofessor für Medien und Kulturwissenschaften an der Goethe-Universität Frankfurt. Der Beitrag basiert auf einem Interview, das die Redaktion der Berliner Gazette in Vorbereitung ihrer Jahreskonferenz TACIT FUTURES an der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz (27.-29.10.) geführt hat.
Alle Rechte am Text liegen beim Autor.
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I.
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Rintfleisch, König in Franken, dessen wegen ich in der Bibliothek saß, damals, unter den Rissen von Millionen Büchern, Etnografia Polska. Tidsskrift for kulturforskning. Journal of American Folklore. Melodie und Rhythmus, Friedrich Lotter: Die Judenverfolgung des ‚König Rintfleisch’ in Franken um 1298. Die endgültige Wende in den christlich-jüdischen Beziehungen im deutschen Reich des Mittelalters, 1988, und wie gut es tat, auf Bildschirme zu starren und auf die Bücherrücken und Buchstaben zu malen, auf Hände, auf Papier. Rintfleisch schweigt, Rintfleisch hält die Hand auf, dann legt er Feuer, Fleisch und Blut, und ich betrachte meine Hände, die Rintfleisch doch nur fragen wollen, ob er etwas weiß, denn, weißt du denn was, Majestät, machst du wieder Sinn, wollen sie fragen, meine weißen, deutschen, spätgeborenen Hände. Und was können die schon sagen, und was können die schreiben, schon, und was können sie versuchen: Dass man also versucht, zum Beispiel, das eine zu sagen, um das andere zu meinen, aber doch bloß das eine sagt, weil das eine schon gemeint gehört und das eine und das andere nichts miteinander zu tun haben, und dass man dann versucht und tastet ins Leere und Angst bekommt, doch, am Ende.
II.
Rintfleisch: Er ist ein großer Mann. Sicher hat er feste Oberarme, einen kurzen Nacken. Rintfleisch ist Metzger. Er wird wissen, wie er das Messer führt, das Beil. Vielleicht ist er empört, vielleicht ein Wüterich. Vielleicht sprang er eines Abends im Wirtshaus auf. Ist er ein gottesfürchtiger Mann? Hatte er Schulden? Ist Rintfleisch Zeuge, wie es über der Türschwelle flackert, wie das Jesulein jault? Rintfleisch blickt auf, an einem Sommernachmittag in Franken, schön vielleicht wie dieser. Wie er so dastand, zwischen den Schweinehälften, die er durchschlug, aufhing. Das Blut tropfte auf den schmutzigen Boden. Jeder Tropfen sagt Du. Und jede Pfütze: Jetzt. So könnte es gewesen sein.
Körper, darum geht es: Hier gibt es keine Zahnräder, die ineinander greifen, keine Arbeitsteilung, keine Hierarchie. Das Unvorstellbare, das wir uns eingeprägt haben, realer, absurder, vor dem Begreifen und gleichzeitig: das Wissen – ist hier obsolet. Und ebenso: Der Affekt, die Lust. Hier ist nur der Tod durch den Töter, Kopf um Kopf – Blicke in Augen und Schläge – es hat etwas beinahe Liebevolles, wie sich der Tod Zeit nimmt für jeden, wie sich die Männer jedem Körper widmen, sich ihm ganz hingeben, für einen Moment ganz, Körper um Körper, Körper, die Körper töten, sie strengen sich an, sie erschöpfen, ermüden, marschieren weiter, das heißt: Gehen am Tag 60, 70 Kilometer zu Fuß, und angekommen haben sie noch die Kraft und Leidenschaft, Körper zusammenzutreiben. Oftmals kommen ihnen die Menschen der Städte entgegen, haben bereits alle gesammelt, dann hält Rintfleisch nur noch die Hand auf, lässt rasten, legt Feuer.
Die Bürger der Stadt Uffenheim verteidigen die Juden, schreibt der Autor der Historiae Memorabiles. Als der König Rintfleisch mit dem Heer der Gottesfürchtigen vor den Mauern steht, lassen sie die Tore verschlossen. Die Armen aber führten ein Kreuz mit sich, daran in schönem glatten Holz der Gemarterte hing, das trugen sie vorweg auf ihren Zügen, auf dass ein jeder Christ sich bewegen ließe, sich der Juden zu entledigen, statt sie wie Herren und Müßiggänger zu dulden, wie es das geschriben recht sagt: Denn aus den Städten soll man die Müßiggänger vertreiben. Aber die Bürger der Stadt Uffenheim lachen über die abgerissene Meute des Metzgers. Ihre Tore bleiben dem König verwehrt. Ein Torwächter wirft voll Spott einen Steinbrocken auf das Ebenbild des Herrn. Es beginnt zu jammern und zu schwitzen. So oft die Träger auch den Schweiß von Christi Stirn wischen, stets scheint die Figur im tiefen Fieber, stetig dringen neue Tropfen aus dem toten Holz. Besorgt holen die Uffenheimer gegen den Willen ihrer Oberen das Kruzifix in ihre Kirche und schlagen alle Juden tot. Es kippt um, überall kippt es um: Die schöne, junge Jüdin wird verschont, weil sie sich taufen lassen wird und bringt dann über Nacht ihre Kinder um, zur Schande des Gottes der Christen, dessen Leib sie unter der Sohle ihrer schmutzigen Sandalen geklebt hat mit ihrer jüdischen Spucke. Sie überantwortet ihren Körper der Menge, schreibt der Dominikaner, Rintfleisch wird sie zum Markt führen und ihren schönen, jungen jüdischen Körper dahinmetzeln. Das Unabwendbare tritt ein, weil es das Unabwendbare ist, es gibt in dieser Erzählung zwar Handlungsspielraum, aber keinen alternativen Ausgang, in dieser Geschichte führt alles immer auf den Marktplatz und in den Schaft eines Messers, eines Schwertes, in eine Burg, an die ein Mensch Flammen legt oder an ein Haus, aus dem es kein Entkommen gibt, und Gott waltet und Gott lenkt und Gott straft. Es passiert jetzt, es passiert, es. Peter von Zittau: „Was auch immer es gewesen sein mag, ich weiß, dass die Erlaubnis Gottes für ein so großes Gemetzel vorlag. Jener König Rintfleisch hat Dir, jüdisches Volk, einen schlimmen Untergang bereitet. Dich lehnt er plötzlich ab und hat Dich gleichsam ausgetilgt. Dich hat nämlich Gott soeben verworfen. O Judaea leide, weil Du immer mit doppelter Anstrengung bedrückt wirst. Hier und an jedem Ort mögest Du gequält werden.“
Zwei Würzburger Juden sind entkommen. Ihre Häuser in Flammen, Teile ihres Umfeldes, so sie die jüdische Gemeinde als ihr Umfeld verstanden haben, sind tot, die Verträge, die sie schützen sollen: nichtig. Sie gelangen in die Wälder, dichte, fränkische, Buchen, Eichen, fliehen durchs Unterholz. Sie sind vorsichtig. Sie werden entdeckt. Ein Ritter steht vor ihnen, schreibt der Chronist Rudolph von Schlettstadt. Nichts schreibt er über die sengende Hitze jenes Julinachmittags, nichts über das Verengen der Augen, das panische Atmen, die Verzweiflung, die kocht, über die Kopfhaut kriecht, es nicht geschafft zu haben, obwohl man es doch schon geschafft hatte, nichts über die Kontemplation der Begleiter, die sich mit ihren Trinkschläuchen unter einen Baum zurückgezogen haben. Vielleicht, weil es sie nicht gibt. Vielleicht, weil es nur so war, bloß so: Zwei Juden flüchten, aber ein Ritter entdeckt sie zufällig. Den einen lässt er sofort verbrennen, in einem logischen Gedankengang vom Juden zum Feuer, vom Wald zum Brennholz. Dem anderen bietet er die Taufe an, der wird am Leben bleiben. Und wie das nicht weniger verstörend ist: Wie das Jüdisch-Seins getilgt ist im Moment der Taufe, wie irrelevant Biographeme und Körper sind. Die Taufe als wahrliches Ritual: Siehe, ich mache alles neu. Und doch: Der Ritter. Immer wieder der Ritter. Es gibt hier kein System, kein Programm, nur Menschen, die mit Menschen improvisieren über ein Skript, das nicht geschrieben ist. Noch nicht, vielleicht, oder niemals.
Er redet. Er sagt: „Ich hab’s aber gesehen.“ Sagt: „Wir können das auch einfach machen.“ Sagt: „Wer des Herrn ist, schließe sich mir an.“ Sagt: „Im Namen des Vaters, im Namen des Herrn, der mir Licht ist in finsterer Nacht, im Namen des Sohnes, den sie ans Kreuz genagelt haben, den sie wieder ans Kreuz genagelt haben, den sie gestern mit Messern traktieret, mit Zangen gezwicket, mit Nägeln durchbohret!“ Wahrscheinlich ist das nicht. Wie redet einer, der mit einer Truppe von von Sorge und Blutlust erfüllter Christen durch Ländereien zieht, so groß, dass er Tage brauchen wird, sie zu durchqueren, und von Stadt zu Stadt die zusammentreibt, die verdächtigt werden, eine Hostie in ihren Besitz gebracht, gemartert zu haben, irgendwo in einem fränkischen Dorf, das es nie gegeben hat, in dem aber ein Priester und ein bestechlicher Küster, eine aufmerksame Nachbarin und hinterhältiges Pack lebten, das die Juden zusammentreibt, die Jüdinnen, Kinder, denen das Judentum egal ist, ihnen Kehlen durchschneidet, Schädel einschlägt, sie an Pfähle bindet und verbrennt? Wer soll seine Stimme werden? Oder vielmehr: Wo ist sie hin verschwunden, als sein Körper aus der Geschichte verschwand? Die Stimmen der Bauern, die Stimmen der Bürger von Rothenburg und Würzburg, die, sich zu fein, Hand anzulegen, Geld zusammenlegen, dass der Metzger, die Bauern, die entlaufenen Landknechte, die Adligen, die für den Krieg zu feige sind, ihr Handwerk erledigen, ihres, das der Bürger von Rothenburg, Bürger von Würzburg, endlich ihre Stadt aufzuputzen, reine zu wischen: Ein einziges Jerusalem-Werden? Er sagt: „Wenn wir jetzt aufbrechen, sind wir morgen um diese Zeit in Nürnberg“. Aber er würde nicht sagen: aufbrechen. Seine Sätze hätten eine fremde Melodie. Ich kann ihn nicht verstehen. Seine Stimme ist Körper: Unergreifbar, fremdvertraut.
III.
Tine ist scheiße traurig. Tine weint. Tine braucht mehrere Anläufe, mich im Sitzen anzuschauen. Dann legt Tine sich wieder hin, zieht sich, während wir reden, wieder die Decke über den Kopf, strampelt mit den Füßen, ihre Stimme wird dann wie die Stimme von kleinen Mädchen im Kindergarten. Tine schraubt ihre Stimme in Höhen, die fassungslos wahnsinnig sind, aber das muss ja auch sein, Tine ist schließlich jetzt eingestellt, viel näher an den völligen Nullpol des Geistes kann man doch gar nicht mehr fallen. Und ihre Pillen sind nicht einmal bunt, liegen da, blau und weiß am Morgen, weiß und weiß jeweils mittags und abends, und vor dem Schlafengehen, nach getaner Tat und weil sie es so zu lieben hat, Tine, Tine, Tine in Rockland, eine blaue. Jetzt muss sie Wüstenrot-Füchse mit der Laubsäge ausschneiden, als würde es nicht genügen, dem Kapitalismus mal schön die Fresse zu polieren, damit es ihr wieder besser ginge – aber sicher. Ich schüttle den Kopf und kann damit nicht mehr aufhören, schütteln und schütteln, und immer schneller, bis mir schlecht ist, auf eine so schlechte Art schlecht, böse, klebeschnüffelschlecht.
Was soll ich von den Asphaltpfützen meiner Kindheit erzählen, vom Nachglühen der Ziegelsteine und Zecken im Ginster, vom Weitspringen von Schaukeln? So wird es immer sein, so wird immer unsere Kindheit gewesen sein, unsere erbärmliche Mittneunzigerexistenz, aufgekratzt, chemikalisch, unsere Sommer, unterbrochen von den Ohrfeigen meiner Mutter, der panischen Verzerrtheit ihres Gesichts, die mich trifft und trifft, heiß ins Ohr atmet, an den Schultern packt, bis auch ich mein Gesicht verzerre, die Sehnen des Halses anschwellen lasse, die Nase krümme, die Lippe nach unten presse, die Stirn in Falten stemme, und nicht mehr rede, bloß ein langsam-unterirdisches Chal-Chal herauspresse, dramatisch wie das Ungeheuer eines B-Movies, bis ich meinen Godzilla auf mich einprügeln lasse, jeder Schlag ihre Nähe unter den Sommern meiner Kindheit, jeder Schlag Überraschungsei und Klinsmann. Es zittert dann in meinem Bauch, noch immer zittert es im Irgendwo meines Kopfes. Ich höre das Geheul meiner Generation, die Gedämpften, die Müden, Großer Gesang der Depressiven. Ich frage mich, wo unser Sepia hin verschwunden ist, dass wir uns heute nur immer den Kopf halten können, uns zusammenziehen, Knie an Brust, Stirn an Knie abwarten. Ich zittere. Schläge, vielleicht keine Schläge, wer kann das schon sagen. Es ist zu spät dafür.
Und meine Großmutter, die ich nicht kannte, die in ihrem Zimmer lag und schrie und seufzte und starb dann, irgendwann, die den Arm nicht mehr streckte, sicher, und von nichts wusste, verschütt gegangen, Körper der Geschichte, Massengrab, krank, schon immer, und ich mach auch nicht mehr soviel außer Pillen und Pulver und Papier, jetzt, alles, mehr, mehr, als hätte ich sonst nichts mehr, was ich tun könnte, auf der Welt, und es kommt nicht. Unten noch und draußen sehe ich mich um und sehe das Küchenmesser in der Schublade und den Hammer unter dem Schrank, aber wenn ich dann drin bin und drauf, ist alles weg, es kommt nicht, nicht das Bild, dieses nicht, und wo ist es denn hin, das Bild, meine Großmutter, die den Arm streckt, wohin sind deine Bilder verschwunden, dein graues Haar, Margarete, unmetaphorische Margarete, meine Oma Marga, das einmal von einem ganz und gar unmetaphorischen Braun war und dicht, deine Hämmer und Messer und Äxte, wo sind sie hin, wenn ich sie berühren will und dich, irgendwie doch dich, und muss ich das Messer dann und muss ich dafür die Axt gar, und wenn ich dann hinaus rutsche wieder, kommt es zurück, Bilder von Bildern, aber darum geht es doch gar nicht, denke ich, ist doch vertauscht, was sichtbar und unsichtbar ist, als wäre, was ich nicht weiß, dort immer ganz vorne versteckt, und dann ist da nichts, nichts, nichts, es dringt und dringt nicht durch, ein unrettbares Nichts, bar jeder Gnade.
Meine Tage rauf und runter, meine Großmutter, meine Mutter, die Sehnen meines Halses, doch wieder, immer wieder. Irgendwann kamen dann Susanna und Wiebke und haben diesen Text gerettet, immerhin, während ich nur dasaß und meine Finger in Unordnung brachte und starrte und ordnete, meine Finger, wie man die Bücher einer Bibliothek zurückstellt, VG U 880, VG U 880.1, VG U 882.
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Steffen Greiner schreibt für DIE EPILOG.
Alle Rechte am Text liegen beim Autor.
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Unsere Imagination entfaltet sich nicht im Stillstand. Nehmen wir die ersten Schritte eines Kleinkindes: Sie sind kein physiologisches Zucken oder irgendeine automatische Reaktion. Vielmehr handelt es sich um einen komplexen Vorgang, bei dem das Kind Erinnerungen abrufen und vorausschauen muss. Diese Vorstellungskraft muss es in Verbindung bringen mit der Bewegung des Körpers – eine unschlagbare neurologische und physiologische Leistung des Embodiments.
Die Vorstellungskraft des Kindes nimmt Gestalt an, während es sich bewegt, lernt und fühlt. Ein Prozess, der nicht von statten gehen würde, ohne die Anwesenheit von betreuenden Personen, nennen wir sie Pfleger, sprich: care giver. Diese Menschen betreuen das Kind, beschützen es und trösten es, wenn es fällt. Sie bieten Unterstützung, damit es lernt, sich auf verschiedene Arten zu bewegen – wieder und immer wieder. Wer selbst einmal ein Kind beim Laufen lernen begleitet hat, weiß auch, dass man das Kind hochhält, damit es sich vorstellen kann, wie es wäre, zu laufen.
Imagination ist also von Anfang an in Bewegung, sie ist körperlich und sie ist eine kollektive Anstrengung, in die Pfleger involviert sind. Bewegung ist die Realisierung von Vorstellungskraft, während Imagination selbst ein Bewegungsvorgang ist. Daraus folgere ich: Wenn die Imagination nicht immer schon körperlich und kollektiv ist, sondern auch in permanenter Bewegung, dann ist die Kontrolle dieser Bewegung der Schlüssel dazu, Vorstellung zu modellieren.
Die Art und Weise, wie die Bewegung von Körpern definiert, ausgestaltet und kontrolliert wird, prägt unsere Imagination. Gleichzeitig hängen Bewegungen von der Imagination ab. Toni Morrisons phänomenales Buch „Im Dunkeln spielen: Weiße Kultur und literarische Imagination“ untersucht dieses Wechselverhältnis. Sie zeigt etwa, dass die US-amerikanische (und oftmals globale) kulturelle Vorstellungskraft mit dem transatlantischen Sklavenhandel und den Kulturen der schwarzen Versklavung in den USA zusammenhängt.
Eine Theorie der Imagination wird hier eng verzahnt mit einem System, das sowohl auf der Verschiebung und Verschleppung von Körpern (über den Atlantik hinweg) beruht, als auch auf der Kontrolle der Bewegung dieser Körper, um ihre Produktivität und ihre Reproduktionsfähigkeit auszubeuten. Es ist also kein Zufall, dass wir heute in einem Zeitalter der massenhaften Inhaftierung von Schwarzen in den USA leben. Und das auch andernorts, andere rassifizierte Minderheiten in den Knästen sitzen.
Soziologinnen wie Ruthie Gilmore und Angela Davis zeigen wiederum, dass die Industrien der rassifizierten Inhaftierung essentiell für den Erhalt des globalen Kapitalismus sind – ein Prozess, der sich auch in Europa beobachten lässt, wo Frontex und andere Agenturen massenhaft spekulatives Kapital generieren, indem sie die Bewegungen von Menschen kontrollieren.
Die Mobilitätsforscherin Angela Mitropoulos wiederum zeigt am Beispiel von privatisierten Gefängnisinseln für Geflüchtete vor Australiens Küsten, wie Überwachungslogistik, finanzielle Akkumulation und rassifizierte Kontrolle von Körpern funktionieren.
Diese Muster, wie der Literaturwissenschaftler Ian Baucom in seiner faszinierenden Geschichte „Specters of the Atlantic: Finance Capital, Slavery, and the Philosophy of History“ darstellt, reichen zurück bis zum transatlantischen Sklavenhandel. Hier wurden menschliche Körper nicht nur in Güter umgewandelt, sondern auch zu Spekulationsobjekten gemacht – “Erfindungen” der finanziellen Imagination, die nicht nur physisch bewegt wurden, sondern auch auf einer abstrakten Ebene.
An dieser Stelle ist es wichtig zu verstehen, dass dieses imaginative Kraftfeld der erzwungenen Bewegung nicht nur die Misere der Kolonialisierten ist – wie Aime Cesaire es beschreibt. Nein, die Imagination des Kolonisierers wird davon am meisten beeinflusst. Die Art und Weise, wie der Kolonisierer die Bewegungen des Anderen definiert, begrenzt und beherrscht, prägt maßgeblich seine eigene Vorstellungskraft.
Bringt uns diese Erkenntnis dazu, die vielfach gepriesene Geschichte der westlichen Moderne anders zu erzählen? Würden wir andere Vorstellungen von den Fabeln entwickeln, die eben diese Moderne prägen? – sei es die Idee vom souveränen Nationalstaat, von der freien Zirkulation des Kapitals oder der Rechtsstaatlichkeit. Diese Fabeln sind es, die bis heute die entsetzlichen Bewegungen des globalen Systems und die brutalen Systeme der globalen Bewegungen rechtfertigen.
Wir können auch die Arbeiten von Harsha Walia, Chandra Talpade Mohanty oder Sandro Mezzadra und Brett Neilson zu Rate ziehen. Sie zeigen detailliert, wie Grenzen, die vollkommen imaginierte Konstruktionen mit solch tödlicher Macht sind, funktionieren, um sowohl Bewegungen zu kontrollieren als auch die Imagination jener zu formen, die drinnen und draußen sind (oder, wie viele von uns heute “dazwischen”).
Ich glaube, dass Geld und Grenzen sowie die primären Technologien des Staats und des Kapitals – zumindest in ihren aktuellen hegemonialen Ausprägungen – hochentwickelte Schlachtschiffe der Imagination sind.
Ich denke hierbei an die Dialektik von Bewegung und das Land, auf dem ich lebe. Jahrtausende hieß dieses Land Mi’Kma’Ki, später wurde es von französischen Siedlern in Acadia umbenannt und noch einige Zeit später prägten die Briten die Bezeichnung Nova Scotia. Es gibt mir zu denken, wie wenig ich über die politische Vorstellungskraft der indigenen Mi’Kmaq im Hinblick auf Bewegungen weiß. Einiges darüber habe ich von Historikern wie Daniel Paul gelernt oder auch von Älteren, mit denen ich gesprochen habe. Ich möchte diese Zivilisation nicht romantisieren, doch eine Auseinandersetzung damit kann uns eine Menge lehren und uns zeigen, wie seltsam und schrecklich brutal unsere eigene Zivilisation geworden ist.
Die Zivilisation der Mi’Kmaq achtete sowohl die Solidarität der Gemeinschaft als auch die Autonomie des Einzelnen. Die Mi’Kmaq errichteten ihre Siedlungen an Wasserscheiden, es gab keine politischen Grenzen. Daher gab es eine große Fluidität der Einflussbereiche. Die Menschen zogen oft weiter, um die Vorteile der saisonalen Jagd, des Fischens und des Anbaus zu nutzen. Es gab Protokolle für den Fall, dass ein Reisender seine Gemeinschaft aus politischen oder persönlichen Gründen verließ – und archäologische Funde sowie mündliche Überlieferungen belegen, dass sich die indigende Bevölkerung Amerikas sehr viel bewegte und dabei große Distanzen überwand.
Außerdem verfügten und verfügen die Mi’Kmaq, wie viele andere indigene Gruppen auch, über hochentwickelte politische Prozesse, die die Aufnahme und den Schutz von Fremden regeln. Hierbei geht es nicht darum, die Bewegungen dieser Personen innerhalb des Territoriums zu kontrollieren, sondern darum, Verantwortung zu teilen. Die Verantwortung darüber, wie man sich um das Land kümmern muss, das man bewohnt. Wie der Politikwissenschaftler Glen Coulthard zeigt, geht dieses Konzept der Verantwortung viel weiter, als die brutal vereinfachten Vorstellungen von Besitz und Staatsbürgerschaft, die wir heute akzeptieren.
Diese Weltanschauung der Mi’Kmaq und anderer indigener Gruppen ist die Grundlage dafür, dass sie heute dafür eintreten, in Kanada und weltweit die Bewegungen des Kapitals anzuhalten. Dieser Versuch ist eine Form des Widerstands gegen die Zerstörung des “Lands” im Namen des Profits und richtet sich auch gegen die fortlaufende Kolonialisierung des indigenen Territoriums.
Tatsächlich sind diese beiden Ziele identisch. Highway-Blockaden, das Stilllegen von Pipelines, die Unterbrechung von Bahngleisen sowie Proteste in Stadtzentren und Shopping Malls sind kennzeichnend für diese Formen des Widerstands der Indigenen und Siedlern, die sich als ihre Verbündeten sehen. Man kann das als Versuch einer Intervention in die Bewegungen des Kapitals sehen und auch als einen Weg, sich der Matrix aus kolonialer Bewegungspolitik und artifiziellen Grenzkonstruktionen entgegenzustellen.
Entgegen meinen Versuchen, das Gegenteil zu erreichen, wird hier vermutlich dennoch zu einer Romantisierung von Vorstellungskraft beigetragen. In meiner Arbeit versuche ich herauszuarbeiten, dass Vorstellungskraft ein materielles Phänomen, tatsächlich eine Kraft ist. Sie ist etwas, das aus sozialer Kooperation und aus produktiven sowie reproduktiven Beziehungen heraus entsteht und auf diese Bereiche – also auf das politische und ökonomische System – zurückwirkt.
Was uns fehlt, ist ein Sinn für die Vorstellungskraft und ihre Krisen, die nicht nur aus spezifischen zeitlichen und örtlichen Kontexten gespeist wird, sondern sich aus den verschiedenen Formen von Bewegung ergibt.
Hier kommen wir also zu der Frage, wie eine Demokratisierung von Bewegung, beziehungsweise eine demokratische Bewegungskontrolle aussehen könnte. Für mich hat Demokratisierung wenig mit dem landäufigen Verständnis von Politik und genauso wenig mit Wahlen zu tun. Die Griechenlandkrise hat gezeigt, wer das Sagen hat: der globale Finanzkapitalismus. Insofern sehe ich es wie Rancière: Demokratie entsteht im Moment des Ergreifens. Konkret bedeutet das etwa: Jene, die Bewegungen demokratisieren, fordern durch ihre Handlungen implizit oder explizit eine Abschaffung der Grenzen.
Migranten demokratisieren Bewegung, wenn sie mit ihren Handlungen die Grenzen, wie sie allseits imaginiert werden, ablehnen. Hacker demokratisieren Bewegung, in dem sie aktiv jene Grenzen auflösen, die erschaffen wurden, um Wissen, Daten und Informationen zu monetarisieren. Jene, die versuchen Commons zu schaffen – ob innerhalb, jenseits von oder gegen den Kapitalismus – demokratisieren Bewegung, denn sie experimentieren mit neuen Möglichkeiten, wie wir uns zusammen bewegen können.
Die Demokratisierung von Bewegung entwickelt neue Formen der kollektiven Macht, die die alten Vorstellungen stören oder zerstören. Eine Gegenmacht, die darauf besteht, dass Zukunft mehr ist, als eine Aneinanderreihung von Risiken, die organisiert werden müssen. Dass Zukunft allerdings auch etwas gänzlich anderes ist, als gesellschaftliches Potenzial, das von Grenzen eingehegt werden kann, während die Welt im Chaos versinkt. Es ist die Bewegung der Vorstellungskraft, die ihre eigenen verkalkten Strukturen überwindet. Diese Kraft bezeichnet der Philosoph Cornelius Castoriadis als radikale Imagination. Für ihn ist die radikale Imagination eng verknüpft mit der Demokratiefrage – wobei Demokratie hier nicht als als politisches System verstanden wird, sondern als ein Set von Handlungen, ja, als ein Kampfgebiet.
Doch worum kämpfen? Sicherlich sollte der Kampf um die Abschaffung von Grenzen nicht unter dem Banner eines falsch verstandenen Universalismus geführt werden – wie auch Chandra Talpade Mohanty argumentiert. Wir können uns nicht einfach Weltbürger nennen und glauben, dass dann alles gut wird. Wir müssen uns selbst als situierte Wesen verstehen.
Mein kanadischer Pass macht einen riesigen Unterschied hinsichtlich meines materiellen Lebens, selbst wenn ich zum “Verräter” jener Nation werden sollte, die mich für sich als Bürger beansprucht und die mich zum Patrioten des Lebens und des Friedens, des Wissens, der Liebe und der Gerechtigkeit werden lässt (tatsächlich sollten wir uns alle diesen Werten verschreiben). Selbst dann gibt es für mich kein Außen des Finanz- und Grenzkapitalismus. Die Art und Weise, wie es uns erlaubt wird, uns in diesem System zu bewegen, hat einen Einfluss auf unsere Vorstellungskraft. Als heterosexueller, weißer Angehöriger der Mittelklasse, sprich, als cis-gender-Mann mit kanadischer Staatsbürgerschaft, ist meine Vorstellungskraft davon, was möglich und wichtig ist, extrem eingeschränkt, sogar wenn ich mich auf dieser Welt relativ frei bewegen darf.
Wenn wir uns also eine Demokratisierung der Bewegung vorstellen, was vielleicht, wie die eingangs erwähnte Angela Davis sagt, die größte Herausforderung unseres Jahrhunderts ist, müssen wir mit jenen beginnen und enden, die die Grenzen und das Finanzwesen am grausamsten erfahren. Jene, die sich durch ihre Handlungen und ihr bloßes Dasein weigern, wertlos gemacht zu werden, indem sie ihre Bewegung in die eigene Hand nehmen.
„Schlachtschiffe der Imagination“ wurde in Vorbereitung auf die Berliner-Gazette-Konferenz TACIT FUTURES, die im Oktober 2016 in der Volksbühne stattfinden wird, verfaßt. Der Beitrag ist auf Basis eines Interviews entstanden, das die Redaktion der Berliner Gazette mit Max Haiven führte. Eine ungekürzte Fassung ist bei openDemocracy im Original verfügbar.
Veranstaltungsempfehlung: Max Haiven zu Gast bei Guillaume Paoli in “Im Zentrum des Übels“, 3. Mai 2016.
Alle Rechte am Text liegen beim Autor.
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Differenziertes Denken ist unser selbstverständliches Ideal, aber es wird angesprochen meistens im Negativen und nur, um auf den Kopf des Vorredners draufzusteigen, die Tatsache ausnutzend, dass er nur eine Sache auf einmal sagen konnte. “So einfach ist das aber nicht,” leitet der Kopftreter seinen Beitrag ein und damit ist das Misstrauen installiert. Jetzt sind alle gewarnt, keiner wird wieder den Fehler des Vorredners begehen, anzunehmen, dass alle Beteiligten davon ausgehen, dass die Sache komplex ist, von der man einen Aspekt heraushebt. Dann fängt eine stumpfsinnige Absicherung an, wo man alles erwähnen muss, damit andere nicht glaube, man habe es nicht gewusst. Dennoch, differenziertes Denken ist natürlich eine gute Sache, auch wenn der Begriff andauernd im Mund von Arschlöchern zu finden ist.
In der Praxis steht man trotzdem oft vor geradezu binären Entscheidungen. Das ganze differenzierte Bedenken muss gekürzt werden, bis ein Ja oder Nein herauskommt. Man klingelt an der Tür vom Flüchtlingsheim oder nicht. Man geht oder man bleibt.
Das Binäre kommt natürlich nur vom Nein. Und die oszillierende Panik, die einem in diesen Entscheidungen aus dem Gefühl erwachsen kann, dass keine der beiden Entscheidungen richtig ist, die hektische Suche nach etwas Drittem, was einem nicht einfallen will, die Massenbohrungen des Zweifels in allen Gliedmaßen, sind auch eine farfallische Sinnestäuschung des Binären? Ist der Zweifel bloß eine körperliche Reaktion auf Codes, ein letztes Aufbäumen des organischen Lebewesens gegen die gütige Herrschaft von Sprache und Mathematik?
Mit irgendwelchen Tricks überwindet man die Hürde der Entscheidung. Vielleicht muss man wie ein hysterisches Pferd eine Zeit lang blind springen, um mit diesem Habit der Verweigerung zu brechen. Sobald man sich dann auf etwas einlässt, öffnet sich die Palette des differenzierten Handelns in dieser Wirklichkeit.
Andererseits wird aber gerade, wenn man drin ist, das differenzierte Urteil von der realen Tagesaktualität überschüttet, man ist nur noch am Strampeln und Kämpfen. Das war ja der gute Grund, sich rauszuhalten. Man ist aber jetzt in dieser Situation. Und noch furchtbarer, man beginnt, sich notwendigerweise damit zu identifizieren, weil man aus dem besteht, womit man seine Zeit verbringt. Das Nein wird zur Erinnerung, zum Portal für die nostalgischen Gedanken daran, dass man jetzt in diesem Augenblick etwas ganz anderes gemacht hätte. Es ist wohl wirklich dasselbe Nein, nur in einer anderen Situation, arbeitslos quasi, nur mehr reflektierend.
Bashô schreit: Mein Schritt teilt den Reisährenduft. Diese Teilung ist das Leben, man stört. Man stört immer. Wie ist man ein guter Gast, Telefongast, Skypist, Redner, Liebhaber, wie verwirklicht man die Störung anderer Psychen in so einem Vergnügen, dass es nicht reut? Das Baby in einem hat eine gewisse hedonistische, babyhafte Freude daran, da zu sein und Lärm zu machen. Wahrscheinlich hat deswegen das Geschrei, solange diese Unschuld herrscht, eine Art Wohlklang bei aller Scheußlichkeit. Bald vorbei, das Baby schnallt, was geht und wird zum bewussten Akteur in einem fiesen kleinen Spiel wo keine Äußerung ohne seine Wirkung existieren kann. Das verquickt sich mit dem ganzen Hin und Her der Liebe, ohne die man gar nicht weiß, wie man sich zum Stören motivieren soll. So bejaht man jede Anziehung aber es bleibt eine Sehnsucht danach, das nicht zu tun. Sie kann nur im Kontrast realisiert werden, erst wenn man müde ist von der Arbeit und dem Begehren des Tages, darf man ins Nicht eingehen. Ab dem Kippen des Schreis besteht die eigentliche Schönheit nur mehr im Moment, wo das Schreien aufhört. Der Moment des Einschlafens, des Befriedetwerdens, des Vergessens der Kränkung.
Und dann wieder aufwachen, immer wieder wie zum ersten Mal aufwachen und irgendwas wollen. Nicht haben wollen, tun wollen. Oder andere wollen.
Alle Rechte am Text liegen bei der Autorin.
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Die Politik der Befreiung ist der Kampf gegen die Verhältnisse, „in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“ (Marx). Seit dem ideologischen Sieg des Liberalismus nach 1989 wird dieser Kampf fast immer, ja, wie selbstverständlich, so verstanden, daß er sich gegen die Verletzungen von individuellen Rechten, von Rechten, die jemand hat, richtet. Der Kampf gegen die bestehenden Verhältnisse wird als ein Kampf für die Rechte geführt: Die Kritik an der europäischen Abschottungspolitik gegenüber den Kriegs- und Elendsflüchtlingen aus Afrika und Asien beruft sich auf die Menschenrechte, die einen Anspruch auf Schutz, Hilfe, Aufnahme, Versorgung usw. begründen. Die Kritik an der expandierenden Erhebung, Sammlung, Verwaltung und Weitergabe der Daten von Nutzern von Internetfirmen erfolgt im Namen der Grundrechte, zu denen das Recht gehört, selbst darüber zu entscheiden, was andere von mir wissen dürfen. Rechte sind die berechtigten Ansprüche, auf die sich der Einspruch gegen Unterdrückung und Mißachtung beruft: die „Trümpfe“ (Ronald Dworkin) im Spiel der Begründungen, in dem um die richtige Politik gestritten wird. Man kann zwar darüber streiten, ob bestimmte Verhältnisse die Menschen- oder Grundrechte verletzen. Aber wenn das einmal klar ist, hört der Streit auf. Rechte entscheiden die politischen Streitfragen.
Tatsächlich ist es natürlich anders: Man bestreitet nicht die Menschenrechte der Flüchtlinge, aber rechnet gegen sie die eigenen kulturellen und ökonomischen Werte auf (der Flüchtling ist zu anders, die Hilfe für ihn zu teuer). Man bestreitet nicht die Grundrechte der Internetnutzer, aber führt dagegen ins Feld, daß angeblich auch Unternehmen „Menschenrechte“ haben, die zu berücksichtigen sind (so die jüngste ideologische Waffe der Neoliberalen, deren Funktionsweise Wendy Brown untersucht hat). Wie Hannah Arendt geschrieben hat: Wer sich auf seine Menschenrechte berufen muß, weil ihm sonst nichts geblieben ist, wird rasch merken, daß er damit nicht weit kommt.
Arendt hat das aber nicht als eine Klage über die verbreitete Hartherzigkeit gemeint. Sondern als die Aufforderung darüber nachzudenken, wie die Rede von Rechten – von Rechten, die der eine hat und der andere verletzt – die Unveränderbarkeit der Verhältnisse mit hervorbringt, gegen die sie sich richtet. Denn die Berufung auf Rechte ist entpolitisierend.
Das ist ein alter Einwand gegen die Strategie der Menschenrechte, der meistens so verstanden wurde, daß wer Rechte sagt Natur meint. Rechte sind demnach „natürliche“ Rechte und das soll heißen, daß es eine Liste von basalen Bedürfnissen und Interessen gibt, die jeder Mensch von Natur aus hat und die daher auch unbedingt gesichert werden sollen. Die Rede von Menschenrechten, so lautet der Einwand dagegen, entzieht die Frage, was Menschen brauchen, ja, was der Mensch ist, der politischen Debatte. Aber das ist nicht so; gerade die Diskussion über Rechte – darüber, wer welche Rechte hat und haben soll – ist häufig gerade das Medium intensiver politischer Auseinandersetzungen.
Das Problem der Rechte liegt woanders. Es liegt darin, wie das soziale Verhältnis gedacht und geformt wird, wenn es als ein Verhältnis der Rechte verstanden wird. Es wird als ein äußerliches Verhältnis zwischen Individuen gedacht, die nichts teilen – außer der abstrakten Tatsache, daß sie „Menschen“ sind. Der andere als ein Subjekt mit Rechten wird nicht als einer gedacht, der, wie Marx merkwürdig sagt, ein „Anteil“ ist: ein Teil desselben Lebenszusammenhangs, in dem auch diejenigen, von denen er etwas will, Anteile sind. Rechte sind Ansprüche auf die Sicherung von Bedürfnissen und Interessen, die andere mir erfüllen müssen. Aber wie ich mit dem umgehe, worauf ich ein solches Recht habe, ist meine eigene Sache: Rechte sind „Eigenrechte“ (Roberto Esposito). Rechte verknüpfen uns daher nur äußerlich; sie verbinden, indem sie die miteinander Verbundenen gegeneinander isolieren.
Damit ist die Strategie der Rechte selbst Teil des Problems und nicht die Lösung. Den Flüchtling als ein Subjekt mit Rechten zu sehen, kann ihm helfen, weil er dadurch geschützt, versorgt, gepflegt, aufgenommen wird. Und was dann? Dann soll er für die Sicherung seiner Rechte mit Anpassung, mit Integration, zurückzahlen. Gleich nach den Rechten kommen die „Werte“, die der andere von uns übernehmen soll, um hier mitmachen zu dürfen. Das muß auch so sein, weil unser Verhältnis durch die Strategie der Rechte als ein äußerliches Fordern und Erfüllen definiert worden ist, in dem wir nichts teilen. Die Alternative dazu wäre, beide als Anteile desselben Zusammenhangs zu sehen und dann zu fragen, nicht welche Rechte der eine gegen den anderen hat, sondern welche Verteilung unter uns gerecht ist. Dann könnten wir unseren Zusammenhang politisch denken: als einen Zusammenhang, in dem wir gemeinsam stehen und den wir deshalb formen und bestimmen können.
Das gilt auch im Kampf gegen die digitale Überwachung durch die Internetkonzerne. Die Sprache der Rechte, die Sprache der Liberalen, beschreibt das Problem als Enteignung – meine Daten gehören mir – und fordert deshalb eine Stärkung der Eigenrechte der Nutzer. Aber vielleicht ist gar nicht Enteignung das Problem, sondern eine sich unsichtbar, aber umso nachhaltiger und gefährliche vollziehende Veränderung der Subjektform selbst. So haben es Evan Selinger und Brett Frischmann beschrieben: Die Nutzer von Internetmaschinen beginnen sich selbst wie diese zu verhalten; sie verlieren ihre Autonomie, ihre Fähigkeit der Selbstregierung (und nicht: ihr privates Eigentum). Dann aber müßte die Frage gestellt werden, was die Bedingungen dafür sind, ein Subjekt sein zu können, das sich selbst regiert. Der Liberalismus meint, dies durch Rechte, Rechte auf Eigenes, garantieren zu können. Die Gegenthese (die man sozialistisch nennen kann), lautet, daß wir frei nur als soziale Anteile sein können; sich selbst zu regieren ist nur politisch möglich. Der Kampf gegen die digitale Überwachung verlangt nicht den Schutz der Privatheit, sondern den Gewinn politischer Macht durch das Selbstverständnis als soziale Anteile.
Das ist wirklichkeitsfremd, denn tatsächlich stehen wir ja in gar keinem sozialen Zusammenhang, in dem wir gleichermaßen „Anteile“ sind. So ist unsere Gesellschaft der Selbsteigentümer und -unternehmer nicht. So leben wir nicht zusammen und so regieren wir uns nicht: nicht in unserem Land und nicht in Europa – und daher auch nicht mit den Flüchtlingen. Deshalb scheint die Strategie, die auf Menschenrechte setzt, immer noch das Beste, das wir haben. So denkt eine Linke, die die Erfahrung gemacht hat, daß nur noch sie willens und fähig ist, die politischen Ideale des bürgerlichen Liberalismus zu verteidigen (der sie stets anderen Interessen zu opfern bereit ist). Wenn die Liberalen nicht mehr an Menschenrechte glauben und für sie kämpfen, müssen das jetzt die Linken tun, obwohl sie doch die Form, die Prämissen und die Konsequenzen dieser Rechte kritisieren.
Gegen dieses Argument ist kaum etwas einzuwenden; außer vielleicht, daß für etwas Falsches einzustehen, weil sonst noch Schlimmeres droht, einen Preis hat: die Melancholie.
Alle Rechte am Text liegen beim Autor.
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Als meine Nummer aufleuchtete, betrat ich den Raum. Dort am Tisch saß eine Frau, rot gefärbt, ungefähr fünfzig. Sie hatte kurze Haare, eine runde Brille und forderte mich freundlich auf, mich zu setzen.
„In Ihrem Fragebogen geben Sie an, dass Sie sich oft niedergeschlagen fühlen, deprimiert. Das kommt hier im Zentrum oft vor. Ich werde Ihnen helfen, Ihre Beschwerden zu konkretisieren, und bei Bedarf überweisen wir Sie zwecks Therapie an einen Spezialisten. Das ist in Ihrer Situation ganz normal, und als Flüchtling ist diese Art psychologischer Unterstützung für Sie kostenlos.“
Ich nickte. Einerseits hatte ich ein schlechtes Gewissen, dass ich mein Häkchen falsch gesetzt hatte. Andererseits – warum nicht? Das war meine erste psychologische Beratung im Leben, und ich muss nicht mal etwas dafür bezahlen.
„Im Grunde habe ich dieses Kästchen, naja, ziemlich zufällig angekreuzt. Meine Depression ist nicht besonders schlimm.”
„Sie empfinden sie ständig, seit Sie in Finnland sind?”
„Ja, aber das ist mein normaler, gewohnter Zustand. Eher sowas wie Apathie.“
„Apathie ist ein Symptom für Depression. Ganz typisch für Flüchtlinge – Veränderung der Umgebung, Trennung von Familie und Freunden. Viele haben im Heimatland ernsthafte psychische Traumata erlebt, waren Verfolgung ausgesetzt. Haben Sie das Gefühl, dass Sie die alptraumhaften Erlebnisse, die Sie in Ihrem Land hinter sich gelassen haben, bis heute verfolgen?“
„Ein bisschen. Ich wurde kürzlich tatsächlich auf die Fahndungsliste von Interpol gesetzt. Aber unter Alpträumen leide ich nicht.“
„Waren Sie irgendwann Folter ausgesetzt, wurden Sie geschlagen? In dem Formular haben Sie angegeben, Sie hätten zahlreiche Gehirnerschütterungen und Kopfverletzungen erlitten.“
„Ja, auf diese Art habe ich mich früher amüsiert.“
An der Wand hängen Kalender mit Kinderfotos und Applikationen aus bunter Knete. Ist sie Oma? Nein, in Finnland wohl eher Mutter.
„Wir wissen, wie schwer es die Menschen in Russland haben. Hier sind Sie in Sicherheit. Sie können die Schwierigkeiten Ihres früheren Lebens hinter sich lassen.“
„Ja, danke. Ich würde gar nicht sagen, dass ich ein sehr schweres Leben hatte. Ich komme aus einer gut gestellten Familie, habe mein ganzes Leben in Moskau gelebt, hatte nie Geldsorgen. Ehrlich gesagt, habe ich Armut oder schwierige Lebensverhältnisse nie gesehen. Und dann war ich ja an der Uni.“
„Sie haben einen Hochschulabschluss?“
„Ja, in Sozialanthropologie. Kein sehr sinnvoller Abschluss.“
„Aber es ist wahrscheinlich sehr interessant. Warum haben Sie sich dafür entschieden?“
„Keine Ahnung, meine Oma wollte das. Sie hat gesagt, alle in meiner Familie hätten einen akademischen Grad, und ich solle das auch. Ich selbst wollte nach der Schule nach Tschetschenien, kämpfen.“
„Warum?“
„Na, einfach so, um nicht leben zu müssen. Ich habe damals viel Ernst Jünger gelesen.“
Kurze Pause.
„Warum wollten Sie nicht leben? Gab es in Ihrer Familie Fälle von Selbstmord oder Geisteskrankheiten?”
„Nein, Selbstmorde gab es keine. Meine Mutter war eine Zeitlang schizophren. Obwohl ich mir nicht ganz sicher bin. Vielleicht ist sie einfach vor lauter Armut verrückt geworden.”
„Aber Sie haben doch gesagt, dass Sie aus einer gut gestellten Familie kommen?”
Jetzt musste ich selbst kurz überlegen.
„Ich weiß bis heute eigentlich nicht, ob wir gut gestellt waren oder nicht. Meine Mutter ist durchgedreht, als das Institut, in dem sie gearbeitet hat, 1992 geschlossen wurde. Außerdem hat keiner meiner Verwandten jemals wirklich Geld verdient. Als meine Tante als Verkäuferin anfing, war das in der Familie ein Skandal. Alle anderen haben weiter für einen Hungerlohn in ihren Instituten gearbeitet. Auf der Straße ist natürlich niemand gelandet – alle hatten große sowjetische Wohnungen, Gelehrtenwohnungen. Wir haben einfach billigeres Zeug gegessen.”
Die Frau wendet mitfühlend ihren Blick von mir ab und schaut auf ihren Computerbildschirm.
„Nun werden Sie nicht mehr mit Mangel an gutem Essen und sonstiger Versorgung konfrontiert sein, Helsinki gewährt allen Flüchtlingen das Nötige. Fühlen Sie sich momentan ausreichend wohl, abgesehen von Ihrem psychischen Zustand?”
„Ja, durchaus. Aber offen gestanden habe ich nie so gelebt.”
„Unter solch angenehmen Bedingungen?”
„Nein, in einer so kleinen Stadt. Ich bin es gewohnt, im Stadtzentrum zu leben, in einer großen Wohnung, jeden Tag mit der Metro zu fahren, tausende Menschen zu sehen. Jeden Tag in eine Ausstellung, ein Konzert gehen zu können oder einfach die Boulevards entlangzuspazieren.“
„Natürlich, Sie sehnen sich nach Ihren Freunden und Bekannten.”
„Nein, eher im Gegenteil. Ich sehne mich nach der riesigen Stadt, in der jeder, den ich sehe, ein Unbekannter ist. Ich erwische mich dabei, dass ich mich manchmal in die einzige U-Bahn-Linie von Helsinki setze und einfach nur hin und her fahre …”
Wir lächeln beide.
„Sie haben gesagt, dass Sie sich in Ihrer Jugend oft geprügelt haben. Steht das in irgendeinem Zusammenhang mit Rassismus – in der Schule zum Beispiel?”
Ich hole tief Luft – ich werde mich nie an diese Frage gewöhnen.
„Wissen Sie, erst hier habe ich zum ersten Mal wirklich kapiert, dass ich nicht vollkommen weiß bin – und mein Vater Koreaner ist. Ich habe das, ganz ehrlich, nie gemerkt. In Moskau leben mehr als 15 Millionen Menschen, dort gibt es so viele unterschiedliche Nationalitäten, dass das normalerweise niemanden interessiert. Das Wissen um die Nationalität sagt nichts über deinen Gesprächspartner aus, am wenigsten über seine gesellschaftliche Stellung. Er kann alles Mögliche sein. Was solls – die letzten zehn Jahre war der stellvertretende Bürgermeister von Moskau ein Koreaner. Hier kommt es mir vor, als gäbe es überhaupt keine nicht-weißen Politiker. Nur in Finnland erkundigen sich bei mir Menschen, die ich nicht kenne, höflich, ob ich denn mit einem Computer umgehen könne oder ob ich mich in Geographie auskenne. Einmal haben mich in einem Laden zwei Kunden unabhängig voneinander gefragt, wo denn im Regal dies oder jenes Lebensmittel zu finden sei – ich war echt schockiert. Woher soll ich denn das wissen?!“
„Oh, das war sicher unangenehm!”
Wir schweigen eine Weile.
„Woher rührten dann Ihre Konflikte in Russland?”
„Schwer zu sagen. Wissen Sie, eigentlich sind die Russen nicht besonders aggressiv. Vielmehr zeichnet sie eine Art Passivität aus, Unterwürfigkeit. Na, vielleicht gilt das für alle Nationalitäten … Nehmen Sie die russischen Schriftsteller: Lew Tolstoi ist Pazifist, Dostojewski predigte über Kindertränen, dass sie durch nichts zu rechtfertigen seien. Besonders auch in meinem sozialen Umfeld, wo über die Moskauer Intelligenzija ein Witz kursiert – wenn man ihnen ins Gesicht schlägt, entschuldigen sie sich dafür: Oh, Entschuldigung. Als ich klein war, kam mir der Gedanke, dass das alles, diese ganze Weichheit und Kultiviertheit, Teil des Wahnsinns ist, der meine Mutter um den Verstand gebracht hat, und ich fing an, einen anderen, eigenen Weg zu suchen. Wissen Sie, im Feminismus gibt es so einen Ausdruck, empowerment. In meiner Aggressivität steckte damals vermutlich viel Weibliches …“
Ich glaube nicht, dass sie mich richtig verstanden hat.
„Wie verlief denn Ihre sexuelle Entwicklung? Waren Sie verheiratet? Haben Sie in Russland eine Freundin zurückgelassen?“
„Nein, natürlich nicht, ich hatte nie eine ernsthafte Beziehung. Ich habe diese Phase irgendwie verpasst, ich weiß selbst nicht, wie das passiert ist. In den Kreisen meiner Eltern lernte man Frauen normalerweise während der Promotion kennen, aber zu diesem Zeitpunkt hatte ich schon so einiges gesehen … hatte schon so viele Gehirnerschütterungen gehabt, dass Beziehungen mir irgendwie … langweilig vorkamen. Nicht aufregend genug.“
Ich habe das Gefühl, zum ersten Mal wirklich Interesse bei meiner Gesprächspartnerin geweckt zu haben.
„Möglicherweise leiden Sie unter Misogynie? So etwas kann in Familienverhältnissen begründet liegen.”
„Also eigentlich glaube ich das eher nicht. Ich hatte sogar immer mehr weibliche Freunde als männliche. Ich habe irgendwann einfach nur angefangen, Frauen mit anderen Augen zu sehen. Letztens hat mich zum Beispiel eine alte Freundin besucht. Sie hat einen sehr reichen Mann geheiratet, verkehrt jetzt mit ganz anderen Leuten. Sie war in Helsinki auf der Durchreise und lud mich zum Essen ein, auf ihre Rechnung. Sie kam in einem teuren Kleid, auf Pfennigabsätzen, aufwändig frisiert. Als ich sie so sah, musste ich daran denken, wie sie vor vielen Jahren einmal bei einer Aktion einen Vorschlaghammer unter ihrer Jacke hervorgezogen hat.“
„Wozu?“
Lange Pause. Das Gespräch lag in Schutt und Asche. Wir machten noch etwas Smalltalk, die Dame bot mir an, einen neuen Beratungstermin zu vereinbaren, ich lehnte höflich ab, sagte, ich wäre ziemlich beschäftigt. Meine Gesprächspartnerin hakte nicht nach. Nach Ablauf der angesetzten 45 Minuten zog sie ein Fazit:
„Trotz allem was Sie sagen, denke ich, Sie würden von einer Therapie durchaus profitieren. In erster Linie bereiten mir die suzidalen Motive in ihrer Geschichte Sorge. Ihre Aggression ist masochistischer Natur – und Sie haben mir immer noch nicht gesagt, warum Sie nicht leben wollen?“
„Sie haben Recht. Und es ist eine gute Frage, ich habe früher viel darüber nachgedacht. Andererseits meinen viele, dass die Lebensverneinung auch eine Art zu leben ist.“
Und dann erzählte ich ihr eine Geschichte. In meiner Kindheit war ich oft bei meiner Uroma auf dem Dorf. Sie hatte Enten und Hühner, und einmal brütete eine der Enten aus Versehen ein Hühnerei aus. Das Küken schlüpfte, und ich, der ich gerade Bücher von Konrad Lorenz las, beobachtete interessiert, wie es erwartungsgemäß in der Ente seine Mutter erkannte. Das war sehr drollig: Das Kleine lief ihr hinterher zum Fluss, versuchte ins Wasser zu gehen, kroch zum Schlafen unter ihren Flügel. Sogar sein Piepsen klang irgendwie merkwürdig. Als bei den Hühnern im Stall die anderen Hühnerküken schlüpften, erkannte es sie überhaupt nicht als seine Verwandten an: Es pickte und schlug nach ihnen, verschreckte sie mit seinem seltsamen Kreischen. Nach und nach verlor die Ente das Interesse an ihm, es huschte allein zwischen den gelben, fröhlichen Küken herum – im komischen Entengang, bucklig, aufgeplustert. Die Glucken sahen in ihm einen Feind und attackierten es wie die Geier – es war ständig blutverschmiert, und dann pickten sie ihm ein Auge aus. Ich war mir sicher, dass es nicht überleben würde, auch, weil es immer kränklich wirkte. Doch als unter den Küken eine echte Epidemie irgendeiner Hühnerkrankheit ausbrach und sie zu Dutzenden dahingerafft wurden, blieb dieses krüppelige Küken auf wundersame Weise heil und flitzte unbekümmert wie immer zwischen den kleinen Leichnamen umher. Dann verschwand es.
Ein paar Tage später brachte man mich zu anderen Verwandten, erst nach einer Woche kam ich zurück. Ich stieg schon an der Kreuzung aus dem Auto und sah vor unserem Haus das krüppelige Küken. Es stand auf dem Rasen und pickte geschäftig am toten Körper seines Artgenossen herum. Es wirkte noch kränklicher als sonst, aber an Appetit mangelte es ihm offenbar nicht. Je länger ich lebe, desto öfter kommt mir dieses Küken in den Sinn.
Aus dem Russischen von Friederike Meltendorf und Jennie Seitz
Gemeinschaftspublikation mit der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, siehe Ausgabe vom 27.3.2016, und Matthes & Seitz Berlin
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An alle Feministen-Kommunisten anlässlich und nicht anlässlich internationaler Kampf- und Feiertage: Köln ist eine ideologische Schlacht, zu der wir aufbrechen sollten! Eine Loveparade der Ideologiekritik, eine analytische Orgie, diese ist nur der Anfang, denn der Kölner Sexmob Komplex (KSMK) ist tatsächlich, wie überall zu hören ist ein Warnzeichen und spricht seine Wahrheiten und Gefahren aus. Nur dem Woher, Wer, Worin und Wohin dieser Gefahren liegt ein grobes Missverständnis zu Grunde. Die bedrohlichste Gefahr kommt nicht von Außen. Die bedrohlichste Gefahr, die Feministen und Linke derzeit erleben, besteht darin, von der Mobilmachung gegen den äußeren Feind mitgerissen zu werden und in der ersten Reihe der kulturchauvinistischen Armee als Kanonenfutter dienen zu müssen. Die Propaganda der Kriegsprofiteure, Nationalisten und Hard-Core-Ausbeuter funktioniert wie eh und je. Sie benutzen den konkreten Skandal, die vermeintliche Krise, den Ausnahmezustand, die menschlichen Opfer als Ablenkungsmanöver, der den Blick auf traditionelle Abziehbilder des Bösen verengt und von den systematischen Gründen der sich kontinuierlich global entfaltenden Gewalt abwendet. Das Epizentrum der wirklichen Gefahr bildet aber nicht das – griffsicher aus den Tiefen orientalistischer Phantasien hervorgeholte – Bild des lüsternden, islamistisch terrorisierenden, unmenschlichen Anderen. Das Epizentrum der Gefahr lauert in unserer eigenen ideologischen Verführbar- und Verwundbarkeit. „Teile und herrsche!“, lautet immer noch die wichtigste und effektivste Herrschaftsstrategie, mag sie in ihren Erscheinungsformen auch vielschichtiger geworden sein. Nicht nur werden wir untereinander getrennt, auch wird die Krise, die vermeintliche Ausnahmeerscheinung von ihren Wurzeln im kontinuierlich falschen gesellschaftlichen Zustand getrennt. Die Lösung des so isolierten Problems scheint dann einzig die immer weitere Parzellierung zu bieten: Grenzschließung, Einknastung, Heimhaltung, Abschiebung. Es bleibt die Hoffnung, dass die Strategie so gut sie auch funktionieren mag, sich selbst entblößt, an ihrer Nacktheit ein aufklärerisches Potential aufgespürt werden kann.
KSMK – Faschismus
Adorno hat die Wirkung faschistischer Propaganda unter anderem dadurch charakterisiert, dass zwischen den Propagandaproduzenten und den Konsumenten ein stilles Einvernehmen darüber herrscht, sich an der Oberfläche aufzuhalten und die Reize der Anspielung auszukosten, anstatt von Argumenten überzeugt werden oder überzeugen zu wollen. Das bedeutet: Grade wo der Diskurs ernster genommen wird, als es kulturindustrielle Profitgesetze und propagandistische Oberflächlichkeit gebieten, kann er sich gegen seine Schöpfer wenden. Erst im Laufe der kritischen Durchdringung der vom KSMK verordneten Selbst- und Fremdbilder wird deutlich, wie widersprüchlich der gesamte Komplex konstruiert ist und was er verschleiert.
Tatsächlich ist die Propagandabotschaft des KSMK oberflächlich assoziativ, ohne sich lange an Widersprüchen aufzuhalten. Als ob der Reiz grade darin besteht, dass man endlich einmal das mühsame Denken selbst bezwingen könnte, mittels der puren Gewalt der Wiederholung. Der KSMK evoziert altbekannte Phantasiegebilde: einerseits den lüsternden Orientalen, den wilden, irrationalen, unkontrollierbaren, hyperpotenten Afrikaner und den frauenhassenden Islamisten und andererseits die zivilisierte, moralische und rationale Überlegenheit des hochgeborenen weißen Mannes, dessen Pflicht es sei, die ihm unterstellten niederen Menschen väterlich zu strafen und zu disziplinieren, nützlich zu machen und als „Schützling“ des Westens aufzuklären oder zu christianisieren. Möge der weiße Mann seinem Schützlingen auch wohlgesonnen und ein milder Vater sein wollen, er müsse mit aller Härte durchgreifen, wo der Wilde aufgrund seiner „animalischen Natur“ (neuerdings synonym mit Kultur gesetzt) und seiner ungebändigten Massenhaftigkeit (Flüchtlingswellen und kriminelle Ausländerbanden) sich selbst oder der weißen Frau gefährlich werden könnte.
Die Zusammenhänge die im Selbst- und im Fremdbild konstruiert werden, bieten einen hochproduktiven Bodensatz aus dem immer wieder zur Begründung von militärischer Interventionen, Ausbeutung, sozialer Benachteiligung, Kriminalisierung, Internierung und Abschiebung geschöpft werden kann. Der Andere wird einerseits fungibel als Sündenbock/Parasit für Irritationen im Inneren des Wir, und begründet andererseits als äußerer Angstgegner die Notwendigkeit von Konformität und Zusammenhalt.
KMSK – Sex&Crime
Dringt man tiefer in die einzelnen Elemente des KSMK ein, wird der Mechanismus sichtbar, der Konformität und Abwendung von Kritik nach Innen, durch die Projektion auf den Anderen/das Außen erzeugt. Der Diskurs ist beherrscht von der Idee des sexuell ungezähmten und parasitären Fremden, den man loswerden muss, um in den paradiesischen Zustand Nationaler Reinheit/Unschuld zurückzukehren. Diese Idee überlagert den durchaus kritikwürdigen Zustand des deutschen Sexualstrafrechts und der deutschen/westlichen Konsum- und Medienkultur, in der Frauen routinemäßig die Reduzierung auf Körperöffnungen, Körperfunktionen und Körperteile erfahren.
Angesichts der deutschen Rechtslage und Rechtspraxis rund um das Thema sexuelle Belästigung und Vergewaltigung, erscheint die Silvesternacht in Köln nicht als feindliche Invasion, sondern als Beispiel gelungener Integration. Wer sich nämlich wie von Integrationsverfechtern gefordert mit deutschen Recht und deutschen Sitten bekannt macht, weiß, dass er Frauen in Deutschland sehr wohl relativ ungestraft im öffentlichen Raum sexuell belästigen darf. Wer sich darüber hinaus mit der praktischen Rechtsanwendung in Vergewaltigungsfällen vertraut macht, weiß, dass er sogar bei einer Vergewaltigung zu einer Wahrscheinlichkeit von 95% nicht mal angezeigt und zu 91%iger Wahrscheinlichkeit, falls doch angezeigt, wenigstens nicht bestraft wird. Man muss also annehmen, dass Vergewaltigung und sexuelle Belästigung in Deutschland praktisch legal ist. Außerdem war jede zweite Frau in Europa bereits Opfer sexueller Belästigung, was durchaus die Schlussfolgerung zulässt, dass sexuelle Belästigung auch Bestandteil deutschen Brauchtums ist. Wer sich darüber hinaus mit der jüngsten Geschichte des deutschen Sexualstrafrechts beschäftigt, wird herausfinden, dass der Lieblingsdeutsche Horst Seehofer 1997 mit anderen konservativen Kollegen – und Kolleginnen – gegen das Gesetz gestimmt hat, das Vergewaltigung in der Ehe im Rahmen des Straftatbestands Vergewaltigung strafbar macht. Auch die Tatsache, dass in Deutschland an jeder Haltestelle Bilder von halbnackten Frauen hängen, lässt den Schluss zu, dass Frauen in Deutschland hauptsächlich als Sexualobjekte fungieren. Selbst für sexuelle Übergriffe eine Großveranstaltung, wie Silvester zu wählen ist den Gepflogenheiten der deutschen Polizisten gegenüber sehr sensibel: An Feiertagen und im Rahmen von Großveranstaltungen drückt der deutsche Polizist gerne mal ein Auge zu und kann über sexuelle Übergriffe durchaus auch schmunzeln. Wie zuletzt die Münchner Polizei beim Oktoberfest 2015: Nicht nur beschreibt die Polizei sexuelle Belästigung im Kontext des Oktoberfests als „spaßig gemeint“ und den (natürlich deutschen) Täter als „kecken Burschen“, auch wird die Betroffene, weil sie sich zur Wehr setzt und dabei versehentlich eine dritte Person leicht verletzt, zu einer „vierstelligen Geldsumme“ verurteilt. Nur solange sich die Hand auf der Brust, unterm Rock oder am Po befindet, darf sich die Betroffene verteidigen, danach macht sie sich der versuchten oder tatsächlichen Körperverletzung strafbar.
Wer soll aus der Sachlage anderes herauslesen, als dass in Deutschland grundsätzliche Sympathie für sexuelle Belästigung herrscht. Tatsächlich wäre es für Frauen in Deutschland gefährlich egal wen, egal wo über das deutsche Sexualstrafrecht und seine Anwendung aufzuklären. Die Wahrscheinlichkeit, dass es in den angezeigten Fällen zur Verurteilung wegen der parallel ausgeführten Diebstähle kommt, ist angesichts der Rechts- und Beweislage wesentlich höher als Verurteilungen auf Grund sexueller Nötigung oder gar dem Konstrukt sexueller Beleidigung. Opfer sexueller Belästigung sollten, um eine Verurteilung ihrer Täter sicherzustellen, möglichst dafür sorgen, dass dieser ihr Handy oder ihre Kreditkarte mitnimmt.
Wenn die Forderung nach Integration, wie im KSMK mit der Forderung nach der Achtung der deutschen Gesetze gleichgestellt wird, folgt daraus – da grade ein Großteil der sexuellen Übergriffe keinen Rechtsverstoß darstellen – dass Integration auf ganzer Linie geglückt ist. Nicht ohne Grund sprechen Frauenrechtlerinnen seit Jahren von „rape culture“, die fester Bestandteil deutscher, europäischer und insgesamt westlicher Kultur ist. Vor diesem Hintergrund stellt „Integrationsunwilligkeit“ aus feministischer Sicht, weniger ein Problem als viel eher eine Chance dar. Vielleicht muss man eher fragen, ob nicht die Integrationswilligkeit, die heutzutage in Umwelt-, Frauen-, Queer- und linker Bewegung herrscht, nicht das viel größere Problem ist. Sich als Antwort auf den KSMK als Feministin mehr oder weniger vorbehaltslos an Rufen nach Integration zu beteiligen, bedeutet nichts als den deutschen Status quo zu manifestieren und zu rechtfertigen.
(Teil 2 am 21. März)
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Am Donnerstagabend ist es in Clausnitz in der Gemeinde Rechenberg-Bienenmühle zu Protesten gekommen, als Flüchtlinge eine Asylbewerberunterkunft beziehen sollten. Wie die Polizei mitteilte, behinderten rund 100 Personen die Ankunft des Busses, indem sie mit drei Fahrzeugen die Zufahrt blockierten. Bei der Ankunft des Busses skandieren die Protestierenden „Wir sind das Volk“ und „weg mit euch“. Die Flüchtlinge im Bus wirken verängstigt. Ein Junge scheint zu weinen. Ein Video, worauf diese Szenen zu sehen sind, wurde auf der Facebook-Seite von „Döbeln wehrt sich. Meine Stimme gegen Überfremdung“ veröffentlicht.
Mitteldeutscher Rundfunk Sachsen, 19.2. 2016
Daß die hilflosen Asylgesetzdebatten der Politik nur, im Sinn der Karl-Kraus-Definition von Sozialdemokratie, um eine Hühneraugenoperation an einem Krebskranken kreisen, ist eine Binsenweisheit. „Das Boot ist voll“ oder wird es so oder so bald sein und auf der Tagesordnung steht der Krieg um Schwimmwesten und Plätze in den Rettungsbooten, von denen niemand weiß, wo sie noch landen können, außer an kannibalischen Küsten.
Heiner Müller, „Die Küste der Barbaren“, 25.9. 1992
Das Einzigartige des Theaters ist das Flüchtige, sein Ziel ist das Verschwinden. Jedes theatralische Ereignis erzwingt in sich die Wiederholung für den nächsten jeweils einzigen, ereignisartigen Moment. „Vorstellung“ bedeutet zweierlei. Jede Vorstellung vor Publikum imaginiert die Vorstellung von etwas, das im Moment des Geschehens schon verschwindet und dessen Wiederholung zwar Kopie, doch einzigartig ist. Von Benjamins Infragestellung der „Aura“ im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit bis zu Žižeks „Was ist ein Ereignis?“ begleitet das Phänomen den Diskurs der Moderne. Die Kopie ist das Werk, das Werk die Kopie undsofort.
Die erste Werkstatt der Kopie ist das Theater. Dem Historischen entspringt das Theatralische, kunsttheoretisch ist es eine Idee, die auf die Geschichte reagiert. Ereignis ist ein radikaler Wendepunkt, der alle bisher gültigen Parameter kippt. In unserer, alles verwertenden Veränderungsgesellschaft, wäre das der Stillstand. Wenn auch nur vorübergehend, ein Ausnahmezustand infolge eines Attentats, Paris oder Brüssel, zum Beispiel. Auch er kann verwertet werden, am Ende nützt der Staatsfeind dem Staat und dient der Legitimation seines Machtmonopols.
Ziel der von Staat zu Staat Flüchtenden ist die Dauer, Ankunft, Angekommensein und Bleiben. Hier bin ich Mensch, hier darf auch ich verweilen. Vom „freien Grund“, den Freiherr von Goethe dem Zufriedenheitsflüchtling Faust zurechnet, können sie bestenfalls träumen. Ihr Verführer ist der Schlepper, ein abgezockter Charon, kein aufklärerischer Mephistopheles. Der Antagonist dessen, der ankommen will, ist er, dessen status quo die fortdauernde Bewegung, Metamorphose ist. Kein Flüchtling, ein von andrer Kraft nach vorn Getriebener, vielleicht ein Künstler.
„Der Flüchtling“ als Begriff und Metapher stellt unvermittelt vieles infrage. Er kommt über uns, die wir in einem „Hier“ angesiedelt und beheimatet sind, wie eine Erscheinung, mit allen Verbreitungsmodi unserer Zeit, so daß auch Trends der Berichterstattung den Begriff selbst zum Trend machen. Ob „Flüchtling“ oder „Flüchtlingskrise“ oder „Krise“ für sich, es ist eine Rubrik, die viel andere Betrachtungsmöglichkeiten ausschließt. Der Flüchtling (nicht jeder von uns Ansässigen kennt einen) wird zur Darstellungsform, zu einer weiteren Facette des homo ludens, ohne daß er, der Mensch im Transit, etwas anderes dagegen tun kann, als zu verschwinden. Was abgesehn von der Abschiebung, allein in der Ankunft, im Angekommensein, im Diffundieren hinein in eine Heimat möglich ist. Wenn es geschieht, wird es die Dauer von Generationen und den eventuell den einen oder andern Bürgerkrieg beanspruchen.
Was vor einem Vierteljahrhundert mit den Wendefrust- und Haß-Pogromen depravierter Ostdeutscher in Rostock-Lichtenhagen auf vietnamesische Wirtschaftsflüchtlinge mit Feuer, Steinen und Urin niederprasselte, mag heute in Clausnitz, Heidenau, Passau, Dresden, Hamburg oder sonstwo ähnlich aussehen, ist aber – es gibt Anzeichen – ein Dammbruch, der die sozialen Gefüge in Bewegung halten wird. Nicht nur im klaustrophobischen Osten oder im expansiven Westen des Landes, sondern weit über Deutschland hinaus. Dagegen waren Nachwehen des Epochenbruchs von 1989 nur ein Vorspiel, dessen Szenen jetzt zur übervölkerten Bühne unter unseren Füßen werden. Nebenbei, um das Wasser und das Brot, die Luft zum Atmen geht es auch.
Bilder und Berichte von Flüchtlingsströmen, die sich an den Randzonen der Kontinente stauen, die wie die Lemminge auf ihre Barken, in die Häfen, in den Eurotunnel strömen, die auf Brettern zwischen den Leitplanken der französischen Autobahnen vegetieren, die im Budapester Hauptbahnhof ihre Passage als bitteres Korrektiv zum ostdeutschen Luxusflüchtlingsstrom von 1989 verbringen, die in Notunterkünften mit geheimgehaltener Adresse weniger als auf Almosen als auf Pässe warten – dies und noch Unerhörteres sind nicht mehr Illustrationen für den Zustand einer Krise. Sie sind der Zustand. Auch die von der IS-Miliz gekreuzigten Samariter von Aleppo sind es. Zwar vom allegorischen Gehalt in die Inszenierung entrückt, wie der Authentizitätsstreit um die Fotografien von edouardelias.com zeigt, offenbaren sie doch die Möglichkeit. Die Brillanz der technischen Bilder zerdrückt jede Sprache und Sprachregelung an der Wand irgendeiner Wahrheitsdefinition. Reale Abbildungen scheinen erst nach einer umgreifenden Debatte über die Wahrhaftigkeit der visuellen Berichterstattung und anschließender Untersuchung der technischen Medien möglich. Genaugenommen unmöglich, weil alles inszenierbar ist. Bilder verhindern Erfahrung, es gibt kein wirkliches Bild. Dieser trostlose Gedanke ist ein tröstlicher zugleich: wo alles fake sein kann, ist alles wieder wahr. Wir haben keine andre Wahrheit als die Fälschung. Der Rest ist das, was wir am Leib erfahren. Es ist die Wahrheit, die für uns die einzige ist, der Bodensatz der Realität. Sie ist der Fluchtpunkt, den zu erreichen, von Abbildern umstellt, zunehmend schwerer wird. Die Hoffnung, daß Katastrophen als karthatische Schocks uns aus der Surrealität der Bilder, seien sie inszeniert oder nicht, erlösen, ist vergebens. Es ist die Hoffnung, die man in ein Sandschloß setzen könnte, in den Schnee, in die Kunst.
Die Konkurrenz zwischen dramatischer Inszenierung und Beschreibung eines dramatischen Geschehens, ist seit den Attacken vom 11. September 2001 auf einer neuen Stufe virulent. Die Schockformel der Erstbetrachtung – „Wie im Film!“ – formuliert nicht nur das Credo von Verschwörungstheoretikern weltweit, sie umreißt auch das „Verlöschen der Welt in den Bildern“, das Vilém Flusser vor Jahrzehnten in seinen Überlegungen „Für eine Philosophie der Fotografie“ und „Im Universum der technischen Bilder“, terminologisch zu fassen versucht hat. Am Anfang war das Bild. Die Bilder des Jahres 2015 sind einprägsamer als die Bilder des Jahres 2014, 2013 undsoweiter retour. Und sie sind es nicht allein wegen des dramatischen Motivs, auch dank des metaphorischen Gehalts, der einen sich dramatisch zuspitzenden Ist-Zustand auf einem Kulminationspunkt trifft. Wie, sagen wir, die Geste eines das Sterben darstellenden Schauspielers eine Aussage akzentuieren kann, die dem Betrachter eine Weltanschauung eröffnet.
Als Beispiel kann das Bild (das Foto) des ertrunkenen Flüchtlingskindes an einem nicht näher benannten türkischen Strand dienen. Der Terrorismus besetzt die touristischen Ressorts, bevor die Kunst es tut. Und sie tut es exemplarisch in Gestalt eines gut gefütterten Chinesen, der sich an den Kieselstrand von Lesbos legt, fotografieren läßt und das Bild mit dem Namen des tatsächlich ertrunkenen Kindes versieht: „Ich bin Aylan Kurdi“. Unappetitlich, aber: wahr. Die Kopie setzt hier das Unbehagen frei. Zur Freiheit der Kunst, die an sich frei von jedem Zweck sein sollte, gehört auch die Freiheit der Verletzung. Tabus werden verletzt, Gefühle und Moralvorstellungen werden verletzt, und er, der Künstler, verletzt sich selbst, wie er sich bloßstellt und als ersten Impuls den Schock, der die Abwehr auslöst, provoziert.
Die Ankunft des Flüchtlings in einer Zivilisation, die sich als solche durch Wohlstand, Wertebestand und Bleiberecht definiert, verkörpert ein Problem, das die Urangst aufruft: die Angst vor dem Fremden. Die Angst vor dem Fremden in uns, dem Fremdsein in der Welt, mit der Heidegger die Angst vor dem Nichts in uns beschreibt. Die Angst, daß nichts ist, Grunderfahrung der Verlorenheit. Vielleicht ist sie es, die die Figur des Künstlers mit der des Flüchtlings zusammenlegt. Eine Interferenz, die Ai Weiwei mit sich als allegorischer Attrappe nachstellt. Nicht von ungefähr plaziert sich der Künstler mit Vergangenheit an eben die Küste, die vom Treibgut der Gestrandeten wie von ihnen selber, tot und lebend, überspült wird. Es ist die Küste der Antike, an der Dichtung und erste Formen des Theaters ihren Ursprung haben. Das Meer, Urressource unsres Lebens, durchtränkt das alles metaphorisch: Urlaub, Flucht und Expansion, Schlacht um Troja, um Rohstoffe, Arbeitskräfte, Deutungshoheiten. Grausam schöne Quelle des Ganzen und in unaufhaltsamen Schmelzprozessen das Ganze Verschlingendes, und – irgendwann – letzte Pfütze unter den Eruptionen der einzigen Sonne, die uns bekannt ist, die alles speist und alles frißt, endlicher Kreislauf des Lebens.
Das Theater ist eine kulturelle Institution, erfunden zur Bekämpfung dieser Angst. Sie stellt das Fremde als Verwandlung dar. Daß man es „nachahmen“ kann, wie Aristoteles es nennt, ist ein Bild der Hohen Kunst wie der angewandten Therapie. Die im Wortsinn ungeheuer eindrucksvollen megalomanischen Inszenierungen des IS aus seinen „kleinen wendigen Kampfformen“ (eine Formel Brechts für Agitpropmethoden) heraus, liefern, verglichen mit den Kriegsmaschinerien der Großmächte, die besseren Auftritte. Ihr grausamer Unterhaltungswert ist garantiert. Daß er die wüsten Gegenden verlassen hat, und in Paris, der Metropole an sich, vor weltweitem Publikum erscheint, wobei Teile dessen gemäß seiner „Ästhetik“ zu vernichten sind, spricht für ihren Erfolg.
Allen Zynismus beiseite: Der Horror reüssiert. Die Kunst wird ihm nicht die Spitze nehmen können, aber sie kann sich in ihrer Fremdheit, die dem Leben ferner als der Horror sein kann, dem entgegenstellen, in dem sie das Entsetzliche kopiert. Der Versuch, die Kunst und das Theater mit der objektiven Banalität des Lebens zu vermischen, führt zum Verschwinden der Kunst, nicht zum Verschwinden der Banalitäten, zu denen der Horror gehört.
Alle Rechte am Text liegen beim Autor.
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Für unterwegs:
Manche freilich …
Manche freilich müssen drunten sterben,
Wo die schweren Ruder der Schiffe streifen,
Andre wohnen bei dem Steuer droben,
Kennen Vogelflug und die Länder der Sterne.
Manche liegen immer mit schweren Gliedern
Bei den Wurzeln des verworrenen Lebens,
Andern sind die Stühle gerichtet
Bei den Sibyllen, den Königinnen,
Und da sitzen sie wie zu Hause,
Leichten Hauptes und leichter Hände.
Doch ein Schatten fällt von jenen Leben
In die anderen Leben hinüber,
Und die leichten sind an die schweren
Wie an Luft und Erde gebunden:
Ganz vergessener Völker Müdigkeiten
Kann ich nicht abtun von meinen Lidern,
Noch weghalten von der erschrockenen Seele
Stummes Niederfallen ferner Sterne.
Viele Geschicke weben neben dem meinen,
Durcheinander spielt sie alle das Dasein,
Und mein Teil ist mehr als dieses Lebens
Schlanke Flamme oder schmale Leier.
Hugo von Hofmannsthal, 1896
Der Versuch, den Optimismus aufrecht zu halten, muss scheitern. Muss als letzter Brocken Stolz mit der Zunge aus dem Mundwinkel gefischt und runtergewürgt werden. Anders geht es vermutlich nicht. Anders lässt sich nicht neu beginnen. Neu – nachdem der erste Versuch zu leben in die Hose ging; da kein Partner, kein Job, kein Geld, keine Perspektive, keine Zukunft. Nun also ein neues Spiel, neue Taktik, mehr Konformität, mehr System zulassen und vielleicht einfach mal wirtschaftlich statt geistlich denken. Eben Karriere machen und nicht Träume erfüllen.
Nur wie beginnen? Ist es doch nicht irgendeins, als vielmehr das Spiel der Spiel – das Königsspiel. Schach; für die Taktik hinter allem, als Basis, als Fundament. Mit seinen unendlichen Möglichkeiten zu versagen, zu brillieren, zu handfesten Remis. Und auch wenn die Regeln vergessen sein sollten, wo gespielt wird, ist klar. Im Park. Wo sonst. Denn: siehe die Kinder. Wie sie ihre ersten Erfahrungen; ihre ersten lebensdefinierenden Entscheidungen auf Wiesen zwischen künstlich angelegten Wegen treffen. Wie sie dafür noch gar kein taktisches Spiel brauchen. Wie sie lediglich die Wege entlang rollen auf ihren kleinen Tretrollern. Sie treten und rollen mit hochgezogenen Schultern und nach unten in den Windschatten der Lenkstange gestrecktem Kopf den Park rauf und runter.
Aber wo rollen sie denn? Sie rollen auf ein Paar Stühle zu. Jemand muss sie im Schatten eines Baums vergessen haben. Einfache Stühle aus Holz. Ihr Dasein, ihr einfaches stuhliges Holz-Dasein, gehört, nebenbei bemerkt, zum Erschütterndsten, was überhaupt in Parks zu sehen ist. Wie kann der Baum nur so friedlich daneben stehen? Sieht er denn nicht, was aus ihm werden kann? Ein Stuhl für faule Menschen. Für Nicht-Steher. Fettärsche breiten sich über seinen ehemaligen Ästen aus. Reiben sich an dem, was vielleicht einmal die perfekte Mischung aus Licht und Schatten bekommen hat. Der Baum hingegen bleibt ungerührt. Vielleicht weiß er gar nicht, was ihn erwartet. Oder er freut sich darauf, mehr zu sein, als nur Baum im Park. Will Stuhl im Zimmer sein. Will den Menschen dienen, will endlich Teil sein, dieses Systems „Mensch“ mit seinen verrückten Ideen von Einhörnern und der neusten Nukleartechnik. Will er das wirklich? Schließlich weiß er nichts von den Kämpfen, die gefochten werden; von den Strategien; den Rochaden; den Bedrohungen, kurz: vom spielen. Muss nicht spielen, schon gar kein Schach. Hat auch keinen Gegner. Wobei es Gegner eigentlich auch gar nicht gibt. Denn Schach wird grundsätzlich allein und nur gegen sich selbst und darüber hinaus immer mehrere Partien zugleich gespielt. Eingemauerte Tische mit 64 Feldern – eingemeißelt – dienen als Arena.
Schwarz ist die Farbe der Wahl. Ohne je eine Wahl gehabt zu haben. Denn ist der Gegner niemand anderes als wir selbst. Wir sind weiß und schwarz. Doch muss, kann, darf immer nur reagiert werden. Erst recht, wenn neu begonnen werden soll; wenn bei allen bisherigen Partien der König matt gesetzt wurde; von uns, durch uns selbst, matt gesetzt. Mit Spannung erwarten wir die Eröffnung: e2-e4. Das Königsgambit. Klassisch. Ein Bauernopfer, die Partie startet rasant. Es geht Schlag auf Schlag. – Nicht so am nächsten Brett. Sg8-f6. Hier kommt es auf die Kleinen an. Es gilt ein mächtiges Bauernzentrum zu etablieren. Bloß niemanden opfern, doch, was soll’s: Am nächsten Brett geben wir uns mit Vergnügen hin. e2-e4 e4-e7 - Sb1-c3. Vielleicht ein Remis erzwingen. Oder versuchen durch spektakulären Materialverlust den gegnerischen König in die Ecke zu drängen; Angst zu machen. Vielleicht entscheidet es sich hier. Vielleicht. Denn niemand weiß, wie viele Partien noch warten. Manchmal nur drei. Manchmal scheinen sich die eingemauerten Tische zu einer Armee zu formieren; bilden SWAT-Einheiten; schießen mit weißen Figuren; sind gekommen, um zu töten; werden immer mehr, immer mehr, hunderte, tausende Partien. Und jedes Spiel aufs Neue muss gegen sich selbst gekämpft werden. Ein Hirngespinst, die größte Dekonstruktion des eigenen Willens. Unweigerlich beginnt ein Disput. Das andere Ich, der Gegner, personifiziert sich und will sein Gegenüber, immer noch wir selbst, niederstrecken - und gleichzeitig gewinnen, auf die Beine helfen. Koste es was es wolle.
So könnten wir ihm, dem Gegner, uns selbst, helfen, beim Neubeginn, beim Re-Start. Und er, der Gegner, wir selbst, würden es verstehen. Würden an die unsterbliche Partie Anderssen gegen Kieseritzky denken. Und wie Anderssen einen Läufer, beide Türme und die Dame opferte; wie er mit den verbliebenen Leichtfiguren Kieseritzky matt setzte. Würden die einfache Logik dahinter erkennen. Würden sie mit unseren Ambitionen gleichsetzen. Und wenn wir dennoch zweifelten; alles in Frage stellten; hätte er, der Gegner, wir, auch darauf eine Antwort. Wir würden uns das Springerproblem verdeutlichen; würden kombinatorisch argumentieren; würden uns die richtige Route weisen. Eine geschlossene Springertour. Und im besten Falle würden wir sehen, was unser Ziel eigentlich ist. Und wie wir es finden. Würden den Algorithmus für die 64 Felder errechnen. Würden jede der 13.267.364.410.532 Touren urplötzlich sehen. Mit ihren unendlich vielen Kreuzungen, ihren Opfern. Doch wir würden es vermutlich trotzdem lassen. Zu anstrengend.
Und wieso auch nicht? Denn gleichzeitig laufen unzählige andere Partien und vielleicht sieht es gerade auch sehr übel aus. Also blicken wir hinauf; weg vom Brett; hoch in die Baumkrone über uns. Und wir fragen uns, warum wir es nicht so machen wie der Baum, in dessen Schatten wir spielen? Einfach glücklich sein, einfach so. Ob ordinär und fichtenmäßig wie er nunmal so ist oder eben als todschickes Designobjekt. Als Stuhl. – Nein. Es ist ja ganz anders. Ein Baum im Park wird nicht zum Stuhl. Wird niemals Stuhl werden. Wird immer Baum bleiben. Hat das Recht individuell zu sein. Seine eigene Baumhaftigkeit auszuleben bis die Kotze kommt. Wir beneiden ihn; den Baum. Und verlieren dabei unsere Konzentration; haben schon mehrere Partien verloren; sollten endlich aufhören zu träumen. Denn so hat doch alles angefangen. Deswegen wollten wir doch noch einmal beginnen. An den Brettern mit den 64 Feldern. Wir machen den nächsten Zug, glauben jede Schwachstelle in der gegnerischen Position zu erkennen. Und spielen immer weiter, auch wenn unsere Gegner, wir selbst, eine klare Gewinnstellung einnehmen. Vielleicht hoffen wir auf einen Fehler; vielleicht wollen wir aber auch matt gesetzt werden, während die Kinder unermüdlich ihre Tretrollerkreise ziehen, nichts ahnend von den zermürbenden, zerfleischenden Kämpfen im Schatten der Bäume.
Stephan Weiner schreibt für DIE EPILOG.
Alle Rechte am Text liegen beim Autoren.
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Im Augenblick, in dem der Narr ernstgenommen wird, hat er verloren.1
Nie wurde in Deutschland mehr Geld für Kultur ausgegeben, und nie wurde die Begründung von Kulturförderung mehr diskutiert. Kultur entsteht derzeit, so sie von öffentlichen Mitteln abhängig ist, vor dem Hintergrund einer tiefgreifenden Legitimationskrise der politischen Klasse und der Frage, für wen Kultur überhaupt und was noch gefördert werden soll. Die demografische Entwicklung (dass von den Deutschen kaum noch etwas übrig bleibt), die Veränderung des Freizeitverhaltens der Gesellschaft (dass heute schon die anständigen Leute Film lieber auf Netflix sehen und Oper lieber auf 3sat) sowie die selbst auferlegten „alternativlosen“ Spardiktate der Politik schaffen ein Klima der Verunsicherung, das nach unten durchgereicht wird.
Dort ist ein Umverteilungskampf entstanden. Der Popkultur und Kunstszene angehörige soziale Milieus rütteln an den Zäunen der Subventionskultur. Da wollen die auch rein. Kaum ein Feld steht mehr im Mittelpunkt der Auseinandersetzungen als Theater und Oper, die etwa die Hälfte aller Kulturfördermittel auf sich vereinen. Was andauert, was viel kostet und wenig einbringt, ist verdächtig. Was sich hier aber durchsetzen will, ist schon durchgesetzt und kann sich risikolos auf diesen Kampf einlassen, vor allem ökonomisch und vor allem in Berlin.
In dem Kunstmagazin, das ungeniert von den Anzeigen der Institutionen lebt, die rezensiert werden, bemüht der eine im Namen des Fortschritts das freie Unternehmertum: „Die Gestrigen (…) sind sich (…) einig in der Aversion gegenüber einer Kunstszene, die, gerade in der in Berlin lebendigen Galerienszene, eben ohne staatliche Subventionen von Schülerabo-Bustouren aus dem hinterletzten Kaff in halbleere Provinzbühnen auskommt, sondern einzig und allein auf dem freien Markt unternehmerische Erfolge verzeichnet und dabei nicht nur glamouröser rüberkommt, sondern auch noch gesellschaftlich akzeptiert wird“.2 Der andere, im liberalen Organ der Springer-Presse nicht zimperlich mit dem Vollstreckungsbefehl gegen „feiste Revolutionsopas“ im Theater,3 entdeckt den Zeitgeist im Dreieck von FDP-Zentrale, privater Kunstsammlung und Elitegastronomie in Berlin.4 So reden Siegertypen. Mit Schülern, Provinz und kultureller Grundversorgung gibt man sich da nicht ab. Mehr Avantgarde als Grill Royal, mehr Dissidenz als ökonomischer Erfolg geht nicht. Popkultur wird zur Ideologie der Arrivierten. Guter Geschmack ist der Terror der Neuen Mitte.
Politik hat sich in den letzten ungefähr 10 bis 15 Jahren zunehmend auf einen Umbau der Kulturförderung verständigt, der sich im Wesentlichen in drei Bereichen zeigt: „kulturelle Bildung“, „Kreativwirtschaft“ und durch den Austausch von künstlerischem Leitungspersonal gegen Kulturmanager. Insbesondere „kulturelle Bildung“ hat einen Überbietungswettbewerb unter den Kulturangeboten ausgelöst. Alles ist auf Vernetzung und Vermittlung angelegt. Nichts darf unverstanden bleiben, nichts unerklärt. Jeder will mehr „bildungsferne Schichten“ erreichen, mehr Jugendliche, mehr Alte, mehr Benachteiligte. Die politische Klasse hat zur kulturellen Bildung ausgerufen, da die alten Bindungskräfte und Begründungen nicht mehr wirken, so scheint es. Der Bourgeoisie genügte zweckfreie Kultur; das war Ausdruck ihrer Freiheit, dafür zahlte sie. Das neue „demokratische Kulturverständnis“5 jedoch „ersetzt den Eigenwert künstlerischer Arbeit durch Begründungszwänge“.6 „Kultur für alle“ hieß aber ganz gewiss nicht Kultur von allen.7 Kultur wird mit einem sozialen Auftrag versehen.
Im Grunde bewegen wir uns gerade auf eine Staatskultur zu. Der gesellschaftliche Konsens lässt von der ohnmächtigen, tobenden Verzweiflung und Wut und Einsamkeit der Verlierer nichts mehr übrig. Politik will Mehrheiten, Partizipation, Integration. Kulturelle Bildung wirkt dabei vor allem als gesellschaftliche Anästhesie: „Sie dimmt alles auf eine vage Atmosphäre von Kreativität herunter.“8 Der New Deal passt prima zu einer zunehmend rabiateren Bildungspolitik, die Kunst oder den Raum zum Unverständnis in der Schule gar nicht mehr vorsieht. Die Folgen verfehlter Bildungspolitik sollen nun die Kulturangebote ausgleichen.
Politik diktiert der Kultur einen Mainstream-Diskurs, angefangen von Theater als „sozialer Institution“, zum politischen Gesinnungskino bis hin zur Regiequote, die Genderfragen endgültig entpolitisiert und auf das idiotische Prinzip der Teilhabe reduziert, die eh keiner mehr anzweifelt. Da hört man Frauen auf einmal das Recht auf schlechte Filme reklamieren. Bessere Kunst versteht und will Politik auch gar nicht; sie sucht den Konsens. Da kommt die Forderung nach Quoten gerade recht.
Daneben wird Kulturpolitik überdies als kreativwirtschaftlich cleverste Form von Standortmarketing entdeckt. Der Leiter der Berliner Senatskanzlei Björn Böhning macht unumwunden deutlich, dass er Filmförderung und „die Bedeutung der Kreativen“ vor allem für „Regionaleffekte“ relevant findet. Das Schwierige und Unversöhnliche der Kunst zählt gewiss nicht zu seinen „Zukunftsbranchen“.9 In der Filmförderung wurde bereits vor vielen Jahren die gesamte Leitungs- und Entscheidungsebene durch Kulturmanager ersetzt, denen man beim besten Willen weder Neigung noch Befähigung zur künstlerischen Beurteilung eines Films unterstellen mag. Förderentscheidungen, die den deutschen Film unmittelbar oder mittelbar betreffen, werden fast ausnahmslos durch Leute getroffen, die von institutionellen Interessen abhängig sind. Und so sehen die Filme auch aus.
Mit der Bestellung eines Kunstkurators zum Theaterintendanten wurde kulturpolitisch jetzt eine neue Stufe im Umbau der Kulturförderung erreicht. Ein bekannter Kunstsammler verkündete, eine solche Wahl wäre „das Beste, was passieren könnte für Berlin“. Ob sie's dann fürs Theater war, war nicht so wichtig. Spezifische, für das Theater genuine Erfahrung wird nicht mehr benötigt. Benötigt werden Aufmerksamkeitsskills und Standorteffekte. Das macht den politischen Einfluss deutlich, den der Kurator als soziales Rollenbild erlangt hat: Alerte Kulturmanager ersetzen schwierige Künstler. Für eine stark verunsicherte politische Klasse stellt der Kulturmanager eine Versicherung dar, dass man auf die Unterstützung meinungsbildender Leute und Medien ebenso zählen kann wie auf ein mit den richtig wichtigen Namen bestücktes Telefonbuch. Er verkörpert die Hoffnung, dass die Kreativwirtschaft floriere und Kunst nicht in allzu lästigen Widerspruch zum Status Quo gerate. Er ist ein Versprechen auf Ordnung in einer zunehmend unverständlicheren Welt. Je verstörender zeitgenössische Kunst, je unübersichtlicher Information, desto dringlicher das Bedürfnis nach Erklärung und Orientierung durch Diskursmaschinen. Steven Rosenbaum spricht von einer „Curation Nation“, in der alles kuratiert ist und jeder ein Kurator.10
Der Kurator verkörpert post-industrielle Arbeitsweisen perfekt: bestens vernetzt, überall anschlussfähig, immer auf dem Laufenden und dem Sprung. Zwar präsentiert sich der Kurator regelmäßig als oppositionelle Verlaufsform; wirklich einflussreich aber ist er nur, wenn er Mainstream ist und bleibt. Das Verhältnis zur Macht ist der stets blinde Fleck des Kurators; denn sein Erfolg lässt sich nicht in erster Linie nach künstlerischen Maßstäben beurteilen, sondern am Einfluss, den er ausübt. Der Starkurator muss keine Künstler mehr durchsetzen, er muss nicht einmal „kuratieren“; er hat lediglich für eine möglichst spektakuläre Präsentation und Validierung der Namen zu sorgen, zu bestimmen, was „hot“ ist. Umgekehrt ist der Kurator selbst Gegenstand fortwährender Bewertung in den Rankings der internationalen Kunstszene. Dem einen oder anderen mag dieser Zustand und die eigene Rolle darin wie ein Berufsstand erscheinen.
Das sorgt für die scheinbar widerspruchslose Versöhnung der Gegensätze angesichts aggressivem Standortmarketings und prekärer sozialer Verhältnisse an den Orten der Kunstbiennalen und Megamuseen. Man begreift, warum der Kunstbetrieb sich derart gut mit dem hedonistischen Lifestyle und dem anknipsbaren Radikalismus der Großstadtbohème verträgt. Alles super. Möge die Kunst uns davor bewahren!
Teile des Textes sind bereits erschienen in: der Freitag, 30.04.2015.
Alle Rechte am Text liegen beim Autoren.
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1Peter Fuchs: Hofnarren und Organisationsberater. Zur Funktion der Narretei, des Hofnarrentums und der Organisationsberatung, in: Zeitschrift für OrganisationsEntwicklung, Heft 3, 2002.
2Holger Liebs: Schönen Dank!, in Monopol, 07.04.2015.
3Ulf Poschardt: Tim Renner sollte Claus Peymann rausschmeißen, in: Die Welt, 09.04.2015.
4Ulf Poschardt: Die universelle Boutique: Wie guter Geschmack die Kunstwelt ruiniert – und warum das okay so ist. Thesen zum neuen Style-Bürgertum, in: Monopol, 5/2008.
5Barbara Kisseler: Partizipation und Theater aus kulturpolitischer Sicht, Impulsreferat auf der Jahreshauptversammlung des Deutschen Bühnenvereins am 30.05.2015 in Potsdam. (Manuskript)
6Thomas Oberender: In so viel Gunst stirbt alle Kunst, in Cicero, 7/2015.
7Michael Schindhelm: Neubeginn oder Übernahme? Die Erosion des öffentlichen Kulturauftrags und die Entstehung des Kulturplasmas, in: Kulturpolitische Mitteilungen, Nr. 149, 2/2015.
8Wolfgang Ullrich: Stoppt die Banalisierung!, in: Die Zeit, Nr. 13, 10.04.2015.
9Björn Böhning: Vortrag anlässlich des Produzententags am 05.02.2015 (http://www.bjoern-boehning.de/).
10Steven Rosenbaum: Curation Nation. How to Win in a World Where Consumers Are Creators, New York 2011.
Das Gedicht Leukothea aus dem 2009 erschienenen Band Homerica der griechischen Lyrikerin Phoebe Giannisi, soeben in der Übersetzung von Dirk Uwe Hansen bei Reinecke&Voss erschienen, beginnt in Hansens Übersetzung: „Zwischen deinem ^Wunsch zu schlafen / und wach zu bleiben / zwischen dem Alles-sagen / und dem Stumm-bleiben / an der Schwelle des Schlafes auf dem Gipfel / auf der Schneide der Welle dem Atmen / wie sie sich wendet und dreht nach innen“. Ino, Tochter des Kadmos und der Harmonia, Schwester der Semele und nach deren Tod Ziehmutter der Dionysos, flüchtet und flüchtet, eine erschöpfende Tätigkeit, vor ihrem mit Wahnsinn geschlagenen Mann Athamas und stürzt sich schließlich von hoher Klippe ins Meer. Sie stirbt allerdings nicht, sondern wird von Poseidon in die Göttin Leukothea verwandelt, die fortan Schiffbrüchigen beisteht, unter anderem auch dem herrlichen Dulder Odysseus: „Und sie erbarmte sich des umhergeschleuderten Mannes, / Kam wie ein Wasserhuhn empor aus der Tiefe geflogen, / Setzte sich ihm auf den Floß und sprach mit menschlicher Stimme.“ (Übersetzung Voß) Sie gibt ihm einen Schleier, mit dem er sich schwimmend ans Ufer der Phäaken retten kann, wartet seine Antwort nicht ab, verschwindet wieder „hinab in die hochaufwallende Woge / Ähnlich dem Wasserhuhn“, und teilt ihm nicht ihren Wunsch zu schlafen mit. Gibt ihm auch nicht die Empfehlung dazu. Es hat sie bis über die Klippe getrieben, sie muss als Göttin weiter im Dienst bleiben; Odysseus befindet sich auf dem Wasser, da schläft es sich nicht gut. Am Ufer der Phäaken angekommen, macht der Dulder gleich weiter; es braucht, mit dem Schlussvers des 5. Gesanges, wiederum eine Gottheit, um ihn in den Schlaf zu bringen, um den Balsam auf das emsige Wesen zu tröpfeln, das wachen will und alles sagen, alles machen. Giannisis Leukothea scheint, als Göttin mit ontologischem Migrationshintergrund, teilzuhaben an beiden Impulsen, am Wunsch zu wachen und zu schlafen zugleich. Odysseus hingegen will nicht, er wird, wenn schon, „überwältigt von Schlaf und Arbeit.“ Zum Lachen der Götter aber gehört es, Schlaf auszuteilen. Wie ein Almosen, den herrlichen und weniger herrlichen Duldern.
Warum nicht schlafen? Als rhetorische Frage läge hier die fröhliche Aufforderung, dass wir doch alle mehr schlafen könnten, sollten, wollten, zumal im Winter, zumal auf dem Trockenen. Aber als nichtrhetorische Frage, regnet es Gründe, warum wir nicht zuviel schlafen wollen. Als könnte man zuviel schlafen wie man zuviel wachen kann. Wenn die Rede geht, dass man mit seiner Zeit etwas anfangen soll, wenn die Kürze des Lebens beschworen wird, sei es von außen oder sei es von mir selbst, ist Schlaf keine Option. Als ob man müde sein müsste, um ihn zu genießen. Im Bett liegen und nicht schlafen können, das ist ein Problem – aber nur, weil die Erholung dann fehlt, für die der Schlaf angesetzt und geradezu in den Terminkalender notiert ist. In diesem Sinne ist der Schlaf (wie die sogenannte Freizeit) längst Teil der Arbeit. Er dient der Leistungsfähigkeit des Körpers, nicht schlichtweg diesem Körper.
Es gibt Wichtigeres zu tun. In der Nahrungskette der Schlagworte scheint mir der Spaß der Spaßgesellschaft recht deutlich in die Leistung der Leistungsgesellschaft eingegliedert. Ich denke an George Batailles Ausführungen, dass „etwas Spielimpulsen zu überlassen, heißt, das, was einen Zweck hat, dem gleichzusetzen, was keinen hat, was keinerlei Sinn hat, heißt mit einem Wort, sich souverän zu verhalten. Wer den Zweck eines Gegenstands, den er besitzt, akzeptiert, anerkennt in diesem Gegenstand, was ihn selbst diesem Zweck subordiniert. [...] Ebenso gut ist heute paradox, im Gegensatz dazu zu sagen: Es gibt zweierlei Arten des Spiels, das starke und das schwache; allein das schwache ist anerkannt in einer Welt, in der das Nützliche souverän ist, nicht das Spiel; aus diesem Grunde ist unserem Denken nichts weniger vertraut als das starke Spiel, das nicht dienen kann und in dem sich die tiefe Wahrheit manifestiert: Allein das Spiel ist souverän, und das Spiel, das nicht mehr souverän ist, ist nur die Komödie des Spiels.“ (Übersetzung Bergfleth), und ersetze Spiel durch Schlaf.
Im Garten Getsemani, bevor er eingesackt wird, spricht Jesus zu den Jüngern: „Meine Seele ist betrübt bis an den Tod; bleibet hier und wachet mit mir!“ Die Jünger schlafen ein, es trifft sie die Schelte des Menschensohns. Ebenso, der Ritter Erec aus Hartmann von Aues gleichnamiger Versdichtung, hätte herben Tadel kassiert, auch wenn er sich ohne seine frisch angetraute Enite zu ausgiebig im Bett aufgehalten hätte. Ich frage mich, wie es sein kann und zugeht, dass wir auf eine so schöne Sache wie den Schlaf bereit sind zu verzichten, nur weil die jüngernde Gefolgschaft und Arbeit hier und die beliebte Selbstverwirklichung dort an Leistung (als Wachen) geknüpft sind. Das ist keine rhetorische Frage. Das frage ich mich so sehr, wie ich es in mir bemerke.
Der Impuls, der es dem Körper verbietet, sich um sich selbst mit der Kenntnis von sich selbst zu kümmern, d.h. zu schlafen, muss mächtig sein. Was soll aber Kultur hier für Ersatz schaffen? Man kann nicht den Krümmungsgrad des Gemüses über das Gemüse verhängen; man kann nur definieren, welche Exemplare vernichtet werden. So scheint es mir mit den Stunden der Erholung und Erschöpfung auch. Besonnenheit, Unterlassung, Schlaf. Es ginge noch nicht einmal darum, dass Schlaf unmittelbar gesund ist, solange diese Gesundheit immer nach dem Kontaktpunkt von Leistungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft schmeckt; es geht darum, dass der Schlaf schön ist.
Lorenzo de’ Medici erscheint in der Rückschau als ein fleißiger Mensch. Nicht nur hat er es über diverse Verschwörungen hinweg geschafft, die Herrschaft seiner Familie durchzudrücken (die nach seinem Tod zuverlässig zusammenbricht), und genügend Geld zusammenzuschaufeln, um Bau- und Kunstvorhaben an den Start zu bringen (die noch heute jährlich die Geldbeutel von 10.000.000 Touristen den 380.000 Einwohnern gegenüber stellen), er hat auch ein literarisches Werk hinterlassen, das umfangreich und (gemessen am Klischee des dichtenden Machtpolitikers) erstaunlich gut ist. Im Libro del Cortegiano von Baldesar Castiglione ist eine schöne Anekdote über Lorenzo überliefert: Ein eifriger Höfling findet Lorenzo am späten Vormittag noch im Bett. Wie das zugeht, fragt er, dass der Herr der Stadt noch schläft, wo er selbst doch längst hier war und dort war, und Geschäfte gemacht und Sport getrieben, und schon vor den Toren gewesen, und überhaupt tausend Dinge erledigt, und darauf antwortet Lorenzo: Piú vale quello che ho sognato in un’ora io, che quello che avete fatto in quattro voi. Was ich in einer Stunde geträumt habe, ist mehr wert als das, was ihr in vier getan habt.
Alle Rechte am Text liegen beim Autor.
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– Für Gott hab ich nichts übrig, überhaupt nichts. Das ist ja der wunde Punkt bei allen. Ihr gebt
es nicht zu und lügt und spielt Theater! Und was ist dann mit dem Menschen? So ganz ohne Gott
und ohne künftiges Leben? Bedeutet das also, daß jetzt alles erlaubt ist, daß man jetzt alles darf?!
Fjodor M. Dostojewskij, Die Brüder Karamasow (1880)
– Der Ausgangspunkt des Existentialismus ist eine Aussage von Dostojewski: Wenn Gott nicht existiert,
ist alles erlaubt. Somit ist der Mensch verlassen, denn er findet weder in sich noch außer sich Halt und Entschuldigung. Wir haben keine Werte und Anweisungen vor uns, die unser Verhalten rechtfertigen
könnten. Wir sind allein, ohne Entschuldigungen. Wir sind also frei.
Jean-Paul Sartre, L’existentialisme est un humanisme (1945)
Ausgehend von einem Thema der BRÜDER KARAMASOW – Dostojewskijs Roman der Gottbefragung in einer historischen Konstellation, die ganz Europa aus dem christlichen Glauben in die atheistische Moderne, ihre Ideologie- und Materialschlachten kippt – haben 22 Autoren aus unterschiedlichen Sprachräumen zur Frage: »Ist, wenn Gott tot ist, alles erlaubt?« für die Volksbühne geschrieben. In Auszügen:
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Heute, da der kapitalistische Realismus Risse bekommt, ist es an der Zeit, die Tugend revolutionärer Geduld wiederzuentdecken. Es kann keinen Zweifel daran geben, dass der kapitalistische Realismus nicht zu überwinden ist ohne ernsthafte Infragestellung des häuslichen Realismus: Was ein grauer, verdinglichter Raum war, wird zu einem Kampffeld – und plötzlich ist wieder alles möglich.
Mark Fisher
Worin aber liegt der grundlegende Denkfehler dieser Zeit? In der sofortigen Einnahme des nach dem Sturz Gottes vakant gewordenen Ortes durch den Menschen? Was wäre geschehen, hätte man diesen Platz weiterhin bewußt freigehalten?
Frank Witzel
Viele Kader begingen nach Chruschtschows Rede im Jahr 1956, in der er Stalins Verbrechen anprangerte, Selbstmord: Sie hatten bei dieser Rede nichts Neues zu hören bekommen, alle Fakten waren ihnen mehr oder weniger bekannt, sie waren lediglich der historischen Legitimierung ihrer Verbrechen durch das geschichtliche Absolute des Kommunismus beraubt worden.
Slavoj Žižek
By the way, “God knowingly and willingly died by suicide.”
Petra Coronato
Dostojewskis Welt ist von Schwüren durchzogen: Ob die Figuren sie benennen oder nicht, immer sind sie durch sie angetrieben. Nichtbefolgung zieht Wahnsinn und Selbsttötung nach sich, das Befolgen jenes Leiden, das Dostojewski als „Idee“ offenbart. In der Regel leisten wir Schwüre für uns selbst unbemerkt, das ganze Leben lang, doch wir brechen sie immer bewußt, aus eigenem heiligen, freien Willen. Eben in diesem Moment ist „alles erlaubt“; Kierkegaards Tür öffnet sich nach außen, aber nur ein Mal: nach „Amerika“.
DJ Stalingrad
Hat der gleichsam verhimmelte Mensch, wo er seit seiner Schöpfung umging, die Stelle eingenommen, die bis dato Gott besetzte, so dass man diesem getrost die religiöse Nachhut der Kontingenzeindämmung überlassen kann? Der Mensch als Erbe Gottes, als dessen funktionales Äquivalent in einer ansonsten Chaos und Regellosigkeit anheim fallenden Welt?
Wolfgang Engler
Kaum hatte Gott den Menschen erschaffen, schon drohte er ihm schwerwiegende Sanktionen an.
László Földényi
Hier wohnen sie: Die Verschleierten, die Bärtigen, die Tätowierten.
Ruth Herzberg
Tumb, neurotisch, Gehirne maximal walnußgroß. Mir geht die religiös-antireligiöse Haltung Dostojewskis auf den Wecker.
Sibylle Lewitscharoff
Wenn er nicht mehr da ist, kann der Mensch sich alles erlauben. Es gilt dann nur noch das „11. Gebot“, dessen Befolgung sämtliche Gebote Gottes außer Kraft setzt: Du sollst dich nicht erwischen lassen!
Carl Hegemann
… auch Kants Postulat, Kinder nicht als Eigentum zu betrachten – übrigens Iwans zentrales Argument gegen Gott –, wurde niemals durchgesetzt.
Thomas Macho
Wir müssen feststellen, dass nicht einmal Gott mit Recht tot genannt werden kann. Auch ihm will der Entzug nicht gelingen. Nachdem er seine Allmacht im Glauben an die Versprechungen umfassender Privatisierung an die Kapitalgesetze verkauft hat, verdingt er sich in irgendeiner mit allerlei nutzlosem Nippes dekorierten Kneipe.
Luise Meier
ALLES IST ERLAUBT ist das Grundprinzip bürgerlicher Freiheit. Frei zu sein heißt hier, tun zu dürfen, was immer ich will. Der Zustand, in dem die Freiheit des ALLES IST ERLAUBT unbegrenzt herrscht, ist der Naturzustand. Hier zeigt sich die Freiheit des ALLES IST ERLAUBT als tödliche Gefahr. Deshalb aber schafft die bürgerliche Gesellschaft sie nicht ab, sondern begrenzt sie von außen: Sie schafft Räume, diese Räume heißen „privat“ …
Christoph Menke
Cette demande m'a révélé en effet que la phrase n’a pas beaucoup de sens.
Jean-Luc Nancy
Dass der Tod des einen Gottes das Theater gleichgültig lässt, begründet sich historisch aus dem Fakt, dass das Theater in einer Epoche wurzelt, in der noch ganze andere Gottheiten Regie führen.
Frank Raddatz
Gott ist tot? Nicht in China.
Xifan Yang
Auf den ersten Blick scheint hier nichts erlaubt zu sein.
Erdmut Wizisla
Selbst der Marquis de Sade, dessen Romane angelegt sind als Maschinen zur Vernichtung Gottes, und dessen Figuren unglaubliche Akte der Transgression begehen, hat mit der Idee der menschlichen Natur nicht abschließend gebrochen. Wenn Gott nicht existiert, dann hören wir nicht auf, religiöse Menschen zu sein.
Michail Ryklin
„Alles ist erlaubt, aber nicht alles dient zum Guten. Alles ist erlaubt,
aber nicht alles baut auf …“
Diktiert Paulus der Gemeinde von Korinth. ALLES IST ERLAUBT.
Soviel Autonomie schon von Beginn
Wer will das tragen ohne Gott? Der Leib ein Tempel des Geistes?
Der Bekehrer der Bekehrte?
Vom Blitz der Erkenntnis gespalten, schizophren? Ein Intellektueller
in der Krise?
Thomas Martin
Bevor Iwan zum Anstifter des Mords werden kann, muss er Autor werden. In seiner starken, modernistischen Deutung bricht jeder neue Roman mit der Konvention, um allein sich selbst zum Gesetz zu werden. Es verwundert demnach nicht, dass Autoren wie Nietzsche, Dostojewski oder Sartre die Literatur wählen, um den Tod Gottes zu denken. Denn die Literatur vermag ein Doppeltes zu leisten, indem sie diesen auf einer sinnhaften und materiellen Ebene ins Werk setzt.
Philipp Schönthaler
Denken nach dem Tod Gottes bedeutet folglich, dem menschlichen Subjekt das Chaos zurückzugeben = ihm zu erstatten, was es nie verlor.
Marcus Steinweg
I found your message only today. It is probably too late now.
Aki Kaurismäki
Der Sozialität in der Welt des 21. Jahrhunderts ist der Gemeinsinn abhanden gekommen. Soziale Kontakte richten sich nach pragmatisch-professionellen Absichten. Das „Netzwerk“ wird zum Gemeinschaftsmodell. Schuld ist heute primär die „eigene Schuld“, der Situation und ihren Anforderungen nicht gewachsen zu sein. Eine initiale Bindung, die die Rechtsordnung des Staates begründet und gleichsam beseelt, ist außer Kraft gesetzt. Gewiß ist nicht „alles erlaubt“, doch niemand weiß, warum eigentlich nicht.
Peter Trawny
Auszüge aus ALLES IST ERLAUBT. DAS KARAMASOW-GESETZ, anläßlich von Frank Castorfs Inszenierung, herausgegeben von Thomas Martin, erschienen bei Matthes & Seitz Berlin, zu haben in der Volksbühne, im Pavillon BOOKS am Rosa-Luxemburg-Platz sowie im Buchhandel ab 26. Januar 2016.
Denken, bedeutet den Mut aufzubringen, den Evidenzen (die ihre Selbstverständlichkeit, d.h. Unhinterfragbarkeit suggerieren und inszenieren) das Vertrauen zu entziehen, was so viel heißt, wie sich ihrer Autorität nicht länger zu unterwerfen, sie in den Strudel ihrer Transformation, Neuübersetzung, Rekonfiguration, oder wie Deleuze gesagt hätte, ihres Werdens, zu reißen, das nicht einfach historisch ist (im Sinne einer sich linear entwickelnden Historie), sondern als transhistorisch inmitten der Geschichte gelten kann.
Das hat nichts mit Idealismus zu tun.
Es wäre das Gegenteil zu jedem Idealismus, wenn es nicht gewöhnlich (auf eine immer unzureichend befragte Weise) als Realismus aufträte, ohne dass man merkt, dass was wir Realismus nennen, meist nichts anderes als einen weiteren Idealismus darstellt, den man Tatsachenidealismus oder Realitätsgläubigkeit nennen kann.
Es ist komplizierter: Wir verfügen über keinerlei stabile Realität. Das Subjekt schwimmt in der Fülle des Bestehenden wie im ontologisch Disparaten, in einer Art Strom der Kontingenz. Die Menge des Bestehenden, existierender Realitätspartikel, ist eine offene, indefinite Menge. Sie schließt sich nicht über einer letzten Wahrheit. Eher ist es so, dass ihre Wahrheit in ihrer eigenen Inkonsistenz liegt, darin also, dass das Realitätsversprechen immer neu gebrochen wird.
An den Bruchlinien des gebrochenen Versprechens operiert das Denken sowohl der Philosophie wie der Kunst. Künstlerische Praxis bezieht ihre Relevanz aus aktiver Realitätsverweigerung, die nichts mit Realitätsflucht zu tun hat. Sie steigert ihren Realitätskontakt, indem sie den Realitäten ihre Dominanz nimmt, ihre Imperialität.
Man könnte auch von Realitätssampling sprechen; davon, neue Realitätsmixturen zu erfinden, unwahrscheinliche Allianzen zu stiften, prekäre Verbindungen zu knüpfen, um sie bald wieder aufzulösen, explodieren zu lassen, woandershin zu führen. Der Künstler, der Philosoph als DJ, dessen Aktivitäten keiner geraden Linie, keiner Teleologie, keinerlei gegebenem Sinn folgen, sondern experimentelle Forschung sind, die dem Unbestimmten Raum geben und dem Unsichtbaren, Niedagewesenen.
Es geht darum, sich dem Vulgäraristotelismus zu widersetzen, der behauptet, dass alles schon da ist und dass uns nichts bleibt, als zu akzeptieren gelangweilt-langweilige Rekonstrukteure des Bestehenden oder Gewesenen zu sein. Es ist eine Spur beunruhigender, ja dramatischer: Es bleibt tatsächlich noch etwas zu erfinden und diese Erfindung betrifft alle Realitäten dieser Welt. Da ist noch alles offen, trotz stabiler Fakten, trotz irreversibler Geschichte, trotz eines exzessiven Maßes an Unfreiheit, trotz der Entfremdung des Subjekts durch seine Kultur und Geschichte, durch ökonomische Imperative, durch die Diktatur der Dummheit, die den gesamten Planeten überschwemmt. Der Determinismus wird immer die Ausrede der Zyniker und Opportunisten sein, nichts zu tun, da doch alles längst entschieden sei. Aber das ist es nicht. Unsere Realitäten sind brüchig. Dass sie brüchig sind bedeutet, dass sie nicht endgültig sind wie sie sind. Es gibt Spielraum ins Unbestimmte.
Es ist diese Unbestimmtheit und Kontingenz, die eine offene Zukunft indiziert (eine auf ihre Vergangenheit reduzible Zukunft wäre keine!), d.h. die ontologische Inkonsistenz unserer Welt. Was ist Kunst, wenn nicht die Öffnung des Subjekts auf diese Inkonsistenz, das Operieren mit Unwägbarkeiten und Inevidenzen, die Bejahung des Kontingenzcharakters einer Realität, die sich fortsetzt, wohin immer, wozu immer, warum immer, seit jeher, in alle Zukunft, heute schon, ad infinitum, bis an ihre äußersten Grenzen und womöglich weit über sie hinaus.
Alle Rechte am Text liegen beim Autor.
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Frank.Diersch, Überall beginnen die Hochburgen zu brennen, 1995. Feder, Tusche auf Papier, 24x32cm
Aktuell:
How steep the stairs within kings' houses are
Kata Unger + Frank Diersch
Bildteppich + Zeichnung
08.01. - 20.02.2016
Galerie ARTAe Leipzig, Gohliser Straße 3, 1. OG, 04105 Leipzig
Alle Rechte am Bild liegen beim Autor.
Anfang der neunziger Jahre des letzten Jahrhunderts verschickte ein freundlicher Antiquar aus dem Sächsischen Angebotslisten per Post: dreißig oder vierzig Blatt holzhaltige Ormigkopien, beidseitig bedruckt mit bibliographischen Angaben und Preisen, darunter Seltenes und Kurioses, sachkundig und liebevoll kommentiert. „Ist das unser Günter Kunert?“, fragte der Händler einmal, leicht irritiert angesichts eines Beitrages in irgendeiner entlegenen Anthologie aus den fünfziger Jahren, ebenfalls letztes Jahrhundert.
„Ist das unser Heiner Müller?“, schoss es mir durch den Kopf, als ich während der Vorbereitung auf ein Gespräch mit Müller eine anscheinend von ihm verfasste Rezension die Buches „Nie wieder“ von Teo Otto in der „Täglichen Rundschau“ von 1951 fand – ein ziemlich finsteres Pamphlet, das sich auf die Kritiker des Formalismus beruft und Otto in direktem Widerspruch zu Brecht, der das Vorwort geschrieben hatte, Fehler der Betrachtungsweise vorwirft. „Es genüge nicht nur, den Krieg anzuklagen und den Kampf gegen den Imperialismus zu führen, sondern man müsse auch einen Ausblick auf ein besseres Leben bieten.“
Auf diesen Text angesprochen, reagierte Müller ungläubig. Er aß Kohlrouladen, wie 1961 nach dem Eklat der „Umsiedlerin“-Aufführung, als Hanns Eisler den in der Existenz bedrohten jungen Dichter in den Schoß von Mutter Weigel geschickt hatte – Ort unseres Treffens war die BE-Kantine – und schluckte. „Worüber?“, fragte er. „Keine Ahnung. Im Ernst? War ich das wirklich? Da bin ich nicht sicher. Es gibt noch einen anderen Heiner Müller.“ Der habe 1956 auch eine Erklärung der Theaterhochschule Leipzig gegen Wolfgang Harich und Erich Loest und andere Inhaftierte unterschrieben. Später sei er Direktor der Ballettschule in Berlin gewesen. „Wie gut, dass es zwei gibt!“, warf ich ein, und Müller nahm den Ton auf: „Auf den kann ich mich immer rausreden. Aber ich glaube, der wars wirklich“.
Erst nach Müllers Tod fand ich einen Beleg dafür, dass er recht hatte. Heinrich, genannt Heiner Müller, zwei Jahre älter als unser Heiner Müller, war Bibliothekar und Lehrer an der Theaterhochschule und dann Direktor der Fachschule für Tanz in Leipzig gewesen.
Es gab in dem Gespräch über Brecht noch andere dunkle Stellen, die sich – wie Liedzeilen, die das Kind singt – erst allmählich aufklären. So zitierte Müller den Ausspruch „Agitprop soll nicht Missstände angreifen, sondern töten“. In den Ausgaben sucht man derlei vergebens, aber im Brecht-Archiv existiert eine „Aktennotiz / über Agitprop-Besprechung bei Brecht am Dienstag, dem 6. 3. 1956“, in der genau das steht. Oder Müllers Frage nach späten Briefen Brechts an Kurt Kläber (= Kurt Held). Dieser hatte dem Satz „Die Wahrheit ist konkret“ entgegengehalten: „die einzige Wahrheit ist unsere Phantasie“, und Brecht soll ihm telegrafiert haben: „Du könntest recht haben.“ Ein solches Telegramm mag es nie gegeben haben, aber die Geschichte geht zurück auf Kläber, der der Ansicht war, Brecht hätte „an seinem allzu frühen Lebensabend“ seiner Fassung des Spruchbands zugeneigt.
Ob der Wortwechsel zwischen Brecht und Ernst Busch während der „Galilei“-Proben eine erfundene Anekdote ist, wie Müller vermutete, wird sich beim Abhören der Probenmitschnitte zeigen: „Busch, Sie spielen einen Verbrecher, einen Kriminellen.“ „Aber Brecht, das haben Sie nicht geschrieben!“
Gefunden hat sich dagegen bereits der Schlüssel für einen dichterisch zugespitzten Dialog zwischen Benjamin und Brecht, auf den Müller wiederholt zu sprechen kam: „Da gibts diese seltsame Formulierung von Benjamin, der sagt: Kafka war der erste bolschewistische Schriftsteller. Und Brecht sagt: Dann bin ich der letzte katholische. Das ist nicht nur ironisch. Der Brecht hat bis zuletzt versucht, ein einheitliches Weltbild zu halten und zusammenzuhalten. Auch in seinen literarischen Texten.“ Genial erfunden, dachte ich. Es war nämlich nicht Benjamin, sondern Brecht, der Kafka einen bolschewistischen Schriftsteller genannt hatte, nicht den ersten, sondern „den einzig echten“. Und die schlagfertige Replik sucht man in Benjamins Tagebuch vergebens. Aber es gibt sie, wie ich später fand, nur anderswo, zitiert vom Regisseur und Schriftsteller Ernst Ginsberg in Erinnerungen an Brecht, der da sagt: „Ich bin der letzte römisch-katholische Kopf.“
Müller war scharf aufs Detail, Faktenhuberei nervte ihn. Über „Krieg ohne Schlacht“ sagte er: „Da sind viele Gerüchte drin in dem Ding.“ In seiner Lesart des Gesprächs zwischen Benjamin und Brecht ist hingegen fast nichts erfunden. Müller hat die Szene nur komprimiert und neu arrangiert, und er hat – nach einem beherzten Rollenwechsel – Haltungen kenntlich gemacht, die den Geist der Begegnung treffen.
Die Metapher ist klüger als der Autor, die Erfindung prägnanter als jedes Protokoll, die einzige Wahrheit unsere Phantasie.
Alle Rechte am Text liegen beim Autor.
(1)
Wir spielten „der Alte würfelt nicht“, d.h. wir malten Weltbilder
mit einem Pinsel. Wenn der eine malte, sprach der andere oder
machte Faxen. Bald hatten wir den Bogen raus: mal linkshändig,
mal rechtshändig. Abwechselnd zogen wir unsere Kreise mit
Kreide, Öl oder Aqua. Vom Thüringer Wald aus gesehen kam ich
aus dem Nordosten, Albert aus dem Südwesten. 137 Kreise
zählten wir am Ende. Und wussten: der Alte ist der kleine runde
Uhrmachermeister aus Ulm, ein schwacher Linkshänder.
(2)
die erde ist schwer / die welt krumm / mein weg gerade // waage
stab und uhr / sind die dinge // meine frau ist schwer / und läuft
nicht gerade.
(3)
ein stein fällt / weil einstein fällt / weil er hat ja nichts / in der luft
zu suchen.
(4)
eines schönen abends / kam das licht / und auch noch das / der
erkenntnis / beugte sich / über meine schulter / steckte mir eins
zwei drei / interferenzringe / auf die finger / und krümmte sich
leicht / vor der schwere / dieses gedichts.
--
Ingolf Brökel ist Physiker an der Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin
Alle Rechte am Text liegen beim Autor.
Gerade ist es mir wieder begegnet. Ein Unwort, das den Zeitgeist unseres Gesellschaftssystems im Mark trifft, weil es die Realität verleugnet. Es lautet allen Ernstes: Wirtschaftsweise. Unsere Medien benutzen es ohne Anführungszeichen und ohne Augenzwinkern. Diese sog. Wirtschaftsweisen haben der Bundesregierung in diesen Tagen erklärt, was sie angesichts der syrischen Flüchtlinge tun sollte: die Regulierung am Arbeitsmarkt wieder lockern, damit die Flüchtlinge keinen Anspruch auf den Mindestlohn haben. Nur ein „Weiser“ war anderer Ansicht und verriet sogar, dass die „Weisen“ zuvor die Auswirkungen der Einführung des Mindestlohns falsch eingeschätzt hatten. Sie befürchteten einen Arbeitsplatzabbau. Tatsächlich kam es aber zu einem Arbeitsplatzaufbau.
Gegen alle Realien halten die allermeisten sog. Wirtschaftswissenschaftler an der Behauptung fest, sie könnten etwas Wissenschaftliches über den Gang der Wirtschaft, speziell der Märkte sagen. Tatsächlich versuchen sie nur, mathematische Formeln an Ereignisse anzulegen, die sich systematisch jeder Mathematik entziehen. Selbst als die sog. Selbstheilungskräfte der Märkte weltweit versagten, blieben die sog. Wirtschaftswissenschaftler bei ihren unheilvollen Spekulationen. Der verachtete Staat musste die Deregulierten in der letzten Finanzkrise zwangsweise retten. Das war der letzte Beweis für die Annahme, dass auch die sog. Wirtschaftswissenschaftler einschließlich ihrer sog. Wirtschaftsweisen Spekulanten sind. Der Gerechtigkeit halber sei aber gesagt, dass ein Ökonom wie John Keynes 1921 in seiner "Treatise of Probability" sehr wohl einräumte, wie unwissend und unexakt und für jede Vorhersagung ungeeignet seine angebliche Wissenschaft ist.
Nur die sog. Wirtschaftswissenschaften bringen heute noch „Weise“ hervor. Das ist insofern verrückt, als sie gar keine Wissenschaften sind, sondern nur so tun. Auch die sog. Nobelpreisträger dieses Faches sind keine. Alfred Nobel äußerte sich in einem Brief: "Ich hasse Ökonomen." 1968 erfand jedoch die Schwedische Reichsbank den "Nobel-Gedächtnispreis" für Wirtschaftswissenschaften, der seither dummerweise mit dem Nobelpreis verwechselt wird.
So schwanken die sog. Wirtschaftswissenschaften zwischen Dumm- und Verrücktheit hin und her, weil sie den Fetischcharakter ihres Gegenstandes nicht erkennen. Dafür ein Beispiel: der sog. Nobelpreisträger Myron S. Scholes wurde 1997 für ein Finanzoptionenbewertungsmodell ausgezeichnet. Er gehörte dem Direktorium des Hedgefonds Long-Term Capital Management (LTCM) an, der 1998 Verluste in Höhe von 4,6 Milliarden US-Dollar eingestehen musste, zusammenbrach und eine Finanzmarktkrise verursachte. Aber damit nicht genug: 2005 wurde Scholes wegen Steuerhinterziehung in Höhe von 40 Millionen US-Dollar verurteilt. Natürlich blieb Scholes weiterhin federführend in spekulierenden Hedgefonds und Finanzdirektorien aktiv.
Mein Vorschlag: „Wirtschaftsweise“ sollte zumindest als Unwort des Jahres öffentlich zurückgewiesen werden. Denn dieses Unwort verschleiert, führt in die Irre, ist vollkommen unangemessen und diskriminiert andere Gutachter oder Experten. Mit anderen Worten: Die Regierung wählt ihr genehme Gutachter aus, die sie dem für dumm gehaltenen Volk einer Demokratie als Weise verkauft, wissend, dass es zuallerletzt auf dem Gebiet der Wirtschaft Weise geben könnte, weil es auf diesem Gebiet nicht einmal Wissenschaftler im strengeren Sinne geben kann.
Alle Rechte am Text liegen beim Autor.
Was ich gestern sagen wollte und heute auch beinahe wieder vergessen hätte, mein Freund: Der Name eines Geheimdienstes ist ein Aufkleber, den sich die im Amt arbeitenden Angestellten über ihre Münder kleben, über die Ohren, Augen, je nachdem. So schützen sie sich vor Strafverfolgung. Die Frage ist doch: Möchte man heutzutage noch Killer sein? Die Antwort lautet: Nein, sei denn als Einzeltäter. Das aber ist schwierig zu bewerkstelligen. Deswegen veranstalten ja viele von den Befähigten seltsam anmutende Ballaballa-Kunst und Krawall vor, auf oder hinter den Bühnen. Und ich meine: Kunst. Oder anders gesagt: Wir wollen eine Stadt erforschen, wollen uns ihrer Gegenwart versichern. Du kannst aber nicht ungestört in die Umgebung blicken. Überall behindert dich Werbung. Werbung, die scheiße aussieht und irritiert. Du bist dennoch gefährdet. Weil, egal, was du davon denkst, es ist Werbung, du weißt es, die Macher wissen es, und – es kommt deshalb zur Werbung niemals eine wahre Bindung zustande. Dein Gesicht bleibt ausdruckslos. Du siehst bei jeder Stadt hauptsächlich deren Werbung an. Du schmiegst dich nicht wie das Kind an die Mutter, aber beinahe an eine väterliche Werbefläche, um von ihr aus die Dinge des Lebens zu besehen. Fazit: Es entsteht keine Nähe zu den fremden, bunten Flächen, eher verliebst du dich in eine hellhäutige Vietnamesin als Junge, als Mädchen vielleicht in einen fleckigen Insulaner, in das Fremde. Du wirst auf jeden Fall depressiv, wenn du es ernst meinst mit deiner Zuneigung. Du warst von Beginn an verloren, kannst dich heute noch nicht richtig orientieren. Es fehlt an Schutz, an Sicherheit. Du bist hilflos. Du willst Halt haben, Erdung finden, dich an etwas Lebendiges binden. Es folgt deinem Bemühen keine Interaktion. Du erhältst kein vollständiges Bild von deiner Stadt. Alles ist Trug. Du kannst es laut ausschreien. Da kommt kein Beifall. Stille. Und dieses Missverhältnis prägt dich dein gesamtes Leben. Aber auch da ist viel Energie bereits am Versickern. Macht eh kaum mehr so recht Spaß, Widerstand zu sein. Nur Killer sein, ich bitte euch, Kinder, lohnt das den Aufwand wirklich? Und sagt mal ehrlich: Was ist an einem Verbrechen noch Verbrechen, wenn die an ihm Beteiligten einem Geheimdienst dienen und sich einbilden dürfen, von der Regierung zum Töten beauftragt worden zu sein. Killerinstinkte werden nicht mehr gebraucht. Es sei denn, man wähnt sich einer über jede Staatlichkeit gestellten, ganz und gar Geheimen Organisation angehörig, samt Wort: hörig. Eine Familie, so geheim, dass die Mitglieder untereinander nur ahnen können, wer in ihr mitmischt; und dabei dann mit ihren Vermutungen völlig falsch liegen. Puh! Im Grunde aber ist es dem Killer egal, woher die Auftragslisten kommen, sie sind dem jeweiligen Killer eh nur reine Handlungsanleitungen. Unser Leben, unsere Einkaufszettel, unsere Sportmannschaften, unsere Krisen, Achtungszeichen, Medien, Muster, Medikamente sowie die Völkerwanderungen, um das auch einmal klarzustellen: Alles nur eine Farce. Wie die Liebe dann auch bald so fragwürdig ist wie unsere Gurus. Nehmen wir Sloterdijk, den neuen Rudi Carrell, und Yanis Varoufakis, der so gar Pop-Politiker geschimpft wird, aber nichts weiter tätigt, als abseits, aber um so lustvoller am europäischen Pokertisch zu sitzen und zu setzen. Die Medien bauschen jedermann zum Idol auf und bleiben doch dann ausserhalb, wenn Elvis zum Beispiel (damals wars verschwiegen worden) dann doch wieder von seiner sicheren Klobrille aus auf Eichhörnchen geschossen und sie weggepustet hat, nicht nur einige hundert Mal, nein nein. Die Medien führen mitunter direkt in den Selbstmord. Kinder sind vor ihnen nicht zu schützen. Der Lobbyismus, denken wir, er siegt. Hi hi. Die sogenannten Geldinteressen der Firmen? Ha ha. Bei Geheimen Organisationen spielen sie keine Geige. Yoghurt spielt auch längst nicht mehr zur besseren Verdauung die Rolle Nr. 1 für unsere Abwehrkräfte. Wir können auf alle, ja alle probiotischen Bakterien gut verzichten. Nur, wir leben unter der Glocke der Humbughälfte des Planeten, sind so einfach zu manipulieren. Man könnte uns rundum immerfort dämlich beduzen, wir würden es schließlich akzeptieren, denn wir kommen nicht heraus aus unserem Iglu.
Alle Rechte am Text liegen beim Autor.
Wer sie nackt sieht, muß nicht mehr sterben, wird nicht mehr verstümmelt …
Für Hans-Jürgen Syberberg zum 80. Geburtstag am 8. Dezember 2015
Wir leben gänzlich mit Hypothesen: das Sonnenlicht, das ich jetzt sehe, ist tausende von Jahren alt – zu schweigen von der Gegenwärtigkeit, „Realität“ dieses Sterns. „Wirklichkeit ist die fable convenue der Philister.“ (Hofmannsthal). Überall umgibt uns Vergangenheit, das unsichtbare Grundwasser. Die Spiele sind die Orakel der Vergangenheit. Strindberg denkt wie Artaud in magischen Zusammenhängen, die akausale Zufälle ausschließen, es stellt sich die Frage, ob ein solches – deutlich theosophisch beeinflußtes – Denken sich einfach als Wahn abtun läßt – angesichts der übrigen Luzidität des Schweden (zumal das zeitliche Nebeneinander von Vernunft und Wahn nicht ausgeschlossen, so doch selten ist). Theater sollte nichts kosten, wie der Gottesdienst. Die Zeit erkennt man an dem Theater. Wie gespielt wird, so wird gelebt. Die Bacchantinnen sehen, wie Pentheus sie heimlich beobachtet, und lächeln, ach so, nur ein Blödian …
Die Tragödien sind Bastarde aus Mummenschanz und Eleusis. Alte Kulte werden Puppenspiel. Nur die Heilige Messe ist noch eine echte Tragödie. Das Theater sollte wieder zu einem circus der Götter werden. Theater muß wie alles beides sein: bloße Gaukelei und ein andermal Religion. „… eine Maske genügt, um den homo sapiens in eine Welt zurückzuwerfen, über die er nichts weiß, weil sie die Natur der Zeit und ihrer heftigen unvorhersehbaren Änderungen besitzt. Die Zeit läßt den ewigen Greis in das ständige Chaos ihrer Nacht eintreten. Er inkarniert sich im maskierten verliebten jungen Mann.“ (Georges Bataille)
Schauspieler: Hofmannsthal an George 1903: „Ein gewisses Fieber, ohne welches diese Menschen garnichts leisten.“ Ist alles Geistige an ihnen geborgt? Ähnlichkeiten mit Literaten, die nur in Zeiten eines schauspielerischen Lebensstiles gelten und wirken. Was den Schauspieler so verdirbt, so falsch, so reizbar macht, daß er selber nichts einsetzt, daß er edel sein kann ohne Aufopferung und grausam ohne Gewissensbisse. Sie sind Künstler, dürfen aber nicht so leben, wie es Künstlern gebührt – nämlich unabhängig und frei. Wie alle Künstler müßte auch der Schauspieler wieder verwildern. Armut und Schande machte er zu seinem erwünschten Los. Poète maudit. Aber er ist ständig im aufreibenden Kampf gegen die Übermacht z.B. seiner unbedeutenden Kollegen, welche ihn maßregeln und verleumden. Der Schauspieler ist friedlos. Probenfreude: eine besondere Art von Rausch.
Die Duse war in den schlechtesten Stücken am besten. Wie oft große Pianisten in unbedeutenden Werken gefallen. Sie füllen sie an mit ihrem Leben, mit sich. In einem guten Theaterstück muß viel Leere sein, die Worte nur ein Entwurf. Daß man sie zum Leben erwecke, steigere, überbiete …. Goethes Iphigenie etwa oder Tasso oder gar Schillerss Stücke sind Gedichte, aber darum durchaus unbrauchbares Theater, schwer, langweilig oder quälend, denn sie sind schon fertig. Vollkommenheit; das Leben durch Aufwand verlangen sie nicht. Doch, wie Ernst Bloch bemerkte, wagte Kleist sprechende Anakoluthe, zu denen im Leben uns der Mut fehlt. Bisweilen wird unsre Kunst leicht Gelehrsamkeit und Pleonasmus. Der heutige Schauspieler wird zum Beamten. Die Tätigkeit wird Beflissenheit und Erwerb. Heute „lernt“ man es, Tragöde zu sein. Der Mensch will nicht mehr sein, sondern haben. Damit verspielt er seine Seele. „Die Menschen bewohnen gewöhnlich nur das Untergeschoß ihrer Seelen.“ (Gómez Dávila)
Es werden noch immer die Stücke am besten gespielt, bei denen es feststand, daß sie keinen Erfolg haben werden. Wenn ich mich mit einem Schauspieler unterhalten muß, denke ich immer an Kartenmischen. Der Souffleur, sich auf seine Arme stützend und den Kopf vorstreckend, sieht wie eine Schildkröte aus. Sein Kasten: unsichtbar. Er ist der Vertreter des Dichters.
Notwendigkeit der Rampe. Horizont. Dahinter das andere Reich. Sie behütet Geheimnis und Mythos. Ohne sie wird alles vermengt, ohne Ferne und Traum. Die Bühne als laterna magica. Unserer Seele Spiegel. Urkult: die Hälfte. Verschieden bewertet. Altarflügel: actio/reactio. Alles wirkt paarweise in der Natur. Man sollte drehbares Parkett haben, Schräglage, hebbar. Kuppel öffnen, Sterne sehen, um sich zu erholen. zuhören ist diszipliniertes Träumen. Der Vorhang fällt anders, je nach dem Akt, rasch und entschlossen oder zögernd, nachdenklich und traurig.
Hofmannsthal, 1921: „Auf der höchsten Stufe der Kunst herrscht Nacktheit, Selbstentblößung, ihr Gegengewicht ist höchster Ernst, völlige Erfülltheit. Wo dieser Zustand intermittiert, ein Auge nach außen blitzt, ist Schamlosigkeit.“
Letzteres kennzeichnet den größten Teil zeitgenössischer Künste. Ein couturier, der eine Saison pausiert ist out. Das Kranke am Adaptiertsein, Zeitgemäßen. In den 70er und 80er Jahren gab es fast niemanden ohne Visionen, sie waren etwas Kollektives. Was ist aus der „kreativen“ Aufbruchstimmung geworden? Aus dem Schiff von St. Clotilde, Paris, dringen in der Nacht Dialoge und Musik: das permanente Hintergrundrauschen mitten in einem Sakralbau der Vergangenheit: die neuen Götter sind die Unterhaltungsmaschinen.
Alle Rechte am Text liegen beim Autor.
Baal von Palmyra, im Abenddämmern, im Mondweiß
wirbelst du auf als Staub, bebt deine Wüstenhaut,
bodenlos bist du, ein Tanz von Gestalt zu Gestalt, der
Gott, den niemand mehr glaubt, Wolken, verwehender Leib.
„Läßt sich eine Gottheit sprengen?“ „Die Fässer zu Füßen,
Kabel um Augen und Kopf, Liderzucken, ein Blitz?“
„Niemand hat es gesehen und niemand wird es erinnern,
niemand war Zeuge im Tal, niemand verließ diesen Ort.“
Weithin Stille, Sekunden nach einem Hirnschlag, gedehnt in
Jahr und Tag, nunc stans, still ist’s in Krater und Land,
Vögel sind fort oder schweigen verängstigt, für immer erstarren
Echsen im frischen Geröll, Säulen in künstlichem Schlaf.
„Schließen Sie bitte die Augen! Was halte ich hier in den Händen?“
„Händen? Was meinen Sie? Ich vermisse doch nichts.“
„Können Sie mir erzählen, was gestern war?“ „So wie immer.“
„Wo befinden Sie sich?“ „Ist’s ein bestimmter Raum?“
Schädelinnenraum, ein herrenloses Gedächtnis,
Ich bin nicht länger da im Leib,
zwischen Kapitellen ein Kopf, Gravuren zerfallen,
nicht mehr in meinen Sinnen.
Züge im Staub, die Wangen kehren zur ungeformten
Was da gewesen und verbleibt,
Natur zurück, nicht einmal Termiten wagen sich näher.
ist nirgendwo mehr innen.
Baal entfiel wie ein Stern – mit einem sterben sie alle,
Himmelsheer, Elohim, Tyche, Allat, auch Allah
schleicht sich davon, durch Schlangenschuppen, im Summen der Motten
kreisend ums Feuer, ums Licht nächtlicher Brände im Schrein.
Stille danach – wann immer das sei – ein Verweilen im engen
Wüstengehäuse, wie Glas, über die Augen gewölbt,
Felshaar, Akazien, Namenloses ohne die Menschen.
Was von der Gegend bleibt, ist ein Geländegewinn.
Denkbar ist weniger, kaum mehr Aufmerksamkeit für die Lippen,
wie von selbst fährt es fort, was ohne Anfang verharrt:
Neigung und Stand der Körper, betend verrichtete Laute,
sagen wollen sie nichts. Gnadenlos, straflos ist’s still.
Nur von ferne, leise, leise,
ferner, weint es, eine Weise,
menschenfern, und fast verschwunden,
nur für wenige Sekunden:
„Über dem schwarzen, kraftlosen Wasser schwebte ich einsam?
Wofür gab es mich, als ich mich zeigte? Um Schmerz,
Angst zu erschaffen? Das Wissen vom Tod in die Seelen zu sprechen?
Brachten sich um, für den Gott? Meinetwillen verstört?“
Kaum noch hörbar rauscht es, wie feiner Flugsand, ein Echo:
„Ich will hier bei dir stehen,
wo du warst und warten,
von den rauhen, von den harten
Halden ab, das Nächste sehen:
Geckostarre, Schlitz der Blick,
seine Zunge schnellt zurück.
Offen ist, was Gott erzählt,
welchen Anfang er erwählt.“
Alle Rechte am Text liegen beim Autor.
Wer hat den Gutsbesitzer Fjodor Karamasow getötet? Das ist die vordergründige Frage, die sich durch gut 1200 Seiten von Fjodor Dostojewskijs „Die Brüder Karamasow“ zieht. Der rote Faden in diesem großen letzten Roman Dostojewskijs, der um Intrigen, Sex, Gewalt, um Macht und Glauben kreist. Gründe für den Mord hatten viele. Der Getötete war schließlich ein Scheusal, ein ekelhafter Egomane, ein Monster!
Mögliche Mörder des Fjodor Karamasow, diesem Lüstling, der sich rücksichtslos und ohne jedes Unrechtsbewusstsein nahm, was er wollte, sind seine drei Söhne. Jeder von ihnen hätte ein Motiv. Der jüngste Sohn, Aljoscha Karamasow, ist mit seinem Idealismus und seinem vermittelnden Wesen das pure Gegenteil des aufbrausenden Vaters. Iwan, der zweite Sohn, Atheist und der Intellektuellste, hat den Mord begangen – wenn auch nur in Gedanken. Und Dmitri (Mitja) – dem Vater in seinem zügellosen Temperament am ähnlichsten und zudem Konkurrent um dieselbe Frau, der schließlich dafür büßen soll, obwohl auch er nicht der reale Mörder ist – hat zumindest lautstark damit gedroht, den Vater umzubringen. Der tatsächliche Mörder aber ist Smerdajakow, mutmaßlich vierter Sohn des Fjodor Karamasow, den dieser mit der debilen Lisaweta Smrdjastschaja, „der Stinkenden“, gezeugt, zu dem er aber nie gestanden hat. Smerdajakow bewundert Iwan und begeht den Mord für ihn, weil er glaubt, ihm dadurch zu helfen und er sich dessen Anerkennung erhofft. Als ihm diese verwehrt wird, erhängt sich Smerdjakow und verhindert damit die Aufklärung des Falles. So wird Mitja als Mörder verurteilt und nimmt die Schuld auf sich. Zumindest zunächst. Denn am Ende entscheidet er sich doch für die Flucht. Er will frei und mit seiner geliebten Gruschenka zusammen sein, der einzigen Frau übrigens, der Fjodor Karamasow jemals verfallen war und für die er alles (auf)gegeben hätte. Und wahrscheinlich die einzige, die er nicht haben konnte. Und das soll auch so sein. Denn in der Liebe ist alles erlaubt. Sollte alles erlaubt sein! Oder etwa nicht?
Es ist klar, auch in Dostojewskijs letztem Roman geht es um Schuld und Vergebung. Und um die Frage, wie weit der Mensch auf der Suche nach der Erfüllung seiner persönlichen Wünsche gehen darf. „Wenn Gott nicht existiert, ist alles erlaubt“ heißt es in den „Brüdern Karamasow“. Ist das so? Sollte nicht auch alles erlaubt sein, wenn Gott existiert? Ist nicht in allen Religionen die Rede von einem liebenden Gott? Oder macht dieser Gott Einschränkungen? Und können die Menschen nicht auch ohne seine Existenz Gottes Halt finden und Werte erlernen? Können sie nicht auch ohne Gottes Hilfe die Antworten erkennen, die ihnen den Weg zeigen, ihr Verhalten bestimmen und rechtfertigen? Dostojewskij hätte oder hat es versucht, wie ein Briefzitat nahelegt: „Wenn die Wahrheit tatsächlich außerhalb Christi stünde, so würde ich es vorziehen, bei Christus und nicht bei der Wahrheit zu bleiben.“
Wie auch immer. Ja, in der Liebe sollte alles erlaubt sein. Schließlich ist doch die Liebe das größte, schönste und göttlichste, was es gibt. Das, was jeder sucht und dessen Erfüllung sich jeder wünscht. Da sollte doch alles erlaubt sein. Zumindest, wenn es der Norm entspricht. Wenn es nicht abartig ist. Abartig ist beispielsweise der Gedanke an Lisaweta, der Papa K. aus einem – wir schreiben ihm das jetzt zu – polyparaphilen Interesse heraus etwas Göttliches abgewinnen konnte. Ein Interesse, das wir abartig finden, das er vielleicht selbst noch abartiger fand, das jedoch in seiner enthemmenden Erregung die göttliche Begierde stärker macht als Zucht und Ordnung. Forschungen haben ergeben, dass Orgasmus und Meditation die menschlichen Nervenzellhaufen im Hirn an ähnlichen Stellen aktivieren, z.B. die Durchblutung im rechten präfrontalen Kortex signifikant steigern (Tiihonen et al. 1994; Deepeshwar et al. 2015). Der geheimnisvolle präfrontale Kortex wird als Regisseur und Träger der Kultur betitelt und mit einer Vielzahl ana- und katalytischer Funktionen in Verbindung gebracht. Das zeigt, wie nah beieinander Kunst, Geist, Lust und Verbrechen liegen, wie leicht die Grenzen eines Tabus übertreten oder verwischt werden können, wenn die intra- und interhumanen Katalysatoren unserer Kultur ineinanderfallen.
Doch wer bestimmt, was abartig ist und was nicht? „Gottes Garten ist groß“ – der Sexualwissenschaftler Klaus M. Beier vom Institut für Sexualwissenschaft und Sexualmedizin der Berliner Charité betont immer wieder die Vielfalt menschlicher Sexualität, verdeutlicht deren Wert und fordert ihre Akzeptanz. In der Fantasie solle alles erlaubt sein, auf der Verhaltensebene nicht. Die gesunde Grenze setzt Beier dort, wo andere oder Betroffene selbst zu Schaden kommen. Keiner darf seine Sexualität so ausleben, dass er damit anderen weh tut!
Und da sind wir beim Kind. Dem Symbol für Unschuld. Und beim Pädophilen oder – im Volksmund: Dem Kinderschänder. Dem gruseligen Monster, das diese Unschuld bedroht! Dem Synonym für die Schuld, die eine Gesellschaft auf sich laden kann. Die Ablehnung gegenüber diesen Menschen ist eine der wenigen Haltungen, die nahezu die ganze Welt eint: Der Kinderschänder hat „sein Recht in dieser Gesellschaft verwirkt“ (Till Schweiger), die einzige Lösung, mit diesem ekelhaften Individuum umzugehen lautet „Wegschließen – und zwar für immer!" (Gerhard Schröder). So hart diese Äußerungen klingen – in Anbetracht des unfassbaren Verbrechens des sexuellen Kindesmissbrauchs halten wir solche Wortausbrüche größtenteils für gerechtfertigt. Zu groß ist die Angst vor der Auseinandersetzung mit diesem Thema. Zu groß die Angst, als Sympathisant dieser Unmenschen verstanden zu werden und für mitschuldig erklärt zu werden. Nein, keiner möchte in den Verdacht geraten, mit diesen Kreaturen Mitgefühl zu haben, Empathie für sie zu empfinden. Wir weinen ja auch Fjodor K., dem Vergewaltiger, keine Träne nach. Warum auch.
Was jedoch dabei untergeht und was auch in unseren aufgeklärten Zeiten kaum bekannt ist, ist die Tatsache, dass ein Pädophiler nicht automatisch sexuellen Kindesmissbrauch begeht. Pädophilie bezeichnet die ausschließliche oder überwiegende sexuelle Ansprechbarkeit durch vorpubertäre Kinderkörper und sogar dann, wenn sich das Geschehen ausschließlich in der Fantasie abspielt, so wie Iwan K. den Mord an seinem Vater in Gedanken begangen hat. Laut der „Internationalen Klassifikation der Krankheiten“ (ICD-10) der Weltgesundheitsorganisation (WHO) gilt die Pädophilie als krankheitswerte Störung, wenn die Neigung mit Leidensdruck und/oder Fremdgefährdung verbunden ist. Eine solche sexuelle Neigung/Fantasie sucht sich niemand aus. Sie fällt vom Himmel, ist Schicksal und nicht Wahl. Ist Epilepsie, nicht Mangel an Disziplin. So, wie sich niemand aussucht, ob er oder sie auf Frauen oder Männer anspricht und wer oder was als begehrenswert empfunden wird. Zumindest darin sind sich die Sexualwissenschaftler einig. Genauso wie mit der Tatsache, dass die genauen Ursachen, wie sich die sexuelle Präferenzstruktur und damit auch die Pädophilie in einem Menschen ausbildet, nicht abschließend erforscht sind und es lediglich als sehr wahrscheinlich gilt, dass biologische, psychologische und soziale Faktoren eine Rolle spielen. Wenn man sich dies vergegenwärtigt, macht es Sinn, den Menschen nicht an seinen sexuellen Gelüsten zu messen – hier sollte alles erlaubt sein – sondern ausschließlich an der Verantwortung, die er für sein Verhalten auf sich nimmt.
Doch das funktioniert zumindest noch nicht. In einer aktuellen Studie der TU Dresden (Jahncke et al, 2014) wurden Passanten nach ihrer Haltung zu einem Menschen befragt, der Kinder als begehrenswert empfindet, aber noch nie ein Kind missbraucht hat. Die Antworten waren schockierend: Nicht einmal zehn Prozent bejahten, dass sie einen solchen Menschen in ihrem privaten Umfeld akzeptieren würden. Dabei kennen wir – ohne es zu wissen, weil wir beschämt sind und darüber nicht sprechen – fast alle einen Menschen, dessen Fantasien und Neigungen über das gemeinhin vorstellbare Maß hinausgehen. Fast 40 Prozent der Befragten würden ihn lieber im Gefängnis und immerhin gut zehn Prozent am liebsten tot sehen, obwohl er noch nie ein Kind missbraucht und traumatisiert hat!
Keine Frage, hier hat die Gesellschaft ihr Urteil bereits gefällt: Schuld ohne Tatverhalten! Irrational, aber wahrscheinlich begründet in den tiefliegenden Ängsten der Menschen. „Wenn Sie in Ihrem Haus einen neuen Nachbarn haben und besuchen ihn mit einer Flasche Wein, aber er erwidert: „Ich kann leider nicht mittrinken, ich bin Alkoholiker“, dann ist das heutzutage völlig in Ordnung. Aber wenn Sie Ihren Nachbarn fragen, ob er mal kurz auf Ihren fünfjährigen Sohn aufpassen kann, und er sagt: „Nein, tut mir leid, ich bin pädophil“, dann kann er sofort wieder ausziehen, weil er sozial geächtet wäre. Dabei hätte sich der Mann sehr verantwortungsvoll verhalten.“ Mit dieser Aussage aus einem SPIEGEL-Interview vom 23.2.2014 – ein ehemaliger Bundestagsabgeordneter namens Sebastian Edathy wurde gerade von der gesamten Republik als Kindesmissbraucher verurteilt, noch bevor seine Schuld vor einem Gericht verhandelt worden war – bringt Klaus M. Beier diese Irrationalität auf den Punkt.
Wenn es einen Gott gäbe, müsste er dann nicht zu den Menschen sagen: „In eurer Sexualität ist alles erlaubt – solange ihr euch nicht gegenseitig weh tut!“ Das wäre schön. Doch das sagt Gott erstens nicht – zumindest hat diese Botschaft noch keiner seiner weltlichen Mittelsmenschen kommuniziert – und darüber hinaus scheint die Welt noch nicht bereit für so viel Offenheit. Obwohl sie doch so christlich erscheint.
Übrigens auch umgekehrt: Untersuchungen zufolge sind höchstens 40 Prozent der verurteilten Sexualstraftäter pädophil. Soll heißen: Nicht jeder Sexualstraftäter ist pädophil und nicht jeder Pädophile missbraucht Kinder. Diejenigen, denen es gelingt, Verantwortung für ihr Verhalten zu übernehmen, haben unseren Respekt verdient. Sie sind nicht schuldig. Damit hier keine Missverständnisse entstehen: Der sexuelle Kindesmissbrauch – die Tat – ist eines der schlimmsten Verbrechen, das es gibt und muss unbedingt verhindert, verfolgt und bestraft werden. Wir müssen als Gesellschaft ganz klar aufzeigen, dass es dies zu verhindern gilt! Wo liegt jedoch darüber hinaus unsere gesellschaftliche Verantwortung?
Dafür zurück zur Dresdner Studie. Pädophile wissen zu gut, wofür die Gesellschaft sie hält. Nicht ohne Grund isolieren sie sich, ziehen sich zurück und sprechen nicht darüber, was sie begehren. Bei besagter Studie jedenfalls wurden betroffene Pädophile befragt, welche Antworten sie von den Passanten erwarten würden. Das Ergebnis: Nur knapp fünf Prozent glaubten, man würde sie als Bekannten oder Freund akzeptieren. Über 80 Prozent erwarteten, dass die Gesellschaft sie lieber eingesperrt sieht und über 60 Prozent, dass man sie lieber tot sehe. Das Gefährliche daran ist, dass die Ablehnung im Spiegel der Gesellschaft und die verdoppelte Selbstabwertung im Gefühl der Betroffenen, Abschaum zu sein, dafür sorgt, dass sie sich verstecken. Und sozialer Rückzug und Einsamkeit gelten in der Forschung als ein Risikofaktor für das tatsächliche Begehen eines sexuellen Kindesmissbrauchs. Macht sich die Gesellschaft dadurch zum Mittäter? Sind wir dann alle irgendwie mitschuldig? Alle vom dunklen Karamasowschen Schlag des „Alles ist erlaubt“?
„Wenn die Gesellschaft mir sagt, dass ich ein Monster bin, kann ich ja auch Taten begehen wie ein Monster, denn keine Taten zu begehen wird ja auch von keinem anerkannt.“ Dieses Zitat von Dr. Christoph Ahlers, neben Beier einer der Mitbegründer des bekannten Präventionsprojektes „Kein Täter werden“, aus der Süddeutschen Zeitung vom 1.3.2015, bringt solche Haltungen und deren Gefahren auf den Punkt. Ahlers führt weiter aus: „Wir bestärken uns in unseren weißen Pelzen, wenn wir eine Minderheit der schwarzen Schafe ausmachen, stigmatisieren, diskriminieren und exekutieren können. In dem Moment sind wir uns sicher, dass wir alle weiß sind. Aber in Wahrheit sind alle grau.“ Dabei besteht die Kernfunktion von Sexualität, wie Ahlers meint, darin, „psychosoziale Grundbedürfnisse zu erfüllen: Angenommenheit, Zugehörigkeit, Geborgenheit, Intimität, Vertrauen, Schutz, Nähe. Und die prominenteste Möglichkeit, diese Bedürfnisse zu erfüllen, ist der Körperkontakt, also: sexueller Kontakt.“ Darin liege „das eigentliche Leid der Pädophilen, dass sie ihre psychosozialen Grundbedürfnisse nie über sexuelle Körperkommunikation aus- und erleben können.“ Laut Ahlers „eine „riesengroße Lebensaufgabe. Wer das schafft, verdient unser aller Respekt und Anerkennung. Aber leider ist die Diskussion durchhysterisiert bis zum Anschlag. Sie scheitert an der mangelhaften Differenzierung.“
Dabei könnte es so einfach sein. Klaus M. Beier benennt in besagtem SPIEGEL-Interview das Problem und betont sogleich die mögliche Lösung, wie wir uns als Gesellschaft positionieren sollten: „Die Debatte über Pädophilie ist auch deshalb so schwer zu führen, weil die Menschen dem Glauben anhängen, es brauche nur ein bisschen Willenskraft, um seine sexuelle Ausrichtung zu verändern. Das ist aber nicht der Fall. Natürlich ist es so, dass ein Pädophiler großen Schaden anrichtet, wenn er sein Begehren aktiv auslebt. Aber ich würde jeden Menschen gegen Ausgrenzung und Diffamierung verteidigen, der sagt: Ich bin pädophil, lebe aber so verantwortungsvoll damit, dass ich niemandem Leid zufüge, weil ich mein Verhalten kontrolliere.“
Menschen mit Pädophilie erleben Nadryw – emotionale Spannung schlechthin. Aber wohin damit, wenn die Spannung steigt und es kein Ventil gibt, keinen Platz für die Fantasie in der wertschätzenden Wahrnehmung des Sozialgefüges, kein Vertrauen, keine Zugehörigkeit, keine Geborgenheit, keine Nähe, keine Intimität. Sie wird verdrängt bis zum Bersten. Der Geduldsfaden reißt schneller, wenn man abgelehnt wird. Das Los Pädophilie ist die Zerreißprobe schlechthin. Einsame Spitze auf der Pyramide der Perversionen. Fast noch schlimmer als tatsächliche Vergehen wie Vergewaltigung und Kindesvernachlässigung, wie Fjodor Karamasow sie nachweislich im Roman begangen hat.
Nein, sexuell ist in unserer Gesellschaft nichts erlaubt, was nicht normal ist. Nur das, wofür sich keiner schämen muss, was sich auf Plakatwänden abbilden lässt und der Norm entspricht. Der Pädophile ist und bleibt zunächst einmal die Dartscheibe der Nation, stellvertretend für die unzähligen Leichen in den Kellern der scheinbar „Normalen“. Denn abweichende Sexualität wird, wie alles, was Scham auslöst, in verborgenen Nischen ausgelebt, offiziell strikt abgelehnt und unter den Tisch gekehrt. Diesen Schweinkram in den Köpfen wollen wir nicht akzeptieren – und reißen genau dadurch dem Missbrauch die Scheunentore auf. Hauptsache die Schuldfrage wäre geklärt. Wie bei Dostojewskij und seiner Karamasow-Konstruktion, in der sich die Schuld – stellvertretend für alle Schuldigen im Ursprung – in Fjodor Karamasow personifiziert.
Hannes Gieseler ist wissenschaftlicher Mitarbeiter und Arzt am Institut für Sexualwissenschaft und Sexualmedizin der Berliner Charité, Jens Wagner ist Pressesprecher für das bundesweite Präventionsnetzwerk „Kein Täter werden“ ebendort.
Alle Rechte am Text liegen bei den Autoren.
Nichts Bessers weiß ich mir an Sonn- und Feiertagen
Als ein Gespräch von Krieg und Kriegsgeschrei,
Wenn hinten, weit, in der Türkei,
Die Völker aufeinander schlagen.
(von Goethe)
Aber jetzt sind sie hier, die Völker.
1.000.000 ungebildete junge Männer in deutschen Turnhallen. 1.000.000 syrische Arztfamilien. Und wenn noch nicht hier, dann an einem Lagerfeuer aus brennenden Lumpen im Nieselregen, irgendwo in Slowenien. Oder tot im Mittelmeer.
Die Flüchtlinge halten es nicht mehr aus in unseren Turnhallen. Erst gingen sie woandershin und dann gegeneinander los. Sie haben uns unseren Krieg mitgebracht.
In den deutschen Kleinstädten drehen die Bürger vor Angst durch und zünden die Turnhallen an.
Sagen Sie jetzt bitte etwas Originelles gegen Pegida.
Pegida? Ich weiß nicht mal, was das heißt. Besorgte Bürger gegen den Untergang des Abendlandes? Bebügeduda?
Aber die Sonne geht jetzt früher unter und das Abendland gleich mit. Ist eigentlich gar nicht schade drum. Ist doch eh schon alles kaputt. Klima, Laune, Renten.
Schließen wir uns den Millionen Flüchtlingen an. Vielleicht bringen die uns wieder hoch.
Hauptsache, sie halten sich an unsere Regeln.
1. Mit vollem Mund spricht man nicht.
2. Nicht den Ellenbogen aufstützen und gerade sitzen.
3. Hände aus der Tasche, wenn ich mit dir rede!
4. Bitte nicht ertrinken.
5. Bitte nicht erfrieren.
6. Bitte am Leben bleiben und sich integrieren. Wir wollen saubere gebildete kopftuchlose Männer ohne Kopftuch
heiraten. Ja, wir wollen.
Alle Rechte am Text liegen bei der Autorin.
... dachte ich, als ich zum ersten Mal in die Volksbühne eingeladen wurde. Ich fand Theater öde, wie man so ziemlich alles öde findet, wenn man gerade sechzehn ist und dazu verdonnert wird. Doch jetzt wurde ich nicht verdonnert, sondern eingeladen von jemandem, den ich gut fand, weil er der Freund meines Bruders Thomas war. Und ich mochte die Freunde meines Bruders Thomas, weil sie Teil einer Welt waren, die so ganz anders war als meine eigene. Es war eine sehr erwachsene Welt mit filterlosen Zigaretten und ernsten Gesprächen, die ich ebenso wenig verstand wie das Problem des dänischen Prinzen da vorn auf der Bühne1. Allerdings musste ich manchmal über ihn lachen, weswegen ich ihn dann doch nicht so scheiße fand.
Und dann sah ich auch meinen Bruder Klaus im Theater im 3. Stock. Er spielte Heiner Müllers "Bauern"2. Das Stück interessierte mich nicht, aber Klaus fand ich toll. Er spielte einen FDJler, einen Streber – also genau das Gegenteil von dem, was er selbst war. Ich war stolz auf ihn. Später habe ich erfahren, dass er sich hinter der Bühne geprügelt hat und manchmal besoffen oder gar nicht zur Vorstellung kam. Deshalb hat man ihn wohl rausgeschmissen.
Und dann mein Bruder Peter, der immer so gern an der Volksbühne inszenieren wollte. Ein Jahr lang war er Gastautor dort, aber das ist wohl auch nicht so gut gelaufen. Später hat er einen Roman3 geschrieben, in dem die Volksbühne vorkam, allerdings ist sie dort ein namenloses großes Haus, das eher einer Schwimmhalle ähnelt als einem Theater. Auf dem Dach steht in großer Leuchtschrift OST, daran erkennt man sie. Und am Intendanten, der Franz Kassendörfer heißt. Der sitzt auf der Treppe und sagt: "Es macht keinen Spaß mehr. Wogegen man auch protestiert, was ich auch verarsche, es interessiert keine Sau. Alle lachen nur dreckig und denken, sie sind nicht gemeint."
Meine drei Brüder wären jetzt ungefähr im gleichen Alter wie dieser Intendant (60, 65, 70). Ich hab sie mir nie als alte Männer vorstellen können. Muss ich auch nicht mehr. Schön, dass sie da waren und mich mitgenommen haben. In die Volksbühne und überhaupt.
Alle Rechte am Text liegen bei der Autorin.
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11977, Regie: Benno Besson
21976, Regie: Fritz Marquardt
31999, "Schön hausen" (Eulenspiegel Verlag)
Meese steht in der M4 Richtung Falkenberg, gelassen an der Stange, die Stange haltend wie den Schäferstab, die Stange hält ihn, den Erzkünstler, wie ein Kind, dunkelblaue Hosen, dunkelblaue Jacke, Hirschbeutel mit was drin. Ich ≠ ich steigt zaghaft in eben diese Straßenbahn, Station Am Friedrichshain. Ich ≠ ich hält Meese, den Erzkünstler, für Kruschewsky, den Hartzkünstler, den begnadeten Photographen und allwissenden, mommsomorphen Geschichtskenner. Warum diese Täuschung? Warum diese Erzillusion? Wegen äußerlicher, oberflächlicher Ähnlichkeit, ja scheinbarer Identität dieser beiden Menschen. Und wegen der Ähnlichkeit des Geistes, der aus diesen beiden Körpern fließt.
Georg Kruschewsky ist gewiss auch ein Erzkünstler, wäre auch pekuniär ein Erzkünstler, hätte er seine Großformatplatten nicht so flüchtig entwickelt und mehr Sorgfalt bei seinen Baryt-Abzügen an den Tag gelegt (er weigert sich seit jeher zu wedeln etc.), so meint zumindest ein gemeinsamer Freund, daran denkt ich ≠ ich jetzt. Ich ≠ ich hat den Hartzkünstler Kruschewsky schon seit vielen Jahren nicht gesehen, nur ein paarmal am Telephon gesprochen, als man sich für’s Kino verabreden wollte und ich ≠ ich nicht konnte. Ich ≠ ich hat sich nun bis auf eineinhalb Meter an Georg herangepirscht und wundert sich, dass in dem imposanten Langbart kein silbernes Haar zu finden ist, als sei die Haarpracht gefärbt oder gar mit schwarzer Bart-Wichse behandelt, wie im vergangenen Kaiserreich üblich.
Ich ≠ ich registriert, dass der für Kruschewsky gehaltene Meese sich mit einem sitzenden, rothaarigen Amerikaner unterhält, das merkt ich ≠ ich am Akzent, mit dem der Amerikaner sagt: „Ich bewundere ihr Werk, ich bin nur ihretwegen von New York nach Berlin gezogen, ich habe so viel gelernt über die deutsche Seele, den deutschen Geist und den deutschen Ungeist, ihr Werk hält mich am Leben.“ – „Schön, das freut mich“, sagt der Mann, den ich ≠ ich für Kruschewsky hielt und der sich nun allmählich zum Erzkünstler Meese entpuppt, denn so ein devoter Jünger wäre Georg kaum zuzutrauen, nicht weil er keinen solchen hätte haben können, sondern weil er ihn gewiss abweisen würde. Er wolle, so fährt der Amerikaner fort, nun gar nicht mehr in sein horribles, sein „horrible Heimatland“, er wolle für immer hier bleiben, in Berlin, in der Stadt, in der sein Idol lebe. Der langbärtige Meese-Künstler fragt nun den Amerikaner mit beelzebubhaftem, roten Haarschopf: „Und was machst du so?“ – „Ach Herr Meese“, sagt der Amerikaner kopfschüttelnd, „ich mache gar nichts. Ich kann nichts, ich will nichts, ich bin nichts.“ Ich ≠ ich bemitleidet nun fast den Amerikaner, aber der Erzkünstler Meese sagt mit strahlendem Gesicht: „Das ist ja wunderbar – die beste Voraussetzung für alles! Du kannst alles lernen, alles wollen und alles sein. Ich drücke dir die Daumen!“ Der Amerikaner muss Hufelandstraße aussteigen, bedankt sich für den Segen des Erzkünstlers, den dieser noch mit einem Kopfnicken bekräftigt, ich ≠ ich meint Tränen in den Augenwinkeln des Rotschopfes zu sehen.
Nun wendet der Erzkünstler sich direkt an ich ≠ ich, der jetzt jedes einzelne Haar des imposanten Bartes einzeln betrachten könnte: „Und was machst du so?“ Der Erzkünstler ist offenbar sehr an den Beschäftigungen seiner Verehrer interessiert – als ein solcher hat sich ich ≠ ich durch einen kaiserlich emporgestreckten Daumen zu erkennen gegeben, da der rote Amerikaner Meese seine letzte Huldigung darbrachte und beim Aussteigen ausrief: „Mehr Kunst-Terror bitte, mehr Kunst, mehr Terror!“ Nun kann ich ≠ ich nicht kneifen mit der Benennung einer Beschäftigung, mit der Auskunft über sein Tun, nach einer derart freundlichen Aufforderung. „Es ist mir etwas peinlich“, sagt ich ≠ ich, „ich mache auch nichts, das heißt ich treffe mich gleich mit Zen-Mönchen und werde achtzig Minuten gegen die Wand starren und möglichst nichts denken.“ – „Das ist ja irre“, sagt der Erzkünstler Meese, „so etwas kannst du?“ – „Ich bemühe mich zumindest, manchmal rutschen noch zwei, drei Gedanken durch, an Sex oder Geld oder ähnliches.“ – „Ooch, das kriegst du auch noch hin. Und wenn du mal nicht nichts machst, was machst du dann?“ Der Erzkünstler greift die Straßenbahnstange etwas höher, so als wolle er sie aus der Verankerung herausheben um mit ihr bei voller Fahrt durch die Straßenbahn zu wandeln, verlagert dann aber nur sein Gleichgewicht auf das rechte Standbein. „Sag mal!“, sagt er. – „Ich bin Hartzkünstler“, antwortet ich ≠ ich, „ich versuche meinen zweiten Roman zu schreiben, der erste handelte vom Dreißigjährigen Krieg, blieb aber im Magdeburger Massaker stecken und liegt jetzt in der Schublade. Mein jetziger spielt in der Nazizeit und handelt von einer angeblichen Widerstandsgruppe im SS-Ahnenerbe, kennen Sie jenen Verein?“ – „Oh ja“, antwortet der Erzkünstler, „das Ahnenerbe kenne ich, das war der Verein mit den Professoren für Wünschelrutenkunde und den Spezialisten für die Externsteine, und auch mit den gruseligen Menschenversuchen. Das Thema ist sehr interessant, wollte ich auch schon mal in einem Bild verwenden, also den Schriftzug AHNENERBE, das Wort gefällt mir.“ – „Mir kommt das Wort Ahnenerbe naturgemäß schon aus den Ohren heraus“, sagt ich ≠ ich, „aber diesmal werde ich durchhalten!“ – „Das wirst du ganz gewiss! Wie heißt du eigentlich?“ Erzkünstler Meese blickt ich ≠ ich mit seinen funkelnden, dunklen Augen an, als wolle er diesen Namen persönlich in das Buch des Lebens eintragen mit dem Vermerk ROMAN GEHT KLAR. Ich ≠ ich nennt seinen Namen. „Also alles Gute dann! Schick mir das Buch, wenn es fertig ist, das interessiert mich sehr, das wird bestimmt toll.“ Eine Adresse nennt er nicht.
Meese rückt seinen Hirschbeutel zurecht und macht sich zum Aussteigen Berliner Allee klar. Die Haltestange scheint sich für ich ≠ ich einen Moment lang in eine Schlange zu verwandeln, jetzt da der Erzkünstler sie loslässt, vor seinem inneren Auge erscheint ein lieblicher Waldhain mit einer kristallklaren Quelle. Diese abwegige Vision kann ich ≠ ich ruckizucki aus seinem Bewusstsein wischen, aber ein anderer, ein niedriger Gedanke schießt ich ≠ ich durch den Kopf: Hätte er nicht sein Notizbuch zücken und sich vom Erzkünstler Meese eine Skizze hinwerfen lassen sollen? Irgendetwas mit ERZAHNENERBE? Davon hätte er gewiss ein halbes Jahr oder länger bequem leben können. Und er hätte den Hartzkünstler Kruschewsky jede Woche ins Kino einladen können. Nein, denkt ich ≠ ich, als Erzkünstler Meese zum Abschied Zeigefinger, Mittelfinger und Daumen zeigt, nicht aber den Ring- und den kleinen Finger. Nein, ich ≠ ich und Hartzkünstler Kruschewsky, so wie wir sind, so wie wir immer wären – wir kommen durch jedes Mauseloch, durch jedes Nadelöhr, ohne uns ein einziges langes Barthaar zu krümmen. Und das ist, so meint ich ≠ ich den Erzkünstler Meese zu verstehen, das ist das einzige, was zählt.
2015-09-20; MEZ 12:58:07’’54; B 52.55178| L 13.46572 ENDE
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Wie Der Basar von Aleppo, die assyrische Königsfestung, die Buddha-Statuen von Bamiyan, die Ruinen von Hatra, das Grab des Propheten Jonas, die Bibliothek von Timbuktu, das Museum von Mossul – alles weg. „Unwiederbringlich“, wie es im Jargon der Betroffenen heißt. Doch wer ist betroffen, die Menschen vor Ort? Die haben gerade andere Sorgen, Überleben zum Beispiel. Betroffen von der Kulturschändung fühlen ausgerechnet wir uns, im Abendland, weit weg. Uns schmerzt die Zerstörung der Kulturdenkmäler, der Welterben mehr als die Toten – an die gewöhnt man sich.
Während die UNESCO kaum mit der Antiquarisierung des Abendlandes hinterherkommt – Kölner Dom, Eiffelturm, Kolosseum, Tower of London, Altstadt von Brügge, Dresdner Elbtal (ausgeschieden) – kloppen die Irren im Nahen Osten ihr Weltkulturerbe freudig wieder weg. Dabei hatte man die heimische Sammlung doch extra um ein Kuriositätenkabinett aus den ehemaligen Kolonien ergänzt. Wie immer ist die Enttäuschung groß: Das Geschenk unserer Kultur – die Antiquarienverehrung – wird vor Ort nicht angemessen gewürdigt. Vor lauter Flüchterei nimmt sich dort kaum jemand die Zeit, Schutthaufen zu betrauern.
Jetzt tun wir so entrüstet, dabei ist die Leidenschaft für Altes auch hier noch jung. Mittelalterliche Burgen waren bis ins 20. Jahrhundert beliebte Steinbrüche, die Neuzeitrömer sind beim Abtragen ihres Kolosseums allein an der Masse der Steine gescheitert. Und bis in die 70er hat man überall in Europa bedenkenlos ganze Straßenzüge von hutzeligen Fachwerkhäusern abgerissen. Von Brügge bis Lübeck gilt so was inzwischen als Welterbe.
Alt ist neuerdings geil, aber eher aus Verlegenheit. Denn die Sehnsucht nach dem Glück im Neuen, dem Fortschritt, blieb bis heute enttäuscht. Ausgerechnet mit dem Ende der Utopien setzte die Leidenschaft für die Geschichte ein. Seit morgen nicht mehr das Paradies wartet, suchen wir das Seelenheil in der Vergangenheit. Als könnte man zurück. Als wollte man das.
Vielleicht nicht, aber etwas Magisches hat der alte Kram schon. Obwohl Magie ja abgeschafft ist. Die Aufklärung erklärte die Transzendenz zur Dummheit, nur damit die Intellektuellen sie sogleich in der übernatürlichen Aura des Originals wiederfanden – the real shit. Erhaben schimmern alte Scherben aus den Halogenkegeln der Museumsvitrinen. Das muss echt sein, das kann man nicht nachmachen, sagt Walter B.
Denkmäler – ob erbaut oder ernannt – mahnen uns unserer Kultur. Sie sollen erhalten, was sonst vergessen würde: unsere Geschichte, unsere Bräuche, unsere Redeweisen und Symbole. Denkmäler halten fest, was eh schon eingefahren ist. Das ist wohl nötig. Ohne gemeinsame Kultur wird es schwer, sich zu verständigen und zu vertragen. Verstehen braucht Kultur und das Verständnis, dass es davon nicht nur eine gibt.
Doch bis vor wenigen Jahren herrschte noch ein gesundes Verhältnis dazu, was noch gebraucht wird und was weg kann. In der Kultur wird nur bewahrt, „was die Gesellschaft in jeder Epoche mit ihren jeweiligen Bezugsrahmen rekonstruieren kann“, meint Maurice H. Erinnert wird eigentlich nur, was auch heute noch Sinn macht. Den Unsinn sollte man getrost vergessen. Vielleicht einfach mal die Einhornstellen aus der Bibel reißen. Dann wäre sie auch heute wieder zitierfähig. Aber das geht nicht. Es muss alles bewahrt werden. Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Klassikstiftung Weimar, Stadtschloss usw.: Millionen gießen wir jährlich in die Fundamente unserer Herkunft. Lieber nichts wegschmeißen – wer weiß, wo zu es noch gut ist. Wir sind zu Kulturmessis geworden. Dabei hat Niklas L. doch schon gesagt, dass die wichtigste Aufgabe des Gedächtnisses das Vergessen ist. Ohne Vergessen würden wir an Erinnerungen ersticken. Wir wären handlungsunfähig, erschlagen von Sorgen und Enttäuschungen der Vergangenheit. Neue Gedanken brauchen Platz, um nicht immer wieder in alte Schienen zu springen.
Erinnerung ist kein Selbstzweck. Und in Zeiten allverfügbaren Wissens wird sie zunehmend zum Hindernis. Inzwischen gibt es so viel über die Gegenwart zu wissen, dass die Vergangenheit anfängt, beim Verstehen zu stören. Was wir brauchen, ziehen wir aus dem „Jetzt und Eben“ und nicht dem „Es war einmal“. Obwohl gern gegenteilig behauptet: Unser Erbe sagt uns wenig über heute und morgen. Es ist nur noch eine Possensammlung für Historienromane. Was soll man ernsthaft lernen aus antiken Badestuben und dem Hofgezänk französischer Monarchen?
Seit Jahren hat auch die Literatur- und Kunstgeschichte nichts Relevantes zur Gegenwart mehr zu sagen. Alte Dinge sind schön, auch wenn sie nicht nützlich sind. Aber sie können auch im Weg liegen, erst recht, wenn fünf Kulturwissenschaftler“*“innen drumherum stehen, nur aus Sorge, jemand könnte Beuys’ Fettecke in den Müll schmeißen – dabei ist die doch längst ranzig.
„Ich werd die schlechtesten Sprayer dieser Stadt engagieren. Die sollen nachts noch die Trümmer mit Parolen beschmieren“, verspricht Judith H.
Mads Pankow schreibt für DIE EPILOG.
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Wie wird etwas relevant für alle? Wie entsteht Öffentlichkeit und damit eine Art common ground, auf dem die Grundlagen des Zusammenlebens verhandelt werden können? Diese Fragen sind relevanter denn je. Die Debatte um die NSA-Enthüllungen zeigt dies exemplarisch. In Bezug darauf heißt es, wir leben heute in der Post-Snowden-Welt. Das soll bedeuten: Es ist keine paranoide Legende mehr, dass unsere Demokratien durch einen staatlich-privaten Sicherheitskomplex untergraben werden. Jetzt gibt es durch die Snowden-Leaks Beweise dafür. Soweit die Theorie. Praktisch sind wir derzeit nicht in der Lage, diesen Paradigmenwechsel aktiv zu gestalten. Es fehlt uns der Zugriff – die Black-Box-Politik sowohl staatlicher als auch privatwirtschaftlicher Akteure bleibt wirkungsmächtig. Daher ist die Post-Snowden-Welt keine greifbare Realität für uns. Wie können wir dieses Dilemma überwinden? Wie können wir die Öffnungen, die die Snowden-Leaks in den Strukturen der Black-Box-Politik generieren, in Wissen überführen? Wie können wir ein solches Wissen nutzen, um die Post-Snowden-Welt gemeinsam zu erschaffen?
Diese drängenden Fragen können auf unterschiedlichen Ebenen angegangen werden. Es gilt Handlungsfelder und damit verbundene Ziele abzustecken: von der Auswertung und Archivierung der Snowden-Dokumente bis hin zu der Durchsetzung von demokratischer Kontrolle über Daten. Es ist aber auch genauso notwendig eine öffentliche Verständigung darüber einzuleiten, was die Grundlagen des Zusammenlebens sind. Und wie eben jene Grundlagen aus unserer Mitte heraus verwaltet, genutzt und bewirtschaftet werden können. Diese allgemeine, gesellschaftstheoretische Debatte gilt es nicht nur innerhalb der Wissenschaft oder intellektuellen Elite zu initiieren. Sie sollte offen für jedermann sein. Im Zentrum dieser Öffnung könnte ein radikaldemokratisches Konzept stehen, das sich inzwischen zu einer Bewegung gemausert hat. Es hört auf Wörter wie Allmende, Gemeinschaftseigentum, Gemeingüter. Oder noch griffiger: Commons.
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Was passiert mit unseren Commons, wenn Privatisierung weiterhin so rasch voranschreitet wie in den vergangenen Dekaden? Was für Commons werden wir im Zuge dessen verlieren? Was sind heute überhaupt noch Commons und was könnte aus ihnen werden? Diese Fragen beschäftigen uns seit den 1980ern, als öffentliche Einrichtungen begannen, das Spielfeld Konzernen zu überlassen. Seit einigen Jahren bekommt diese Problematik einen neuen Drall. Nun geht es nicht mehr allein um den Verlust von einstigen Commons, sondern auch um den Verlust von Commons, die wir als solche weder erkannt noch erkämpft haben. Katalysator dieser Veränderung ist das Internet.
Im Netz kommunizieren wir offen und ohne Unterlass, produzieren und teilen Wissen, arbeiten zusammen. Wir produzieren Unmengen von kostbaren Rohstoffen und Werken: ob Big Data, die wir großenteils kollaborativ hervorbringen oder crisis maps, die, von BürgerInnen in den betroffenen Gebieten erstellt, Regierungen bei ihren Rettungseinsätzen einsetzen; ob flüchtige Erzeugnisse, die bei Aktionen von flash mobs aufkommen oder weitgehend unsichtbare Arbeiten, die im dark web entstehen; ob prekäre Produktionen im Milieu der Fankulturen oder in politisch engagierten Gruppen eines sozialen Netzwerks wie Facebook. All das findet meistens auf kostenlosen Plattformen privater Anbieter statt. Doch was passiert, wenn ein privatwirtschaftlicher Infrastruktur-anbieter über Nacht entscheidet, sich aus dem Geschäft zurückzuziehen? Oder alles zu verkaufen? Hat er gegenüber der Öffentlichkeit eine Verantwortung? Der IT-Konzern Google etwa hat gezeigt: Wenn ein Geschäftsmodell bei einem seiner Produkte nicht aufgeht, kann auch die Beschwörung des Weltkulturerbes nichts am Rückzug ändern. Ein Beispiel wäre der beliebte Google Reader, der trotz Gegenwehr seitens der Bürger eingestellt wurde. Und so fragt sich auch bei Google Books, ob das großangelegte Vor-haben, die Weltbibliothek zu digitalisieren, von einem IT Konzern verfolgt werden sollte – von einem Player also, der seine Zuständigkeit für das Weltwissen an Profitabilität bemisst.
Obwohl die neuen Formen des Öffentlichen nicht nachhaltig durch Privatvermögen ge-tragen werden können, gibt es dafür keine öffentlichen Strukturen. So stehen heute so-wohl die digitalen Avantgarden als auch staatliche Einrichtungen vor einer historischen Herausforderung: Was wird aus neu entstehenden Commons im Bereich von Kultur und Wissen? Hier rücken kollektive Formen von Wissen, Technologie und Leben ins Blick-feld, die heute unter prekären Bedingungen gedeihen, die wir aber morgen in unsere Commons transformieren könnten. Die Forderung der Gegenwart besteht daher darin, dass wir für unsere Noch-Nicht-Commons ein Bewusstsein entwickeln – also für jene Commons, die wir als solche noch nicht begreifen, noch nicht verantworten und pflegen.
Das große Potenzial dieser Herangehensweise: Sie kann auf alle Bereiche angewendet werden. Sowohl auf materielle Güter als auch auf Nicht-Mehr-Commons. Also auf Güter, die wir schon lange oder erst kürzlich durch Privatisierungsprozesse als Commons verloren haben. Wasser oder Couchsurfing zum Beispiel. Wenn wir sie als Noch-Nicht-Commons in Stellung bringen, verlagert sich der Blick von dem Gestern auf das Morgen, vom Verlorenen auf das Mögliche. Das hat vor allem zwei Implikationen. Noch-Nicht-Commons als Instrument des politischen Denkens und Handelns – das erweitert den Katalog der Commons, weil nun buchstäblich alles Erdenkliche berücksichtigt werden kann. Das ermöglicht neue soziale, kulturelle und ökonomische Formen, die im Geiste des Gemeinsamen kollaborativ hervorgebracht und gestaltet werden können.
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Die Forderung, die die Gegenwart an uns stellt, ein Bewusstsein dafür zu entwickeln, was unsere Noch-Nicht-Commons sind, bekommt durch die Enthüllungen des NSA-Whistleblowers Edward Snowden ein neues Gewicht. Denn es wird deutlich, dass neben der Privatisierung, eine neue, womöglich noch größere Bedrohung erwachsen ist – für die Gesellschaft im Allgemeinen und für Commons im Speziellen: Black-Box-Politik.
Seit dem NSA-Gate sehen wir eine besorgniserregende Entwicklung um einiges deutlicher: Während Bürger kein Geheimnis mehr haben sollen, sichern Global Player ihre Monopole mit Geheimnissen ab. Das heißt: Während sozialer Inklusionsdruck im techno-ideologischen Massenstandard der informationellen Selbstentäußerung aufgeht, vollzieht sich die Aufwertung des Geheimnisses als zentrales Kapital politischer und ökonomischer Macht. Indes wiederum Transparenz-Forderungen gegenüber Institutionen Konjunktur haben, siedeln Regierungen und Konzerne ihre gemeinsamen Interessen in einer schwer einhegbaren Grauzone an. Snowdens Enthüllungen zeigen, wie unkontrolliert sich in dieser Grauzone das Staats- mit dem Geschäftsgeheimnis vermengt. Infolge dessen entsteht inmitten unserer Gesellschaft eine Black Box, die proto-feudalen Charakter hat: Ein Außen im Innen, wie ein Palast oder eine Schatzkammer.
In der Welt der Black-Box-Politik haben solche Orte immer auch eine komplementäre Kehrseite. Das offenbart beispielsweise die Dokumentarfilm-Trilogie (2006/2010/2014), die Laura Poitras über die Folgen des War On Terror gedreht hat. Sie widmet sich nicht nur Datenzentren, sondern auch Gefängnissen – als zwei Seiten der gleichen Medaille. Hier die soziale Schatzkammer, wo Kommunikationsdaten, wie Öl gehandelt werden. Dort die soziale Endstation, wo Menschen, wie Müll behandelt werden. Damit zeigt sich, dass sich der Kampf um die Noch-Nicht-Commons nicht nur um das Kostbare in unserer Gesellschaft drehen kann. Ob es uns passt oder nicht: Wir müssen auch das vermeintlich Wertlose in unser Commons-Denken integrieren. Also nicht nur Atomkraftwerke, sondern auch Endlager, nicht nur Pharmalabore, sondern auch Chemiemüll-Deponien.
Die Black-Box-Politik ermöglicht und stärkt solche Zonen. Darüber hinaus eine Fülle von Orten, die im Volksmund als "Hinterzimmer" in aller Munde sind. Beispielsweise Treffpunkte der offiziellen Oberklasse, in denen Volksvertreter und Konzernbosse geheime Absprachen treffen und ebenso geheime Verträge abschießen, wie beispielsweise bei den Verhandlungen über eine transatlantische Freihandelszone: Die Verhandlungsführer sind weder bekannt noch demokratisch legitimiert, die genauen Vertragstexte, sei es TTIP, CETA, TPP oder TiSA, sind geheim. Die Kehrseite davon sind die Hinterzimmer der "inoffiziellen Oberklasse", in denen die Vertreter der organisierten Kriminalität mit ihren Partnern gemeinsame Geschäfte beschließen. Und nicht zuletzt Orte, an denen sich beide Welten, die offizielle und die inoffizielle, treffen – im Millieu der Schattenbanken etwa. Weil es von ihnen keine Bilder geben darf, gelangen sie eigentlich nur in der kollektiven Vorstellung zu Konturen. In der populären Imagination, die die Massenmedien stimulieren, werden Limousinen, Yachten oder Privat-Jets, oder auch Golfplätze und Gärten als solche "Hinterzimmer" genutzt. Doch, wie Slavoj Žižek uns erinnert: die Tatsache, dass hier paranoide Verschwörungstheorien beflügelt werden, sollte nicht davon ablenken, dass es diese Orte gibt und dass sie Schauplätze von tatsächlichen Verschwörungen sind.1
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Während die Black-Box-Politik eine enorme Konjunktur erfährt, nehmen die Orte und Nicht-Orte, die diese Politik herbringt, eine immer größere Bedeutung in unserer Gesellschaft ein. Dabei bleiben sie weitgehend unsichtbar und entziehen sich systematisch dem Blick der Öffentlichkeit. Je mehr Raum sie einnehmen, desto größer der Drang, das Geheimnis zu hüten, welches die Macht konstituiert. Desto größer der Drang, jenseits der allgemeinen Sichtbarkeit zu operieren. Das räumliche Wachstum geht mit einer Kanonisierung von dubiosen und kriminellen Praktiken einher, etwa Vetternwirtschaft, Korruption und Lobbyismus. Auf diese Weise entfalten die Kraftwerke der Black-Box-Politik eine große Strahlkraft. Doch ihre Wirkung auf die gesamte Gesellschaft entzieht sich unserem Fassungsvermögen. Schließlich ist sie Teil des Geheimnisses – Christoph Hochhäuslers Film "Die Lügen der Sieger" (2015) reflektiert dies denkwürdig am Fall des millardenschweren Lobbyismus der Pharma-Industrie für ein EU-Gesetz.
Es liegt auf der Hand, dass die Black-Box-Politik einen zentralen Dreh- und Angelpunkt für unsere Gesellschaft entstehen lässt. Und wir ahnen bereits so viel: Alles, was uns ausmacht als Gesellschaft könnte künftig von diesem Punkt aus gedacht, kalkuliert und bestimmt werden. Wie wir leben und wirtschaften. Wie wir uns als Gesellschaft sehen. Denn die Black Box avanciert klammheimlich auch zum identitätsstiftenden Gemeinsamen – also zu dem, das unserer Gesellschaft Sinn gibt, weil es das quasi-göttliche Zentrum unserer Kollektivität ausmacht.
Wollen wir uns als Gesellschaft tatsächlich über eine Black Box in unserer Mitte definieren? Wollen wir, dass das gesellschaftliche Zusammenleben einmal wieder aus einem unzugänglichen Palast heraus geformt wird, darunter auch die Zugänge zu unseren lebenswichtigen Grundlagen und Ressourcen? Sollten wir uns damit begnügen nichts anderes zu sein als eine "Gesellschaft des Nicht-Wissens und Nicht-Kümmerns"2? Oder sollten wir stattdessen das Teilen von Wissen und Verantwortung stark machen, um das große Wir unserer Gesellschaft zu stiften? Sollten wir statt des Geheimnisses das Gemeingut, also Commons, in unsere Mitte stellen? Sollten wir etwa den zu 75% von uns kollaborativ hergestellten Rohstoff, aus dem Big Data besteht, in Commons verwandeln?3
Diese drängenden Fragen stellen sich in einer Zeit, in der wir vergessen zu haben scheinen, was Commons überhaupt sind – müssen sie doch in der Ära des Arcanums wie eine Anomalie erscheinen. Umso wichtiger ist es, dass sich all die unterschiedlichen Forderungen und Widerstände angesichts der allgegenwärtigen Systemkrise auf ein Gemeinsamens besinnen. Die Commons-Idee hat gegenwärtig beste Vorraussetzungen, um diese Lücke zu füllen.
Alle Rechte am Text liegen beim Autor.
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¹Slavoj Žižek: The Parallex View. MIT Press, 2006. S. 375
²Felix Stalder bei der Podiumsdiskussion "Solidarity in the Euro-Crisis" im Rahmen der internationalen Konferenz "Slow Politics" am 15. November 2014 in Berlin. Video-Mitschitt: https://vimeo.com/112157787
3Vgl. dazu Jeanette Hofmann: Die Versuchungen von Big Data. In: Markus Beckedahl und Andre Meister (Hg.): Jahrbuch Netzpolitik 2012. Von A wie ACTA bis Z wie Zensur. Berlin: epubli 2012, S. 76.
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Vom 22. - 24.10.2015 im Roten Ralon und 3.Stock der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz:
UN|COMMONS | Kampf um Gemeineigentum | Internationale Konferenz
Es gibt Orte, die können verschwinden, obwohl sie noch da sind. Man steht dann vor ihnen, stumm, und kann es nicht glauben. Man betrachtet die Konturen, die diese Orte in den Nachthimmel zeichnen. Alles scheint dann noch vorhanden: ihre Mauern, die Fenster und Treppen, die geschwungenen Linien, das Portal. Und trotzdem ist alles anders, man kann es schon sehen. Man weiß, wie es werden wird. Die Seele wird entfernt werden, nicht ausgehaucht, sondern entrissen. Das Erlöschen ist bereits sichtbar, es zerfrisst einem das Herz.
An diesen Orten geschehen Dinge, die sonst nirgendwo möglich wären.
• Eine Frau steht am Rande eines Schlachtbeckens. Der Tod hat das klare Wasser mit Gedärmen beschüttet. Blutsuppe saugt sich in das weiße, bodenlange Gewand der Frau, das giftige Rot wandert aufwärts, es durchdringt die Struktur des Stoffs, zieht rotglühende Adern zu ihrem erkalteten Herz. Sie lächelt.
• Liebeskranke schieben sich durch die Flure des Gebäudes. Im Innenraum: ein Weisskittel mit wirrem, braunen Haar, dem alle lauschen, gebannt. Überall Menschen. Sie sammeln sich auf Treppenstufen, in Fensterkuhlen. Fremde sitzen einander an Tischen gegenüber, lovepangs, sie reden, lachen weinend, öffnen einander ihre Herzen. Dass das so nicht geplant war, wird einer später sagen, fassungslos. Ich wollte das gar nicht erzählen.
• Eine Sängerin steht schwankend am Bühnenrand. Sie singt und singt, niemand geht. Ihr Pianist spielt sich am Flügel die Finger blutig, längst hat er schwitzend sein Jackett auf den Boden geworfen, draußen rasen letzte U-Bahnzüge in ihre Tunnel hinein, die Polizei entfernt lärmend die nun überfällig parkenden Fahrzeuge von den Straßenrändern, niemand geht. Die Sängerin singt aus heiser und heiserer werdender Kehle. Im Saal flammt das Licht auf, heller, immer heller werdend, das Personal rüttelt mahnend an den schon sperrangelweit geöffneten Türen, kühle Nachtluft stürmt von draußen herein, zerrt an den schweißnassen Haaren der dicht gedrängt Sitzenden, niemand geht. Niemand, gar niemand.
Dass diese Orte so stabil wirken müssen. Schon ihre Struktur gaukelt das vor. Ihre Säulen rammen sich in die Erde. Ihre Steinwände suggerieren Wucht. Nichts, so scheint es, kann so einen Koloss verzehren. Das ist fatal. Jemand könnte dem Irrglauben aufsitzen, sie einfach bemannen zu können. Jemand könnte glauben, ihnen gefahrlos ihr Innerstes entreißen zu dürfen. Jemand könnte meinen, sie aushöhlen, umtaufen, entkernen zu dürfen, ohne dass sie beschädigt würden. Ohne, dass alles ins Wanken geriete. Das ist Wahnwitz.
• Ein tiefschwarzer Rabe fliegt über die Köpfe hinweg, seine Flügelspitzen streifen die aufwärts gerichteten Gesichter.
• Die Menschen schreien, nach vorne gerichtet. Sie brüllen an gegen die Endlichkeit, sie fordern und jubeln und höhnen. Münder schäumen, Applaus erklingt, jemand lacht.
• Am Horizont ein Boot mit einem gleichmäßig rudernden, bärtigen Herrn. Ruhig taucht er sein Paddel durch die Luft, er lässt sich von den Rufen nicht beirren: Herr Ibsen, Herr Ibsen, holen Sie uns hier raus!
• Der Takt von sich nähernden Schritten. Das Schlagen der Sohlen auf steinern anmutendem Boden. Ein ganzer Saal hält dem Atem an. Eine Frau erscheint, sie durchmisst schweigend den Raum. Die Zeit dehnt sich. Dann ein Ruck, ein Aufmerken, als sie hält. Sie will etwas sagen, doch sie bleibt stumm. Sie geht nicht, sie schwindet. Noch als ihre Schritte längst verhallt sind, füllt ihr Wesen den Saal. Und keiner, keiner atmet mehr.
Diese Orte sind zu selten.
Diese Orte müssen nicht befortschrittet werden, sie leben von innen heraus.
Es wäre eine Aufgabe gewesen, eine Pflicht, sie – und das, was sie ausmacht – zu bewahren.
Manchmal wehren sich die Orte. Sie bestimmen das, was in ihnen geschieht. Sie formen die Sprache, die in ihnen gesprochen wird. Sie gestalten den, der sich ihrer bemächtigen will. Manchmal wird ein Irrtum begriffen. Der innere Abriss findet nicht statt, die Entkernung wird vertagt.
Alle Rechte am Text liegen bei der Autorin.
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Mensch sein heißt, eine Geschichte zu erzählen haben«, erklärt Philosoph Isak Dinesen; im Roman Der Ekel lässt Jean-Paul Sartre seinen Hauptprotagonisten sinnieren, dass »ein Mensch immer ein Geschichtenerzähler« sei, »alles, was ihm zustößt, sieht er in Form von Geschichten«; die englische Schriftstellerin A.S. Byatt meint, »Erzählen gehört genauso zur Natur des Menschen wie das Atmen und der Blutkreislauf«; der Moralphilosoph Alsdair McIntyre postuliert, dass »der Mensch im Wesentlichen ein Geschichten erzählendes Tier« sei; dem pflichtet der italienische Semiotiker und Bestseller-Autor Umberto Eco nahezu wörtlich bei, wenn er sagt, dass der »Mensch von Natur aus ein Geschichten erzählendes Tier ist«; David M. Boje, Management-Professor, erklärt, dass der Mensch »selbst in Organisationen und Unternehmen« ein »natural born storyteller« sei; »wir leben in Geschichten wie Fische im Wasser«, so Daniel Taylor, »wir atmen sie ein und aus«; aus moralphilosophischer Perspektive fordert Charles Taylor, dass wir »unser Leben als Geschichte betrachten sollen«; Tham Kai Meng erklärt in The Ape, the Adman, and the Astronaut: Rediscovering the power of storytelling als Marketingexperte, dass es »nicht länger erwünscht ist, Geschichten zu verwenden – es ist eine Pflicht«; Annette Simmons erhebt auf den letzten Seiten ihres Ratgebers Mit guten Geschichten Menschen gewinnen. Der Story-Faktor mahnend den Zeigefinger: »Sie sind Erzähler, und Ihr Leben ist die bedeutendste Geschichte, die Sie je erzählen werden«; Hans Rudolf Jost von der Change Factory Zürich ist der Meinung, dass »jeder Manager ein guter Geschichtenerzähler sein sollte«; die amerikanische Drehbuchautorin und Regisseurin Nora Ephron spricht begeistert von einem »Aha-Erlebnis«, als sie entdeckte, »dass fast alles eine Geschichte sei«; der freiberufliche Storyteller Kendall Haven widerspricht dem: »Nicht alles ist eine Geschichte«, aber »nahezu alles könne in eine Geschichte verwandelt werden«; der Entwicklungspsychologe Roger Schank schreibt: »Geschichten bilden den Rahmen und die Struktur mit denen Menschen ihre Erfahrungen ordnen, verstehen, aufeinander bezie-hen und im Gedächtnis speichern«; Mary Catherine Bateson, Kulturanthropologin, hält fest, dass »Storytelling fundamental für die menschliche Suche nach Sinn ist«; Arthur Applebee kommt zu der Einsicht, dass Narrative »ein Produkt der internen Verarbeitungsprozesse des Gehirns« seien; »unser Gehirn ist evolutionär darauf ausgerichtet«, so die Psychologin Alison Gopnik »sinnliche Eindrücke in ›story representations‹ zu verwandeln, die sich punktgenau realen Dingen und Erfahrungen in der Welt annähern«; Neurologe Oliver Sacks ist der Meinung, dass »jeder von uns ein ›Narrativ‹ konstruiert und lebt«, »dieses Narrativ sind wir«; »wir sind alle virtuose Romanschreiber«, bläst Philosoph Daniel Dennett in dasselbe Horn: »Wir alle versuchen unser Material stimmig in eine gute Geschichte zu fügen«; der Philosoph Jürgen Habermas relativiert, dass Menschen »eine persönliche Identität nur ausbilden, wenn sie erkennen, dass die Sequenz ihrer eigenen Handlungen eine narrativ darstellbare Geschichte bildet, und ein soziale Identität nur dann, wenn sie erkennen, dass sie […] in die narrativ darstellbare Geschichte von Kollektiven verstrickt sind«; Jerome Bruner, Psychologe sowie Mitgründer und Direktor des Center for Cognitive Research in Harvard erinnert daran, dass »Narrative«, bei allen offensichtlichen Freuden die sie bereiten, letztlich »serious business, ein ernsthaftes Geschäft« seien; Bob McDonald, CEO bei Procter & Gamble, gemahnt ebenfalls daran, dass »Menschen Geschichten über dich erzählen werden, ob du willst oder nicht. Es liegt an dir, was für Geschichten über dich erzählt werden«; David Armstrong, Autor von Managing by Storying Around, erkundigt sich en passant, wie man überhaupt eine Geschichte erzähle? Die Frage ist rhetorisch: »mit Leidenschaft«; in Introducing Narrative Psychology merkt Michele Crossley an, dass es »in den meisten Fällen normal sei, dass wir Dinge als Geschichten erleben, denn in den meisten Fällen seien die Dinge nun Mal in erzählerischen Sequenzen miteinander verbunden und stiften auf diese Weise Sinn«; Gerald Zaltman, Autor von How Customers Think: Essential Insights into the Mind of the Market vermutet: »The similarity of store and story is not a coincidence«; in Retelling a Life argumentiert der amerikanische Psychologe Roy Schafer, »dass es keine Rolle spielt, welche Geschichte erzählt wird, so lange sie funktioniert«; Bob Johansen, Fellow und ehemaliger Präsident des Institute for the Future, erklärt, dass »Probleme in Formeln oder Algorithmen zusammengenfasst werden können«, »um ein Dilemma zu verstehen bedarf es hingegen einer Erzählung«, laut Johansen steckt »die Zukunft voller Dilemmata«; ähnlich legt der Physiker Frank Close in Lucifer’s Legacy: The Meaning of Asymmetry dar, dass unser Verstand Unstimmigkeiten und Irregularitäten in »story terms« aufklären müsse; das International Storytelling Center (ISC) in Jonesborough, Tennessee, verkündet schließlich, dass »jetzt, nach Jahren wissenschaftlicher Forschung in siebzehn unterschiedlichen Disziplinen, Wissenschaftler zu dem Schluss gekommen sind, dass Storytelling unser stärkstes Mittel für eine effektive Kommunikation ist«; Jim Harrison erinnert daran, dass »die Antwort immer in der ganzen Geschichte liegt, nicht in einem Teil von ihr«; »es wird immer jemand da sein, der auffordert: ›Erzähl mir eine Geschichte‹ und ein zweiter, der darauf antwortet«, glaubt der Philosoph Richard Kearney, »wäre dies nicht der Fall, wären wir nicht länger ›fully human‹.«
Alle Rechte am Text liegen beim Autor.
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