Der Fehler des kritischen und anklagenden Theaters, das alles richtig machen will, liegt in einer fatalen Selbsttäuschung: den Zuschauern wird von der Bühne herab etwas mitgeteilt, was sie schon wissen. Das Theater dient ausschließlich zur Bestätigung des augenblicklichen Konsens im aufgeklärten Publikum. „Es erfreut die Gläubigen, indem es scheinheilig den Ungläubigen predigt, die überhaupt nicht da sind.“ (Eleonore Lester) Gerade in einer Zeit neuer gesellschaftlicher Spaltungen und politischer Konflikte ist diese Art leerlaufender Propaganda, so edel ihre Motive auch sein mögen, eine Schwächung der Kraft der Kunst. Schon vor 50 Jahren, als das Theater ein Teil der weltweiten Revolte werden wollte, wurde das erkannt. Der Amerikaner Abbie Hoffman stellte in seinem Buch „Revolution for the Hell of It“ (New York 1968) ein neues Theater vor: das Theater der Apokalypse. Ein Theater, das die Menschen zur Stellungnahme zwingen sollte, das sie mit Situationen konfrontierte, die das Publikum und die Spieler selbst unsicher und ratlos machten, so wie es auch schon der Aufklärer Diderot gefordert hat. Hoffmans wichtigste Theaterregel: Den Leuten nicht etwas sagen, was sie schon wissen, scheint heute vergessen, die Überraschung und das Unwahrscheinliche sind im Theater nicht mehr gefragt. Das tötet die Neugier und lässt uns gelassen auf das Ende des Theaters und auf das Ende der Welt schauen.
Gelassen auf das Ende des Theaters und das Ende der Welt schauen. Das tun in den letzten Inszenierungen dieser Spielzeit auch Frank Castorf und Herbert Fritsch. Frank Castorf bezieht sich in „Die Kabale der Scheinheiligen“ mit Molière, Bulgakow und Rainer Werner Fassbinder auf das Ende des Theaters: gestern, heute und morgen. Aus gegebenem Anlass. Und Herbert Fritsch widmet sich gleich dem Weltuntergang und bringt die „Apokalypse des Johannes“ auf die Bühne.
Der Weltuntergang ist zeitlos und schon seit 3000 Jahren normal. Vielleicht ist das das Überraschende. Es hat ihn immer und zu allen Zeiten unserer Geschichte gegeben – als Vorstellung. Und er stand immer kurz bevor. Der Weltuntergang scheint zur Grundausstattung unserer Spezies zu gehören. Es gibt keine Epoche der Menschheit, in der er nicht befürchtet wurde. Er ist aber allen Prophezeiungen zum Trotz noch nie eingetreten. Ob das hoffen lässt?
Die letzte kanonisierte Prophezeiung des Weltuntergangs findet sich am Ende des Neuen Testaments. Das letzte Kapitel der neuen auf Liebe gegründeten Religion ist das Gegenteil der Liebe und alles andere als gelassen. „Die zweite Hälfte der Apokalypse ist flammender Hass und Gier – Gier ist das einzig passende Wort – nach dem Ende der Welt“ schrieb D. H. Lawrence 1923 in seinem letzten posthum veröffentlichten Werk, in dem er sich von der Offenbarung des Johannes so fasziniert wie abgestoßen zeigt. Für ihn ist die Apokalypse die unvermeidliche Kehrseite der christlichen Liebesreligion: „Man liebt seinen Nächsten. Sofort läuft man Gefahr, von ihm „verschlungen“ zu werden, man muß sich zurückziehen. Seine Eigenheit retten. Die Liebe wird Widerstand. Am Ende ist es weiter nichts als Widerstand und keine Liebe; und das ist die Geschichte der Demokratie.“ Mit dieser Volte landete Lawrence mitten in der Gegenwart der freiheitlichen Grundordnung der Marktwirtschaft, deren anerkannte Triebfedern Individualegoismus, Konkurrenzkampf und Neid sind. Für ihn entsteht der Geist der Apokalypse aus dem Ressentiment der Zukurzgekommenen, die sich das Paradies nur mit einem Fenster vorstellen können, durch das man die mit Gottes Hilfe besiegten Feinde im Schwefelpfuhl der Hölle ewig leiden sehen kann.
Das ist die eine Seite der Apokalypse, die sich bei politischen und religiösen Fundamentalisten, aber auch bei künstlerischen Avantgarden großer Beliebtheit erfreute und noch erfreut. Das Armageddon, der Endkampf zwischen Gut und Böse, ist bei diversen amerikanischen Präsidenten genauso präsent, wie im Opferkult von Selbstmordattentätern und ihren Hinterleuten. Und auch Künstler sehen bisweilen im totalen Weltuntergang die einzige Perspektive für einen radikalen Neuanfang oder ein seliges Nirwana. Sie befürchten ihn nicht, sie sehnen ihn herbei, wie zum Beispiel der „Fliegende Holländer“ in Wagners Oper: „Wann kommt der Vernichtungstag, mit dem die Welt zusammenkracht?“ Boris Groys hat diese Sehnsucht, das Ende der Welt zu erleben (am besten am Fernseher?), mit der menschlichen Neugier begründet, die uns am Leben hängen lässt, weil wir wissen wollen, wie es weitergeht. Wir können die Vorstellung schwer ertragen, etwas zu verpassen. Deshalb hat der Weltuntergang etwas Beruhigendes, wir haben dann mit unserm eigenen Ende auch wirklich alles erlebt. Die Alternative für ein gelassenes Sterben wäre, sich die Neugier abzugewöhnen, sich einfach für nichts mehr zu interessieren. Der Philosoph Boris Groys und auch René Pollesch glauben, dass dieses allgemeine Desinteresse überall auf dem Vormarsch ist. Was interessiert noch wirklich, außer der Europameisterschaft? Früher wusste der Kartenabreißer im Kino noch, welcher Film lief und der Buchhändler kannte die Bücher, die er verkaufte. Das gibt es heute kaum noch. Alles wird egal, gleichgültig. Und so erleichtert man sich den Abschied von einem langweilig barbarischen Universum und nicht mal die Apokalypse kann einen noch reizen. Und siehe da, unser eigener Tod ist kein Problem mehr, man kann ihn einfach vergessen. Denn „wenn der Tod da ist, bin ich nicht mehr da“, lautet die zugehörige Volksweisheit.
Das heißt aber auch: Die Apokalypse bleibt keinem erspart, sie ist der eigene persönliche Weltuntergang, den jeder Lebende absehbar noch vor sich hat. Heiner Müller hat diese Art Weltuntergang in einem späten „Bonmot“ so charakterisiert: „Wenn alle sterben und ich als einziger am Leben bleibe, handelt es sich um einen Kollateralschaden, wenn ich sterbe und alle anderen leben weiter, ist es ein Totalschaden.“
Dass Frank Castorf sich am Ende dieser vorletzten Volksbühnen-Spielzeit, die sich freiwillig und unfreiwillig mit Kollateral- und Totalschäden, mit kleinen und großen Abschieden beschäftigt hat, dem Zerriebenwerden einer Theatertruppe zwischen Kunst und Macht widmet und Herbert Fritsch (www.apokalypse.com) gleich bei der Eschatologie landet, ist konsequent. Danach gibt es eigentlich nichts mehr zu sagen. Die nächste, die 25. und allerletzte Spielzeit der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz vor dem „radikalen Neuanfang“ (Tim Renner) sollte man sich also vielleicht am besten als Nullnummer oder als Zugabe vorstellen oder als langsames Verschwinden oder als ultimative Störung ...
Carl Hegemann